Klingelton mit Folgen

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KLINGELTON MIT FOLGEN

Verzeihen Sie meine Neugierde, Herr Kommissar – der Kollege dort drüben in der Ecke: Ist der als Zeuge hier oder soll er lediglich ein zusätzliches Auge auf mich haben? Beides? Verstehe: Vorschrift ist Vorschrift. Nein, schon klar: Ich habe natürlich verstanden, dass ich vorläufig festgenommen bin. Deswegen bin ich…sind die Leute ja hier bei Ihnen: befragen und festnehmen, gestehen und büßen, Yin und Yang, haha! Nichts für ungut, Herr Kommissar, Spaß muss sein! Wo wären wir ohne ein Bisschen Spaß, meinen Sie nicht auch? Na, sehen Sie.

Wie bitte? Herzlichen Dank; sehr freundlich. Nur mit Milch, bitte. Aus dem Automat, sagen Sie? Ach, das macht doch nichts. Glauben Sie mir, der Kaffee aus Ihrem Automat kann nur besser sein als der, den ich mir zuhause zusammenbraue. Ich hab da einfach kein Händchen für. Ständig geb ich zu wenig oder zu viel Pulver in den Filter, oder die Wassermenge stimmt nicht, und die Marke wechsle ich bei jedem Einkauf, weil ich mir sage, es liegt zum größten Teil am Kaffee selbst. Das kann ja durchaus sein, oder nicht? Ich meine, dass es eben hauptsächlich am Eigengeschmack der Marke liegt, und nicht daran, ob der Kaffee zu schwach oder zu stark geraten ist. Mir zum Beispiel schmeckt kein Jacobs, egal ob mild oder kräftig. Bei anderen Sorten, sagen wir Dallmayer oder Tschibo, vertrage ich nur die extra milden Mischungen. Der Magen, wissen Sie. Obwohl – ich habe einmal gehört, dass diese Unterschiede, naturmild, kräftig, klassisch, Krönung usw. überwiegend ein Etikettenschwindel sind. Die schreiben das bloß auf die Packung, und in Wahrheit ist es immer dasselbe Pulver. Es soll ja unter den unzähligen Kaffeesorten bestenfalls drei oder vier echte Varianten geben, die einem Labortest standhalten. Vielleicht wissen Sie, ob dies…? Nein? Ich verstehe schon, nicht Ihr Ressort. Entschuldigen Sie meine doch reichlich alberne Frage; ich hab einfach nicht nachgedacht…

Aber Herr Kommissar, ich bin doch freiwillig hier! Schauen Sie mich an: Zu flüchten würde ich mich doch gar nicht getrauen! Natürlich warte ich hier, haha! Oh – ob Sie jemanden benachrichtigen sollen? Mal sehen…nein, ich denke nicht. Hab nur noch eine Schwester, mit der ich mich nicht allzu gut stehe. Die interessiert sich nicht dafür, was ich so treibe. Lebt ohnehin im Ausland, irgendwo in den Vogesen. Seit meiner Scheidung lebe ich allein, wissen Sie – nicht mal ein Haustier, haha! –, und meine ehemalige Verwandtschaft dürfte sich keinen Kopf über mich machen; ganz bestimmt nicht, nachdem sie erfahren haben, was geschehen ist. Eigentlich schade; waren paar recht nette Leute darunter. Aber so läuft es nun mal, wenn nichts mehr läuft, nicht wahr? Gut, dann bis gleich!

Oh, Hallo! Wer sind…Wie? Nein, ich bin hier zum, äh, Verhör. Soll heißen, ich will eine Aussage machen. Der Kollege dort hinten an der Wand passt auf mich auf. Der Kommissar, also der Herr – jetzt hab ich doch glatt den Namen vergessen. Ja, so ein kleiner, rundlicher…ja, genau! Nun, er wollte Kaffee holen, gerade eben, er müsste gleich wieder zurück sein. Wie bitte? Ja, das wäre schön. Ist doch ziemlich stickige Luft hier herinnen. Vielleicht könnte man das Fenster…? Danke sehr, vielen Dank. Ja, gerne! Bitte mit wenig Kohlensäure…der Magen, Sie verstehen. Nochmals danke. Ich…ah, Herr Kommissar! Auch Ihnen ein Dankeschön für den Kaffee. Milchkaffee war aus? Nein, nein, ist doch nicht schlimm; das macht gar nichts. Ich hab auch nicht immer Milch im Haus, weil…ach so, ja, verstehe: das ist ein Programm des Automaten. Tja, da kann man eben nur wählen, was geboten wird, und wenn etwas aus ist, dann ist es eben aus und man muss auf den Service-Mann warten. In diesem Falle, Herr Kommissar, würde ich vorschlagen, dass…Wie bitte? Jawohl, ich denke, ich habe alles verstanden, was sie mir vorgelesen haben. Keine formelle Zeugenbefragung, denn schließlich mache ich eine Aussage – ein richtiges Geständnis, würde ich doch meinen; so viel Zeit muss sein, haha! –; freiwillig, ohne Zwang, und alles kann gegen mich usw…Das kenne ich aus dem Tatort! Wie, den schauen Sie nie? Na ja, der ist hin und wieder schon sehr unrealistisch, zugegeben. Und trotzdem – ein Bisschen was hab ich auch von gelernt: DNA-Tests, Luminol, Handyortung, solche Dinge. Und selbstverständlich: Crime doesn’t pay, haha! Außer manchmal, natürlich nur in Ausnahmefällen, Herr Kommissar…Da gab’s mal eine Folge – ist schon länger her; den Titel weiß ich nicht mehr –, wo jemand einer Person – ich glaube, die war behindert – das Smartphone mit einem Klettverschluss an der Hand festgemacht hat, damit diese nicht von aller Welt abgeschnitten ist und zum Beispiel den Notruf…aber dazu komme ich später, denn das wird noch eine Rolle spielen, Herr Kommissar. Klingt unwahrscheinlich, dieser Klettverschluss-Plot, denken Sie jetzt bestimmt. Aber Sie werden schon sehen, dass dies gar nicht so aus der Welt ist. Ich habe nämlich die Beobachtung gemacht – machen müssen! –, dass viele Leute ihr Smartphone irgendwie an den Händen festgemacht zu haben scheinen, mit ihm sozusagen verwachsen sind…

