Königsmond

Levian

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Das Kind wimmerte leise im Dunkeln, und die Amme zog es näher an sich heran. Das Leder und die Felle raschelten leise, als die Amme versuchte, das Gesicht des Kindes aus dem nadelkalten Wind zu drehen und es tiefer in das braune Schafsfell zu wickeln. Ein wärmendes Feuer zu entfachen war nicht möglich, das würde ihre Entdeckung und sehr wahrscheinlich ihren Tod bedeuten.
Kyra hatte drei ihrer Männer dicht neben die Amme mit dem Kind gesetzt, um die beiden zu wärmen. Einer von ihnen murmelte unwillig im Schlaf bei der leichten Bewegung. Ein anderer Krieger, der mit seinen Kumpanen in einem weiten Kreis um die innere Gruppe herum saß, drehte den Kopf und blickte neidisch auf seinen schlafenden Kollegen.
Kyra betrachtete ihre Kämpfer, die sich in der letzten Nacht so gut geschlagen hatten. Die Erschöpfung war ihnen anzusehen; die meisten hatten notdürftige Verbände um Kopf, Arme oder Beine. Ihr selbst ging es nicht besser. Auch sie hatte zwei Nächte lang nicht geschlafen und in absoluter Stille mit flachem Atem und trockenen Augen die Dunkelheit abgesucht, mit den Ohren nach verdächtigen Geräuschen gelauscht.
Sie änderte nun ebenfalls ihre Sitzposition, und die Platten ihrer Rüstung rieben metallisch aneinander. Der tiefe Kratzer durch die Klaue eines der Angreifer schmerzte am Oberschenkel unter ihrem Plattenrock. Dank der Kräuterkünste der Amme hatte die Wunde bald aufgehört zu bluten, die wattierte Schürze unter ihrer Rüstung jedoch tiefrot gefärbt.

Hoffentlich würde sich die gestrige Nacht nicht wiederholen. Sie hatten Ulf und Siebold im Kampf verloren, von den scharfen Krallen der Walser aufgeschlitzt. Der kräftige Mantis, ein Baum von einem Kerl, war erst nach dem Kampf seinen Wunden erlegen, er hatte einfach zu viel Blut verloren.
Eine Rotte der brutalen Raubtiere war einige Stunden nach Sonnenuntergang nah an ihrem Lager vorbeigezogen und hatte die still kauernde Gruppe von Kriegern durch Zufall entdeckt.
Dieses langgezogene Tal zwischen steil aufragenden, zerklüfteten Bergkuppen war das Jagdgebiet der Walser. Diese übermannsgroßen Monster mit dem seltsamen Kranz aus fingerdicken, langen Hornspitzen um den Hals, jagten hier nachts die Hirsche, die tagsüber auf den saftigen Wiesen grasten.
Das Tal zog sich viele Kilometer schnurgerade direkt in Richtung des Palastes. Es zu durchqueren dauerte sechs Tage, drei harte Tage und zwei lange Nächte davon lagen bereits hinter ihnen.
Schwarze Berge zu beiden Seiten des Tals reichten hinauf in den grauen Himmel. Nachts, wenn der verborgene Mond die Wolken blass anstrahlte, sahen die Bergspitzen aus wie die abgebrochenen Zähne eines urzeitlichen Giganten.
Tagsüber lag das tiefe Tal überwiegend im Schatten, dann war das Klima sehr angenehm und sie kamen gut voran. Das hohe Gras und die überall verteilten Inseln aus harten Sträuchern und dicken Bäumen behinderten jedoch oft ihr Vorankommen. Wenn die Sonne gegen Mittag über den südlichen Bergkamm gekrochen kam, veränderte sich die Stimmung im Tal grundlegend. Dies dauerte an, bis sie auf der Nordseite endlich wieder hinter den Bergen verschwand.
Die Vögel verstummten zu dieser Tageszeit und suchten Schutz, es wurde stumm und drückend und die Luft begann zu flirren. Auch die Hirsche waren dann nicht mehr zu sehen, denn das Tal wurde unter der direkten Sonne heiß wie ein Ofen. Dann hatte es den Anschein, als würden die umstehenden Berge die Strahlen der Sonne auf seltsame Weise mit Absicht verstärken, um jeden zu bestrafen, der es gewagt hatte, das Tal zu betreten.
In den letzten drei Tagen hatte der Säugling dann immer angefangen kläglich zu weinen und sie hatten sich beeilt in den Schatten zu kommen. Dort wickelte die Amme das Kind, dem bisher noch kein Name verliehen worden war, aus den Fellen und Stoffen. Wenn es dann nackt und bleich auf einer Decke lag, das Königsmal auf der Brust deutlich sichtbar, rieb die Amme es mit kühlendem Wasser ein. Danach hatte es sich bisher immer beruhigt und die Amme konnte es zur Brust nehmen und stillen.
Im Schatten der Bäume konnten schließlich auch Kyra und ihre Männer endlich rasten, etwas essen und einige Stunden schlafen, denn die Walser jagten nur des Nachts. Im Licht des Tages verbargen sich die Ungeheuer in den tiefen dunklen Höhlen am Fuße der unheiligen Berge.