Herr Kommissar, wenn ich vorher
doch noch etwas fragen dürfte…vielen Dank. Ich, äh, wollte fragen – verzeihen Sie, das hat so gar nichts mit Ihren Hinweisen und meiner Aussage zu tun –, ob ich vielleicht hin und wieder eine, äh, Zigarettenpause machen darf? Nein, nein, nicht sofort, allerhöchstens jeden Stunde. Ja? Herzlichen Dank, und verzeihen Sie mir, dass ich Sie unterbrochen habe, Herr Kommissar…Oh, Sie sind Hauptkommissar? Ach, lassen Sie mir doch die Freude: Kommissar ohne Zusatz klingt irgendwie entspannter, umgänglicher, so Old-school-Tatort-mäßig! Ach, das ist nett…ich danke Ihnen auch dafür von Herzen, Signore Commissario! Haha! Spaß muss sein, meinen Sie nicht auch? Ach, was rede ich bloß daher: Sie haben Ihren Humor ja schon unter Beweis gestellt, vorhin, als ich…Ja? Ach so, ja…äh, ich meine: Nein, ich brauche keinen Anwalt, ich, äh, ich wollte sagen: Ich will hier und jetzt keinen Anwalt dabeihaben. Wissen Sie, ich kann Anwälte nicht leiden; die haben immer so ein Getue, und ich fürchte, man kann ihnen nicht wirklich trauen. Außerdem versteht man als Laie kaum ein Wort von ihren Vorträgen. Geht es Ihnen nicht manchmal ebenso? Ach so. Nein, natürlich nicht: Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie ein Laie sind! Das wäre ja…na, jedenfalls sind Sie ja sozusagen vom Fach und an deren Kauderwelsch gewöhnt. Ich kann mir eben gut vorstellen, dass Sie Anwälte auch nicht gerade ins Herz geschlossen…Wie? Nein, schon klar. Verzeihung, ich wollte keinesfalls…Ja? Oh, da fällt mir ein Stein vom Herzen, weil…Wissen Sie, mir liegt viel daran, dass unsere gemeinsame Zeit freundlich und so stressfrei wie möglich verläuft. Ich meine, ich bin ja schließlich freiwillig hier, wenn auch ein wenig spät, fürchte ich. Nein? Da fällt mir noch ein Stein vom Herzen! Man geht ja abends um zehn Uhr nicht mehr zu Leuten, es erscheint mir irgendwie unhöflich, auch wenn die Polizei natürlich keine Bürostunden in dem Sinne …Nein, entschieden hab ich mich schon vor ein, zwei Tagen, aber ich musste noch ein paar Dinge erledigen – Sie hätten mich deswegen sicherlich nicht mehr laufen lassen, haha!

Sagen Sie (ich hoffe, ich bin nicht zu indiskret oder überschreite meine Grenzen): Ich vermisse…ich meine, Sie haben ja gar kein Aufnahmegerät auf dem Tisch! Wissen Sie, so eines, wie man es immer im Fernsehen sieht. Ach, sie arbeiten mit Bluetooth? Ja, und was ist mit den Mikrofonen? Wo, in der Tischplatte? Wirklich? Ah ja, jetzt seh ich sie – wirklich raffiniert! Und praktisch, möchte ich meinen. Respekt! Jawohl – wie Sie sich erinnern werden, hab ich ja eingangs schon Tonaufnahmen zugestimmt, von mir aus auch Video. Filmen Sie mich auch? Ah ja, da oben in der Ecke. Nein, kein Problem. Wird schon alles seine Ordnung haben. Wo gäbe es denn mehr Ordnung als bei unserer Polizei, haha! Deswegen brauch ich ja auch keinen Anwalt. Ich meine: Was könnte der schon für mich tun? Würde mir mit ziemlicher Sicherheit raten, den Mund zu halten, haha! Aber ich will ja reden! Übrigens: Ein Kompliment dafür, wie Sie mir – ich meine die Polizei, aber eben besonders Sie – mit viel Erfahrung, Geduld und Akribie (und bestimmt jeder Menge Überstunden!) irgendwie doch noch auf die Spur gekommen sind. Nein, nein – Ehre wem Ehre gebührt! Woher ich das weiß, dass Sie mir sozusagen auf den Hals gekommen waren? Ach, wissen Sie, Herr Kommissar: Geheimnisse gibt’s heutzutage kaum noch; man muss nur wissen, wo und wie man hinschaut. Ich sage nur: Zeitungen, Fernsehen, das Netz, Social Media; suchen Sie sich etwas aus. Na, mir war jedenfalls klar geworden, dass Sie nicht mehr weit davon entfernt sein können, mich zu fassen. Lassen wir es dabei. Ich hatte da zwar schon längst aufgehört mit den…meinen Unternehmungen, und ich bin mir bei Licht betrachtet gar nicht so sicher, dass Sie mich von alleine gekriegt hätten. Ich meine: Möglicherweise hätten Sie mich gekriegt – ich hab zunehmend weniger Wert auf Verkleidung, Spuren, Alibis und dergleichen gelegt –, vielleicht hätte ich Ihnen aber auch noch ein letztes Schnippchen geschlagen, weil ich ja, wie gesagt, fertig mit der Sache war. Es hätte demzufolge keine weiteren Indizien oder gar handfeste Beweise gegeben, und selbst wenn Sie mich gekriegt hätten – ob ich dann auch verurteilt worden wäre? Im Namen des Volkes und jenseits eines begründeten Zweifels, wie es so schön heißt? Ich komme doch vor ein Schwurgericht? Ach so. Wie heißen diese Leute dann: Schöffen? Und die sind ehrenamtlich unterwegs? Also schon noch ein Bisschen wie Geschworene, nicht? Na ja, ist ja letztlich auch egal.

Wo war ich stehengeblieben? Ah ja. Wissen Sie, Herr Kommissar, am Ende habe ich die Sache einfach satt bekommen. Man kann ja doch nie alle, äh, loswerden, die einem das Leben vermiesen, und außerdem haben die Zeitungen und die Lokalnachrichten schließlich solch ein Tamtam veranstaltet, dass praktisch jeder vom Kontrolleur bis zum Pizzaboten hinter mir her sein konnte. Wie soll man da noch in Ruhe seinen Angelegenheiten nachgehen können, haha! Und die Zeitungen, das Fernsehen, die Kommentatoren, Nachrichtenleute und Podcaster – die hielten mich allesamt für verrückt, für eine Art Psychopath! (Selbstverständlich erst dann, als sie die ihnen ach so teure Idee vom Terroristen fallenlassen mussten.) Dies konnte ich nicht länger unwidersprochen stehenlassen, denn, wissen Sie, Herr Kommissar: Ich halte mich keineswegs für verrückt und schon gar nicht für einen Psychopathen! (Mir ist natürlich klar, dass man mich dahingehend untersuchen wird.) Ein wenig verschroben – von mir aus; ein Sonderling – kein Widerspruch; ein Misanthrop – auch das. Aber verrückt? Halten Sie mich für verrückt, Herr Kommissar? Sie haben doch gewiss viel mit Menschen meines Schlages zu tun…wenn auch wohl mehrheitlich mit kleineren Kalibern, haha! Schließlich habe ich eine ganze Reihe von, nun ja, Menschen umgebracht, wohlbedacht und aus – wie sagt man? – niederen Beweggründen. Wie viele, fragen Sie? Ich muss gestehen, dass ich dies nicht genau sagen kann. Scheint so, als habe ich irgendwann den Überblick verloren – was auch verständlich werden wird, glauben Sie mir, haben Sie erst einmal meine Geschichte von Anfang bis Ende gehört. Dürfte ich wohl noch um einen Kaffee bitten, bevor ich beginne? Dankeschön, Herr Kommissar; Sie sind sehr freundlich. Eine Zigarettenpause? Jawohl, gerne; wie aufmerksam von Ihnen. Ach, Sie haben einen Raum extra für Raucher? Gibt wohl auch unter Staatsbeamten noch einige Vorgestrige, Übriggebliebene, Unbelehrbare, haha! Tja, dann komme ich mal eben mit…

Jawohl, ich bin jetzt bereit. Kein Problem. Ob ich noch etwas…? Ach, ein weiterer Kaffee wäre schön – ich bin eine richtige Kaffeetante, ich weiß! –, und vielleicht noch ein stilles Wasser für später. So eines, wie mir Ihr Kollege vorhin kredenzt hat. (Nein, Hunger habe ich keinen; ich hab ordentlich zu Abend gegessen.) Und vielleicht könnte man das Fenster wieder kippen? Dankeschön. Frische Luft ist unerlässlich für das Wohlbefinden, möchte ich behaupten. Ich zum Beispiel habe Tag und Nacht ein Fenster wenigstens einen Spalt geöffnet, sommers wie winters. Tatsache ist, dass ich bei geschlossenem Fenster schlecht schlafe. Lieber friere ich im Winter, als das Gefühl zu haben, keine Luft zu bekommen. Ich nehme eben zusätzliche Decken und sogar ein T-Shirt, obwohl ich am liebsten nackt…wie bitte? Nein, keine Sorge; ich komme sofort zur Sache. Verzeihen Sie mir, Herr Kommissar, aber wenn ich so richtig in Fahrt komme, finde ich nur schwer ein Ende. Auch schweife ich ab und zu schon einmal ab, zugegeben. Hat man mir auch schon des Öfteren bestätigt. (Ein ehemaliger Abteilungsleiter bei mir im Büro hat mich sogar einmal als Klugscheißer bezeichnet, denken Sie nur! Reichlich unverschämt, würden Sie nicht auch sagen?) Nun denn, ich habe ja schon angedeutet, dass ich für etliche Morde…äh, kann man diese auch als Totschlag bezeichnen, im Affekt, wie das heißt, oder als, äh, Unfälle mit Todesfolge, zum Beispiel aufgrund geistiger Verwirrung? Jawohl, mir ist durchaus bekannt, dass die Anklageerhebung dem Staatsanwalt obliegt, aber ich dachte, Sie könnten vielleicht aus Erfahrung…Ganz unverbindlich und streng inoffiziell? Gerne. Es wird auf Mord hinauslaufen? Schade! Na, mal sehen.

Äh, wo war ich? Ah ja: Dass ich also für eine Reihe Morde verantwortlich bin, fast alle betrafen Passagiere der öffentlichen Verkehrsmittel – wie Sie ja sicherlich ermittelt haben –, in der Hauptsache sind damit S-Bahnen und Stadtbahnen gemeint. Wenn ich es recht bedenke, so fanden sich auch zwei – oder drei? – Kandidaten in Bussen, und einen, eine Frau, in einem regionalen Nahverkehrszug. Jawohl, Herr Kommissar, dessen bin ich mir sicher: Es war nur ein Zugfahrer. Warum nur einer? Wenn Sie sich ein wenig gedulden wollen; ich möchte möglichst der Reihe nach erzählen und nicht durcheinanderkommen. Tja, dann beginne ich am besten mit dem Anfang…Was sagten Sie? Haha, ich weiß, dass sie mein Geburtsdatum kennen und sich eher weniger für meine Kinderzeit interessieren, haha! Der war gut, Herr Kommissar! Spaß muss sein, wie ich immer…wie wir beide immer sagen! Nochmals: Ich freue mich wirklich, dass Sie über Humor verfügen; das wird uns manches erleichtern, prophezeie ich einfach mal. Nun gut. Wie Sie wissen, arbeite ich seit…es werden im Winter vierunddreißig Jahre gewesen sein, bei…Nein, Sie haben Recht: dies tut im Grunde nichts zur Sache. (Im Übrigen bin ich seit etwa einem dreiviertel Jahr im Ruhestand, genauer: im Vorruhestand; die dafür erforderlichen Beitragsjahre hatte ich nämlich erreicht.) Ich wollte ja nur darauf hinaus, dass ich in all diesen Jahren Tag für Tag die schon erwähnten Verkehrsmittel benutzt habe. Wie Sie bestimmt schon erfahren haben, besitze ich keinen Führerschein (keinen mehr, um der Wahrheit die Ehre zu geben). Aber das ist eine andere, frühere Geschichte, die heute nicht mehr von Interesse sein sollte. Das war nämlich damals, als ich noch…Was sagten Sie? Schon klar: Ich werde mir ab jetzt die größte Mühe geben, Herr Kommissar, versprochen! Wo war ich? Ah, die Öffentlichen.

Ach, Herr Kommissar, Sie machen sich keine Vorstellung davon, was dies für eine Tortur für mich bedeutete! Das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, meine ich. (Nicht meine…äh, weswegen ich hier bin: das war ganz leicht). Die Enge, der Lärm, die schlechte Luft…Häufig ist die Klimaanlage völlig unzureichend eingestellt; vermutlich die Rache des kleinen, unbedeutenden Zugführers, dem ansonsten ja wenig Beachtung zuteilwird. Ich habe ja schon angedeutet, dass ich die Menschen an sich nicht sonderlich mag, aber die körperliche Berührung mit fremden Menschen ist für mich geradezu unerträglich! Es könnte sehr gut sein – das hab ich mal gelesen –, dass ich unter einer Phobie leide, ähnlich der Angst bzw. dem Ekel vor Spinnen, ähnlich der Höhenangst, etwas in der Richtung. Unter Höhenangst leide ich übrigens tatsächlich – Akro…phobie; ist das richtig? –; ich kann kaum aus dem zweiten Stock auf die Strasse blicken, ohne dass es mir mulmig wird. Und auf dem Wasser ist es auch nicht besser, glauben Sie mir! Meine Exgattin liebte Boots- und Schifffahrten…was meinen Sie, wie ich jedes Jahr den Winter herbeigesehnt habe! Ich will nicht behaupten, dass dies die Scheidung beeinflusst…Ups, ich schweife schon wieder ab! Bitte bremsen Sie mich, wenn ich…Dankeschön! Nein, kein Problem, schließlich wollen wir beide ja zum Ende kommen! Sie wollen sicherlich beizeiten nach Hause, könnte ich mir denken. Na, Ihre Familie ist diesbezüglich wohl Kummer gewöhnt…Also dann, die Bahnfahrten; hauptsächlich S-Bahn und Stadtbahn, wie schon gesagt. Morgens hin, abends zurück; meist überfüllt; tagein, tagaus, jeweils etwa eine dreiviertel Stunde pro Fahrt (ohne Verspätungen und Ausfälle): Ein wahres Inferno aus Rascheln, Stampfen, Poltern, Schmatzen, Niesen, Husten, Kinder- und Teenagergekreische und lautstarken Unterhaltungen von frustrierten Büroangestellten, Einkaufsbummlern, Ausflüglern und Betrunkenen!

Anfangs haben mir besonders die Zeitungsleser zugesetzt. (Mittlerweile scheinen die fast vollständig aus der Öffentlichkeit verschwunden zu sein; keine Ahnung, wohin. Niemand scheint mehr Zeitung zu lesen – ach, wenn sich doch alle Probleme so leicht in Luft auflösen würden!) Aber nein, Herr Kommissar! Es gibt weiß Gott nichts dagegen einzuwenden, wenn die Menschen sich über das informieren, was in der Welt vor sich geht. Ich selbst zum Beispiel bemühe mich immer auf dem Laufenden zu sein. Wenn man sich eine seriöse Meinung bilden will, sollte man sich vorher aus seriösen Quellen informieren, würde ich doch meinen (was allerdings die Mehrzahl besagter Quellen ausschließt, haha!). Andererseits scheint es ein hervorstechendes Merkmal unserer Tage zu sein, buchstäblich zu allem eine Meinung, jedoch von nichts eine Ahnung zu haben, finden Sie nicht auch? Das sind die Nebenwirkungen der Verdummung durch Leitartikler, Influencer, Werbung und Social Media, behaupte ich jetzt einfach mal. Man steckt sozusagen knietief in Weißwäschern, Talkmastern, Experten, Analysten und Kommentatoren, und jeder weiß etwas anderes – und jeder weiß es natürlich besser! Kein Wunder, dass…Jawohl, Herr Kommissar, sehr gern: zurück zu den Zeitungslesern! Eigentlich sind die nicht wichtig, in dem Sinne, dass sie ausschlaggebend waren für meine…Unternehmungen. Richtungsweisend vielleicht, aber nicht ausschlaggebend, würde ich behaupten. Ich habe ja nichts gegen das Zeitungslesen an sich – aber in der Straßenbahn? Wo man ohnehin kaum Platz hat bzw. so wenig, dass einem jeder Nebenmann über achtzig Kilo praktisch auf dem Schenkel sitzt! Und wenn nicht er selbst, so parkt er Brillenetuis, Tempotaschentücher, Zeitungsteile und Werbebroschüren ungerührt in deinem Schoß und gebärdet sich leicht ungehalten, wenn man ihn auffordert, besser auf seinen Krempel zu achten, den er dann grummelnd in die ohnehin ständig überfüllten Abfallbehälter presst. Oder gleich auf den Boden wirft. Ständig hat man eine Hälfte der Zeitung im Gesicht, Herr Kommissar, weil diese rücksichtslosen Wichtigtuer und Spießer die Blätter immerzu mit den Händen ausbreiteten, soweit es nur geht, als wollten sie den anderen Fahrgästen ihren Segen erteilen. Man kann sich auf nichts konzentrieren – geschweige denn selbst etwas lesen, etwa ein Buch –, weil ringsum das gesamte Abteil von einem Rascheln und Knistern erfüllt ist, wie man es sonst nur auf einem Waldspaziergang erlebt, wenn ein heftiger Wind durch die Bäume fegt. Ach, Herr Kommissar, all dies war schon schlimm genug – tatsächlich habe ich zu dieser Zeit begonnen, Mordgedanken zu hegen, allerdings nur vereinzelt und vage, etwa so, wie wenn man manchmal für sich denkt, dass man jemandem umbringen könnte, einfach aus einem momentanen Impuls heraus, Sie verstehen? –; aber dann kamen die verdammten Laptops, Notebooks und Smartpads auf, aber vor allem die – entschuldigen Sie den Ausdruck! – beschissenen Handys und Smartphones und wie sie noch alle heißen! Im Grunde, Herr Kommissar, hat erst da alles wirklich angefangen: Aus vagen Mordgedanken wurden langsam aber unaufhaltsam konkrete Überlegungen zu deren Durchführung.

Dürfte ich vielleicht noch um ein Stilles Wasser bitten? Danke. Nein, ich denke, wir ziehen dies jetzt durch und ich mache erst danach eine Zigarettenpause. Etwas Disziplin kann nicht schaden, meinen Sie nicht auch? Nun denn, Herr Kommissar…Ich gehe mal davon aus, dass Sie sich noch gut genug an das Aufkommen der Handys (und später der Smartphones) erinnern können. Aber natürlich hielten wir dies anfangs für das Nonplusultra der Technologie, das Raumschiff Enterprise der Gegenwart! Die Zukunft hatte begonnen! Endlich war es gelungen, aus Blei Gold zu machen! Und ich meine nicht die unhandlichen Funktelefone der ersten Generation, jene backsteingroßen Ungetüme, welche die Gangster, die Drogenbarone in den damaligen Krimiserien benutzten. Miami Vice, erinnern Sie sich? In meiner Jugend war das Kult; jeder wollte mit Drei-Tage-Bart, weißem T-Shirt und rosa Jackett herumlaufen! Wie auch immer: Als dann diese kleinen, maximal handgroßen Handys auftauchten, war das schon eine große Sache. Die globalen Schafherden schienen nur darauf gewartet zu haben, und obwohl die Geräte anfangs nicht billig waren, schien bald jedes Schäfchen mindestens eins zu besitzen. Die Dinger verbreiteten sich wie die Pest. Die Hersteller und Händler müssen sich gefühlt haben wie Jesus während der Speisung der Fünftausend…abzüglich Fürsorglichkeit und Altruismus natürlich, haha! Umgehend begann der übliche Konkurrenzkampf der Monopole um Tarife und Sondertarife, Takte, Einheiten und Sonderangebote – da ging es zu wie bei der Besiedlung des amerikanischen Westen! –, mit der Folge, dass man die Dinger irgendwann praktisch für umsonst bekam, wenn man einen sogenannten Handy-Vertrag unterschrieb. Und nun war man endlich rund um die Uhr erreichbar, konnte sich schnell und unkompliziert verständigen und/oder benachrichtigen. Notrufe scheiterten nicht mehr am fehlenden Kleingeld. Man musste nicht mehr vor öffentlichen Fernsprechzellen Schlange stehen – das hat schon seinen Grund, warum die Zellen genannt werden! – oder vor diesen dämlichen halboffenen Plastikmuscheln. Vorausgesetzt, der Akku war geladen und man hatte seine Gebühren bezahlt, so konnte man sich nach Herzenslust unterhalten, wo immer man sich gerade aufhielt…Endlich frei, wirklich frei!

Und schon tauchten die ersten Probleme auf: An die Preisgabe (und den letztlichen Verlust) der Ruhe, Privatsphäre, Anonymität hat kaum jemand einen Gedanken verschwendet. Versetzen Sie sich einmal in meine Lage, Herr Kommissar: Menschen gehen mir grundsätzlich auf die Nerven; ich mag sie nicht und ich traue bzw. vertraue ihnen nicht, und eine Ansammlung von mehr als fünf dieser ungeschlachten, selbstsüchtigen und -gerechten, räuberischen Säugetiere empfinde ich als Zumutung. Ja, tatsächlich! Erinnern Sie sich, Herr Kommissar, dass ich Ihnen erklärt habe, unter Akropho…ah nein, das war ja die Höhenangst! Ups, Verwechslung; meine Schuld! Na, jedenfalls leide ich ebenso unter Klaustrophobie, also Platzangst in allen Formen – ah, die ist Ihnen auch vertraut? –, und ganz allgemein unter Angst bzw. Widerwillen vor physischem Kontakt mit fremden Menschen. Vielleicht hätte ich sogar mit all dem irgendwie zurechtkommen können, Herr Kommissar, wäre da nicht meine Hyperakusis, sozusagen das I-Tüpfelchen auf meiner so empfindsamen wie misanthropischen Existenz, haha! Was dieses Hyperdings ist? Es bedeutet Lärmempfindlichkeit; man reagiert übersensibel auf alltägliche Geräusche (auf andere sowieso). Jawohl, das ist tatsächlich überaus unangenehm, um es vorsichtig auszudrücken. Glauben Sie mir, Herr Kommissar, auch ein Mensch wie ich, der ihnen kaltblütig und gewissenlos erscheinen muss, hat Gefühle! Ich bin weder völlig bar von Mitleid noch von Großmut; ich kann durchaus einiges verzeihen und – dem Anschein zum Trotz! – breche nicht vorschnell den Stab über Zustände und Menschen, bloß weil mir diese nicht passen. (Die Jugendlichen zum Beispiel könnte ich noch irgendwie, wenn schon nicht entschuldigen, so ihnen doch mildernde Umstände zubilligen, sollte mir der Sinn danach stehen.) Aber diese lärmenden Kicherlieschen, Proleten und Wichtigtuer, diese Dauertelefonierer – die kann ich gar nicht ab! Die sind schlimmer als jeder Audi-BMW-Verkehrsrowdy auf der Autobahn, versichere ich Ihnen!

Schauen Sie sich doch einmal um und erkennen, wie weit wir es als Gesellschaft gebracht haben! Ursprünglich wollte man ja bloß telefonieren und erreichbar sein, warum auch immer – ich persönlich würde behaupten, weil die Menschen an sich dumm, eitel und ignorant sind (einzelne mögen durchaus eine Ausnahme bilden) –, und nun gibt es die neuen Götter der Kommunikation, Twitter, Facebook, TikTok und Instagram, Apps und Tools, Fotos, Voicemails und tausend andere Dinge. Jederzeit ins Internet, in seinen eigenen PC? Die Freundin anrufen, von der man sich gerade erst verabschiedet hat? Kein Problem – wir haben ja Flatrates. Man kann sogar, wenn man entsprechend verblödet und dazu ein sozialer Aufsteiger und Angeber ist, die Einrichtungen der eigenen Wohnung aus der Ferne steuern: Rollläden hoch, Lichter, Heizung, elektrische Geräte an und aus, den Kühlschrank fragen, welche Lebensmittel er rasch braucht, solche Dinge…Wie bitte? Momentan nicht relevant, sagen Sie? Ganz wie Sie meinen. Mir ist eben viel daran gelegen, Herr Kommissar, dass Sie meine Gemütsverfassung, meine Motive nachvollziehen können. Wissen Sie, der Gedanke, dass die Erinnerung an mich lediglich aus einer nüchternen Indizien- und Beweiskette bestehen soll, stimmt mich nämlich schon ein wenig traurig. Andererseits, versichere ich Ihnen, harre ich dem weiteren Lauf der Dinge mit Zufrieden-, Gelassen- und Ergebenheit, wenn auch – zugegeben – mit ein klein wenig Eitelkeit. Gerechtfertigte Eitelkeit, will ich meinen! Ich denke nicht, dass die jüngere Geschichte dieser an Übeltätern gewiss nicht armen Nation einen vergleichbaren Übeltäter wie mich aufzuweisen hat…Politiker natürlich ausgenommen, haha! Ja? Gerne, Herr Kommissar: zurück zu den Ereignissen der letzten Monate. Vorher hätte ich doch gerne eine Zigarettenpause gemacht, wenn Sie mir vergeben wollen, weil ich vorhin ja nicht…Danke sehr, Herr Kommissar. Wie immer sehr freundlich, verständnisvoll und nachsichtig von Ihnen.

So, da wären wir wieder. Ist dieser Kaffee hier für mich? Tausend Dank, wie aufmerksam von Ihnen! Ach, Ihr Assistent? Dann bitte ich um Vergebung ob meiner Unaufmerksamkeit, und richten Sie ihm bitte meinen Dank aus. Würden Sie dies tun? Danke. Ich denke, ich werde jetzt auch rasch zum Ende kommen und wir können alle nach Hause gehen – ich natürlich in meine Zelle, haha! Sagen Sie: nennt man dies eigentlich noch Untersuchungshaft? Ich meine, sie werden doch sicherlich so schnell wie möglich meine Angaben mit ihren Ermittlungen abgleichen und einen Haftbefehl beantragen müssen, nebst einem Pflichtverteidiger, oder? So oder so bin ich’s zufrieden: ich selbst kenne ja auch gar keinen Anwalt. Ich, äh, könnte mich doch auch selbst verteidigen, was meinen Sie? Ach so, dies geht nicht vor Landesgerichten? Eigentlich schade. Na ja, was soll’s. Also dann, Herr Kommissar – jetzt geht es ans Eingemachte, wie man so sagt.

Waren die Zeitungsleser schon kaum für mich zu ertragen, so legten die Dauertelefonierer noch eine Schippe drauf. Ständig dieses lautstarke Gequatsche über Belangloses bis hin zu Peinlichem, immerzu von Kichern und ungeniertem Gelächter begleitet, vor allem dem von dauerhaft milieugeschädigten Teenagern und multilingualen, testosterongesteuerten Jungstieren, deren Umgangston und sprachliche Fähigkeiten hauptsächlich aus der Fankurve eines Fußballstadions stammen. (Man weiß ja, dass Dummköpfe am liebsten über ihre eigenen Witze lachen!) Verzeihen Sie mir, Herr Kommissar, aber ich musste mir einfach Luft machen! Dann waren da noch die selbstverständlich unaufschiebbaren, für die nationale Wirtschaft unerlässlichen geschäftlichen Gespräche: Nein, das muss sofort erledigt werden! Das muss noch heute raus! Sag dem…, dass es so nicht geht! Wenn es dem…nicht passt, kann er sich ja in der Chefetage beschweren! Ich fahre jetzt extra deswegen ins Büro! Hätte wahrlich Besseres zu tun! (Hat er nicht.) Ja, ich hab’s vor mir liegen, aber das sieht mir doch verbesserungsfähig aus. Ja, schon, ich könnte das auch per WhatsApp schicken, aber…! Die kriegen von mir ein Voicemail, das sich gewaschen hat! Verdammter Akku! Und, nicht zu vergessen: Die lebenswichtige Information, meist an die jeweiligen Lebens- und Businesspartner gerichtet, dass man gerade in der S-Bahn sitzt, das…eingekauft (bzw. nicht eingekauft) hat und demnächst zuhause oder im Büro ist. Dies wird kurz vor dem Aussteigen wiederholt, meist mit gesteigerter Lautstärke, weil man sich mitten im Pulk der anderen Heimkehrer befindet, die alle dasselbe brüllen.

Wissen Sie, Herr Kommissar, fremde, persönliche Gespräche mithören zu müssen, ist mir grundsätzlich unangenehm, sogar peinlich. Ich betrachte dies auch als eine mutwillige Verletzung meiner Intimsphäre, was mich wiederum wütend bis aggressiv stimmt und handeln lässt. Was meinten Sie? Ob ich inzwischen nicht auch finde, dass ich geradezu pathologisch überreagiert habe? Ich denke, nicht, Herr Kommissar – es war einfach an der Zeit für ein Fanal. Ich sehe dies so: Menschen, angefüllt mit narzisstischer, gedankenloser Beschränktheit, denen Privatsphäre augenscheinlich wenig bedeutet, die ihrerseits Privates, sogar Intimes ungerührt einem gefüllten Abteil mitteilen, oder einer beliebigen Menschenmenge irgendwo in den Straßen, dabei jegliche Zurückhaltung aufgebend – nun, die haben meiner Ansicht nach auch kein privates Leben, das zu respektieren ist, also kann man ihnen auch nichts wirklich Substanzielles nehmen, wenn man ihnen selbiges armseliges Leben nimmt! Gewissensbisse, Reue? Ach, gehen Sie her, mein lieber Herr Kommissar! Auf der Haben-Seite hab ich meine diversen…Unternehmungen doch mehr oder weniger im Voraus geplant, so gut ich es eben vermochte. Ich meine, ich habe schließlich ausgeführt, was ich mir vorgenommen hatte, selbstbewusst, entschlossen, auch durchaus diszipliniert, möchte ich behaupten – warum sollte mich dies dann hinterher reuen? Auf der Soll-Seite sind da doch bloß diese akustischen Umweltverschmutzer, diese gedanken- wie empathielosen Autokraten des Alltags, diese selbstgerechten Verkehrshindernisse, die blind für ihre Umwelt umherstolpern, Menschen wie Gegenstände anrempeln – sich meist nicht einmal dafür entschuldigen! –, die Augen starr auf ihre Smartphones gerichtet, die wie festgewachsen an ihren Händen daherkommen…Wahrscheinlich die jüngste evolutionäre Entwicklung unserer Spezies, haha! Aber nein, Herr Kommissar – das war doch bloß ein Scherz! Allerdings kann man schon den Eindruck gewinnen, dass diese…Dinger mit der Zeit bei dem Einen oder Anderen tatsächlich festgewachsen sind! Erinnern Sie sich noch daran, Herr Kommissar – nun, es ist ja auch auf Band –, wie ich Ihnen von diesem Tatort erzählt habe, wo einem der Protagonisten das Smartphone mit einem Klettverschluss an der Hand befestigt wurde? Ich würde mich nicht wundern, wenn dies längst gebräuchlicher ist, als man denkt. Ich habe einmal gelesen, dass inzwischen weit mehr Smartphones im Umlauf bzw. im täglichen Gebrauch sind, als es Menschen auf der Welt gibt. Deswegen stolpern wohl auch schon die Sechs-, Sieben- und Achtjährigen damit durch die Gegend! Tja, unsere Spezies degeneriert stündlich mehr und…Ups! Sie haben ja Recht, Herr Kommissar – wie immer, möchte ich demütigst hinzufügen –, ich sollte jetzt wirklich langsam zum Ende kommen. Kein Problem – es gibt ohnehin nicht mehr viel zu sagen: Die Fakten, für die Sie sich ja hauptsächlich interessieren, sind schnell aufgezählt.

Den Ausschlag dafür, das Heft des Handelns nunmehr in die Hand zu nehmen, gab ein Klingelton; sozusagen der Vorfall, der das Fass zum Überlaufen brachte und alles in Gang setzte. Jawohl, Herr Kommissar, Sie haben richtig gehört: Es war tatsächlich ein einzelner, so außergewöhnlicher wie unerhörter Klingelton! Jener Ton wurde vom Smartphone eines etwa vierzigjährigen Mannes produziert, der eingangs, abgesehen davon, dass er bis auf ein weißes Hemd ganz in Schwarz gekleidet war – Anzug, Krawatte, Schuhe, Socken; sogar seine Laptop-Hülle und das Etui seines Smartphones waren schwarz –, unauffällig-nichtssagend auf mich wirkte. Er saß eine Sitzreihe weiter mir in der S-Bahn gegenüber und…Wie spät es war? Ich würde sagen, gegen sieben, halb acht Uhr abends. Und natürlich war dieser Kerl die ganze Zeit über mit seinem verdammten Smartphone zugange, ohne jedoch zu telefonieren, als er plötzlich angerufen wurde. Und nun halten Sie sich fest, Herr Kommissar: Anstelle der üblichen albern-nervigen elektronischen Ton- bzw. Melodiefolgen ertönte ein unmissverständliches Heil! Heil! Heil! durch das Abteil. Wenn ich es Ihnen doch sage! Diese Heil!-Rufe erfolgten in Dreiergruppen, jeweils getrennt durch eine etwa halbsekündliche Pause, und sie wurden von einer männlichen Stimme mehr gebrüllt als gerufen; eine Stimme übrigens, die mir irgendwie bekannt vorkam, die ich schon irgendwo einmal gehört zu haben glaubte. Da dieses Arschloch das Gespräch rasch angenommen hatte, konnte ich nur spekulieren, wer der digitalisierte Schreihals war: Irgendein Nazischerge der einstigen tausendjährigen Führungselite; Hess, Sauckel, Frick, Freisler, von Schirach, Streicher, einer von denen. Von den obersten Paladinen – sozusagen der ersten Garnitur – war es bestimmt keiner; die Stimmen von Hitler, Goebbels, Himmler und Göring vergesse ich mein Lebtag nicht mehr.

Wie auch immer: Dies durfte jedenfalls nicht unbestraft durchgehen, Herr Kommissar! Ein paar Haltestellen lang war ich mir unsicher, was ich mit dem Scheißkerl anstellen würde, wenn er die S-Bahn verließ. Ich glaube, ich habe mir, bis es so weit war, eingeredet, dass ich ihn lediglich ordentlich verprügeln würde. Er stieg in irgendeinem Vorort in der Gegend des Flughafens aus, ich hinterher. Ländliche Haltestelle, viel Natur ringsum – perfekt für mein Vorhaben. Viele dieser Vorortpendler suchen einen Park-and-Ride-Parkplatz auf; Arschloch tat dies auch. Noch besser. Unterwegs las ich einen ordentlich schweren, dennoch handlichen Stein auf, und als der Kerl in seinem Kofferraum herumwühlte, schlug ich ihm den Stein mit voller Wucht an die Schläfe. Er hat mich nicht mal kommen sehen. Ist wie vom Blitz getroffen lautlos umgefallen und regungslos liegengeblieben. Am anderen Ende des Parkplatzes waren zwei oder drei Leute, glaube ich, aber ich kann mich nicht erinnern, dass die zu mir hergesehen haben. Jedenfalls hat mich niemand angesprochen oder gar aufzuhalten versucht. Na, Sie kennen ja die Menschen, Herr Kommissar: Niemand kümmert sich um den Anderen. Es gab auch keine Hilferufe, keinen Lärm oder ungewöhnlichen Geräusche, als ich zügig zur Haltestelle in Gegenrichtung schritt und wenige Minuten später wieder in der S-Bahn saß. Ich war zwar innerlich nicht wenig aufgeregt – wenn auch kaum noch außer Atem –, äußerlich jedoch leidlich ruhig, und ich hatte nicht das Gefühl, dass mich jemand besonders musterte. Der Name der Haltestelle? Aber Herr Kommissar, der steht doch wohl in Ihren Akten! Na schön. Der genaue Name ist mir zwar entfallen – irgendetwas namens Waldeck, Waldäcker, Waldrain –, aber wenn Sie mir einen Nahverkehrsplan vorlegen, werde ich den Ort vermutlich ohne Mühe finden und für Sie markieren. Den Stein habe ich übrigens zu den Schottersteinen auf dem Bahngleis geworfen, in Fahrtrichtung am hintersten Ende. Den haben Sie nie gefunden, nicht wahr?

Nun, der Rest ist schnell erzählt, und ich denke, ich kann mich kurz fassen – die Zigarettenpause wartet schon! Sollten Sie danach noch Fragen haben – es wird sicherlich noch Fragen geben, nehme ich an –, so stehe ich Ihnen selbstverständlich Tag und Nacht zur Verfügung, haha! Ach, Herr Kommissar, seien Sie nicht ungehalten mit mir! Ich gewöhne mir die Sprüche und Witze auf meine alten Tage wohl nicht mehr ab. Ist einfach meine Art. Es war ein langer Tag für uns beide, und da werden ein paar Sprüche zum Auflockern und Lockerbleiben bestimmt nicht schaden! Was nun das Arschloch betrifft, so wusste ich nicht, ob er tot war, als ich ihn verließ. Ich will damit sagen, dass ich nicht extra nachgeschaut habe. Gehofft hab ich’s natürlich schon; schließlich war das der Sinn der ganzen Sache. Am nächsten Tag stand der Leichenfund jedoch in der Zeitung und war zusätzlich ein Thema in den Lokalnachrichten bzw. in der Landesschau, Bitte um Hinweise aus der Bevölkerung inklusive, was für mich wiederum hieß, dass die Polizei – Verzeihung, Herr Kommissar! – keine Ahnung hatte vom Wer und Warum. Ich hab dann nicht weiter über die Sache nachgedacht. Wie ich es sah, hatte es der Kerl verdient, und das war’s dann.

Tja, und dann habe ich eben so weitergemacht. Das Prozedere war jedes Mal dasselbe: Ich ging den Leuten, Männlein wie Weiblein – selbstverständlich keine Kinder; so tief würde ich niemals sinken, Herr Kommissar! –, an einer Haltestelle hinterher. Diese war meist – jedoch nicht immer – etwas außerhalb gelegen, etwa an einem Park-and-Ride-Parkplatz oder an Ausfallstraßen, und dann hieß es: Ein Schlag und weg. Hatte seit dem Arschloch-Abgang immer einen Stein im Rucksack. Hab schnell herausgefunden, dass der weder besonders groß noch schwer sein musste, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Es reichte völlig aus, wenn er bequem in eine Hand passte. Nach den ersten fünf oder sechs, vielleicht auch sieben, ging ich zeitgleich übrigens in Rente…Natürlich nur beruflich, haha! (Tut mir leid, Herr Kommissar, aber ich finde dies nicht unbedingt geschmacklos. Ich meine: Es sind doch nur Sprüche und Witze; die tun doch keinem mehr weh.) Nun, die neu gewonnene Freizeit hat meinen Unternehmungen erst so richtig Schwung verliehen! Vorher konnte ich aus Zeitmangel beinahe ausschließlich nur auf meiner Linie tätig werden; nun konnte ich leicht das gesamte Netz abdecken. Sie meinen, wie ich mir die doch wohl gehörigen Fahrtkosten leisten konnte? Woher wissen Sie…? Ah, Sie kennen natürlich meine wirtschaftlichen Verhältnisse längst! Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Kommissar – aber natürlich war ich dies bislang auch! –: Ich bin ein ebenso geschickter Schwarzfahrer wie Mörder! Übrigens: Kommt Beförderungsgelderschleichung – so heißt das tatsächlich (hab ich mal nachgeschlagen); haben Sie das gewusst? –, dieses widerliche Verbrechen an der gewiss doch ehrlichen Allgemeinheit, jetzt zu meinem Strafkonto noch hinzu…? (Wie ich sehe, müssen selbst Sie in ihrer Funktion als Ordnungshüter darüber schmunzeln, Herr Kommissar!) Na, wohl eher nicht, würde ich meinen – nicht, dass es viel ausmachen würde –, sonst würde die Verhandlung sich zu sehr in die Länge ziehen und den armen Steuerzahler über Gebühr belasten, haha!

Wo war ich stehengeblieben? Ah: das gesamte Netz abdecken. Zwischen Büroschluss und Tagesschau war meist die beste Zeit – einmal hab ich sogar zwei abgewickelt –, aber ich hab auch sowohl am frühen Morgen wie auch am Nachmittag den einen oder anderen erwischt, allerdings nicht mehr als drei oder vier insgesamt, schätze ich. Sie glauben nicht, Herr Kommissar, wie glatt alles ablief, wie arglos diese spießigen, selbstgerechten Wichtigtuer sind! Die wollten nur nach Hause, blind für ihre Umwelt; außerdem hatten sie sowieso nur Augen für ihre idiotischen Smartphones. Ein paar Mal habe ich sogar welche angesprochen, richtig doof angequatscht, unter irgendeinem so albernen wie durchsichtigen Vorwand. Dennoch ahnten die die Gefahr nicht mal ein winziges Bisschen. Nie gab es eine ernstzunehmende Panne…aber das wissen Sie ja, Herr Kommissar. Bis vor kurzem ist es Ihnen ja lediglich gelungen, einige wenige mickrige Indizien zusammenzutragen…Entschuldigung, das haben Sie selbst gesagt! Ja gut, da war diese Personenbeschreibung eines…einer doch ein wenig fragwürdigen Zeugin, würden Sie nicht auch sagen? Zugegeben, die Beschreibung meiner Person war andererseits ziemlich exakt geraten. Na ja, diese Frau stand mir auch mehrere Minuten direkt gegenüber. Die war überraschend hinter einer Reihe Autos aufgetaucht – sie stand seitlich, ich hinterm Kofferraum – und sah diese Frau zu meinen Füßen liegen. Ich beschied ihr kaltblütig – finden Sie nicht auch, dass dies nicht nur clever, sondern auch ziemlich kaltblütig war? –, dass dies meine Frau sei, die ohnmächtig geworden ist – wohl die Hitze –, und dass ich sie in die stabile Seitenlage gebracht habe. Wie sie fragte, ob sie irgendwie helfen könne, sagte ich, nein, ich hätte schon den Krankenwagen gerufen, worauf sie sich trollte, wenn auch ein wenig zögerlich.

Ich könnte heute noch über den Umstand lachen, dass ausgerechnet ich einen Krankenwagen gerufen haben sollte – mit einem dieser beschissenen Smartphones! Von der haben Sie doch meine Personenbeschreibung, oder? Ach, sie hat auch die Polizei wegen eines vermeintlichen Unfalls benachrichtigt? Dumme Gans. Entschuldigung, Herr Kommissar, was musste die sich aber auch einmischen! Kann froh sein, dass ich es ihr nicht gleich heimgezahlt hab. Na ja, es hat ja schließlich noch eine ganze Weile lang zu nichts geführt. Und dass ich mich selbst gestellt habe, hatte damit rein gar nichts zu tun – hab mir darüber jedenfalls keinen Kopf gemacht –, wie ich ja eingangs schon gesagt habe…äh, glaube ich. Ach, einmal ist einer hinter mir hergerannt, der muss irgendwas gesehen haben, keine Ahnung was, hat Stehenbleiben! Bleiben Sie sofort stehen! geschrien, wie im Fernsehen, dachte wohl er wäre Kommissar Soundso, und dann ist er auf halber Strecke zu mir gestolpert, und bis er wieder auf die Beine gekommen ist, war ich schon außerhalb seiner Sicht- und Reichweite, sodass er keine Ahnung hatte, wo ich abgeblieben bin. Soso, der hat Euch auch alarmiert? Hat wohl nichts gebracht, wie? Dürfen Sie nicht darüber reden? Na, der war ohnehin zu weit entfernt, als dass er eine brauchbare Beschreibung von mir hätte geben können. Das Glück des Tüchtigen, Herr Kommissar! Nein, schon gut. Ich gebe zu, das war wirklich ein wenig geschmacklos.

So, ich denke, im Großen und Ganzen war’s das…Leider nein, Herr Kommissar, tut mir echt leid: Ich sehe mich hier und heute außerstande, Ihnen verlässlich die genaue Anzahl meiner Opfer zu nennen. Ich habe mir diese Liste hier angefertigt, bevor ich zum Revier aufgebrochen bin. Nach dieser sind es dreiundzwanzig, aber ich halte es für absolut möglich, dass es mehr waren. Wie schon gesagt, habe ich irgendwann und irgendwie den Überblick verloren, vielleicht auch bloß Interesse und Bestimmung. Ich kann es nicht mehr genau sagen; es ist ja doch schon eine Weile her, und meine Gedanken haben sich längst anderen Dingen zugewendet. Ob ich mehr zu jenen Dingen sagen will? Ja, gerne, aber diese Dinge – will sagen: meine Gedanken – bestanden lediglich aus ein paar losen, unbedeutenden Überlegungen hinsichtlich meiner Zukunft, die noch nicht einmal sehr weit gediehen waren, es bislang auch nicht sind. Sehr freundlich von Ihnen, Herr Kommissar, dass sie sie trotzdem hören wollen. Überdies bilden sie keinen schlechten Abschluss für unsere heutige Sitzung, wie Sie nach der Durchsicht des Protokolls bestimmt werden zugeben müssen, wenn Sie mir diese, äh, mutige Prophezeiung verzeihen wollen.

Lassen Sie mich Ihnen zuvor jedoch die besagte Liste überreichen, die sie im Übrigen gerne zu Ihren Akten geben und vor Gericht verwenden dürfen. (Wenn dies mein Pflichtverteidiger erfährt, wird er ungläubig die Augen gen Himmel richten und an seiner Berufswahl zweifeln, möchte ich wetten!) Wenn Sie Ihre Ermittlungsergebnisse mit mir teilen würden, Herr Kommissar, könnten wir sicherlich gemeinsam die Liste vervollständigen. Sie könnten mir sämtliche Todesfälle inklusive der Umstände vorlegen, die diese mit mir in Verbindung bringen, dann kann ich Ihnen bestimmt auch diejenigen bestätigen, die mir momentan noch entfallen sind. Manchmal braucht das Gedächtnis nur einen kleinen Schubs, und schon funktioniert es wieder! So, dann will ich…Warum ich also aufgab, wollen Sie wissen? Hab ich das nicht schon im Lauf unseres Gesprächs erwähnt? Nein, das macht ja nichts, Herr Kommissar, ich erzähle es gerne noch einmal. Ich rede liebend gern über mich, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, haha! Nun denn, Herr Kommissar, mir ist einfach klar geworden, dass man gegen diese Smartphone-Plage letztlich nicht – bzw. längst nicht mehr – ankommt. Egal, wie klug, stark, mutig und entschlossen einer ist: Die bleiben immer in der Überzahl. Die sind wie Unkraut; da können Sie jäten, so viel Sie wollen. Und derart engagierte Menschen wie ich sind selten – zum Glück, werden Sie denken, Herr Kommissar! –: sie sind nämlich durch das gesellschaftlich akzeptierte Raster gefallen, lang bevor es ihnen überhaupt klar war, dass es jenes Raster gibt. (Wenn ich jedoch einen Tipp abgeben soll, so prophezeie ich, dass wir langsam aber sicher mehr werden und den sogenannten nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft – wie zum Beispiel Ihnen, Herr Kommissar – noch viel Kummer bereiten werden.)

Schauen Sie: Manchmal kann man handeln, tatsächlich etwas sinnvolles tun, und dann handelt man eben. Na ja, man kann noch hoffen, dass es sich rechtfertigen lässt oder wenigstens nicht gegen Gesetze verstößt. Letzten Endes muss man sich eben für oder gegen irgendwas entscheiden. Wiederum manchmal vermag man rein gar nichts tun, das eine bedeutendere Wirkung nach sich zieht, als zum Beispiel einen Kieselstein ins Meer zu werfen. Ja, natürlich, dies lässt sich durchaus als Aktion bezeichnen – nur wird diese Art von Aktion nichts verändern, und keiner wird sie bemerken. Außer vielleicht die Polizei, haha! Nein, Herr Kommissar, ich habe nie daran gedacht, die Welt zu verändern – ich wollte sie lediglich von dem einen oder anderen Arschloch, das mir auf die Nerven geht, befreien. (Was andererseits durchaus eine Art Veränderung darstellt.) Niedere Motive, sagen Sie? Ach, Herr Kommissar, das ist doch nur eine Hausnummer, eine Redensart, die es vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal gab und die es, ist erst einmal dieselbe Zeit vergangen, auch nicht mehr geben wird. Manches befindet sich eben in ständigem Fluss, vor allem Moral, Ethik und Gesetze, haha! Außerdem können die niederen Motive des einen sehr wohl einem anderen zum Vorteil gereichen, meinen Sie nicht auch? Wenn ich zum Beispiel einen geizigen, gewissenlosen, unbarmherzigen Gläubiger beraube, tue ich bestimmt vielen Menschen – nicht nur seinen Schuldnern – auf lange Sicht etwas Gutes, ohne dass die etwas von ihrem Glück ahnen müssen! Nehmen Sie nur dieses Arschloch und seinen Nazi-Klingelton: Sicher, Sie könnten einwenden, dass auch er Freunde und eine trauernde, durch seinen Verlust in Not geratene Familie hinterlässt (obwohl ich dies nicht glaube: Nazis und sonstige Scheißkerle haben keine Freunde im üblichen Sinn, und selten eine Familie, die der Sorge wie des Mitleids wert ist). Ich würde jedoch behaupten, dass es einer Reihe von Menschen bestimmt besser im Leben ergeht, wenn Leute wie er nicht mehr die Atemluft (und die Akustik in öffentlichen Verkehrsmitteln) verpesten. Auch denke ich, die Annahme ist nicht zu weit hergeholt, dass die Welt ohne derartige Arschlöcher ein kleines Bisschen sicherer geworden ist.

Aber gleich Mord, eine ganze Reihe kaltblütiger Morde, fragen Sie? Auch dies, lieber Herr Kommissar, ist nur eine Hausnummer. Dies lehrt uns doch ausreichend die Geschichte, wie auch die aktuelle Realität, möchte ich meinen. Nein, nein! Geschenkt, Herr Kommissar, geschenkt! Absolution war weder mein Ziel, noch erwarte ich sie am Ende. Ich bin beileibe kein Social Warrior, Freiheitsheld oder Weltverbesserer; so viel sollte doch klar geworden sein! Ich habe Sie des Öfteren während meiner Ausführungen so verunsichert wie ungläubig die Stirn runzeln und den Kopf schütteln sehen, Herr Kommissar, als fühlten sie einen unbestimmten Druck, sich unwiderruflich entscheiden zu müssen, ob Sie Mitgefühl oder gar Verständnis mit mir aufbringen sollen. Oder eben nicht, weil einer wie ich wohl kaum etwas davon verdient. Wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen: Sie müssen es nicht, wirklich nicht. Machen Sie sich das Herz nicht unnötig schwer und vergessen Sie mich, sobald es ihnen möglich ist. Und bitte glauben Sie mir, dass ich nie vorhatte, Ihnen absichtlich Unbehagen zu verursachen. Sie sind freundlich zu und geduldig mit mir gewesen; dafür danke ich Ihnen aufrichtig.

Das war sie nun, Herr Kommissar, meine Geschichte. Puh, nun auf zur verdienten Zigarette! Sonderbar, dass ich mich nicht wirklich erleichtert fühle. Das sollte man doch annehmen, nachdem alles heraus ist. Andererseits vermag ich wirklich nicht zu sagen, was ich überhaupt erwartet habe. Nun denn, ich vermute, dass mir letztlich mein eigenes Schicksal so gleich ist wie das meiner, äh, unschuldigen Opfer. (Verzeihen Sie mir, Herr Kommissar, ich kann mich nach wie vor nur schwer damit abfinden, von denen als Opfer zu reden. Schließlich haben die…aber Sie haben ja Recht: das hatten wir schon. Belassen wir es dabei, einverstanden.) Wie auch immer: Ich harre gelassen – und ein wenig neugierig, zugegeben – der kommenden Ereignisse. Auch schäme ich mich keineswegs, ein klitzekleines Bisschen Eitelkeit ob meiner mittlerweile überregionalen Bekanntheit zu verspüren. Und schließlich, Herr Kommissar – empfinden Sie nicht auch die Ironie im Angesicht dessen, dass ausgerechnet jemand wie ich zum Internet-Meme geworden ist, zum Darling der Nachrichten, Apps und sozialen Medien, zum YouTube-Influencer-Content-Hersteller und zum Hashtag auf Twitter & Co.?

2022
 

onivido

Mitglied
Sehr spannend und interessant geschrieben, obgleich mch persoenlich ein Klingelton wie "Sankt Ionen" eher zum Mord angestiftet haette.
 

onivido

Mitglied
Hallo Gerold, es tut mir leid. Die Bedeutung des Begriffs Sankt Ionen darf in Zusammenhang mit einer Mordfantasie auf keinen Fall in der Leselupe erklaert werden.
Ich bitte um Verstaendnis und Nachsicht.
Die Allerbesten Gruesse///Onivido
 



 
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