Der Angriff der Walser in der vergangenen Nacht kam nicht überraschend. Die Krieger waren wach geblieben und hatten sich um die Gruppe mit der Amme und dem Säugling herum im Gelände verteilt.
Die Monster haben keine Feinde, daher kündigten sie sich meist, wenn sie sich nicht gerade lautlos an eine Beute anschlichen, durch seltsam klickende Laute an. Einige der Kämpfer hatten ebendiese Laute gehört und die Rotte geortet, woraufhin sie sich mit geübten Bewegungen und stillen Handzeichen kampfbereit zusammenzogen.
Mit einigen knappen Gesten hatte Kyra fünf der stärksten und erfahrensten Krieger um die Amme mit dem Kind gruppiert, während die restlichen Männer in einigem Abstand mit gezogenen Schwertern auf den Angriff warteten.
Als die Raubtiere die geduckten Männer entdeckten, brach die Hölle los. Mit tiefen, kehligen Schreien stürzten sich die Ungeheuer auf die Männer. Selbst erfahrenen Kämpfern stockte das Blut in den Adern bei der Brutalität der Attacken dieser Bestien. Wenige hatten in der Vergangenheit solche Angriffe überlebt. Das war der Grund, warum niemand durch dieses Tal ging. Doch Kyra hatte für ihren Auftrag siebenundzwanzig der verbliebenen besten Krieger des Reiches an ihre Seite gestellt bekommen. Es gab keinen anderen Weg, den Krieg endlich zu beenden. Die Königin opferte den Großteil ihrer Garde für die Mission und ihre Tochter, als letzte Leibwache blieben ihr nur eine Handvoll. Sie setzte alles auf ihre beste Kriegerin, Kyra, ebenfalls ein Spross sehr alten Blutes.
Nach einer unendlich langen halben Stunde des Kampfes waren zwei von Kyras Männern tot, ein Weiterer lag im Sterben, viele waren verletzt und bluteten dunkel und stöhnend im fahlen Licht des schwachen Mondes. Aber sie hatten gesiegt! Zehn oder zwölf zerhackte Walser tränkten den zerwühlten Boden mit ihren stinkenden Innereien.
In einigem Abstand vom Schlachtfeld hatten Sie Ulf, Siebold und später Mantis die letzte Weihe zukommen lassen und sie bestattet, in voller Rüstung, mit den blutigen Schwertern auf ihrer Brust. Diese tapferen Männer waren nun Helden und würden von den Ahnen freudig begrüßt werden. Alle Anderen würden durchhalten müssen.


Ob sie einen weiteren solchen Angriff in dieser Nacht überstehen würden, war mehr als ungewiss. Kyra betete zur großen Mutter und versuchte Mut zu fassen. Diese Mission duldete kein Scheitern, das Kind musste rechtzeitig im Palast ankommen. Es war ein kleines Mädchen, der letzte Spross der alten Familie und die Hoffnung des Reiches. Kyras Gedanken waren nun ganz auf die Zukunft der kleinen Erbin gerichtet. Wenn sie lebend im Palast ankommt, wird sie in fünf Tagen, in der Nacht des Königsmondes, getauft werden und ihr Vermächtnis antreten. Der Mond, der nur alle 27 Jahre auf seiner höchsten Position steht, wird dann in voller Pracht erstrahlen. Seine drei silbernen Ringe werden glitzern wie juwelenbesetzte Kronen. Sobald das Licht des Himmelsgestirns durch das runde Fenster der großen Halle auf den Thron fällt, auf dem das Mädchen dann sitzen wird, ist das Bündnis mit den Göttern erneuert. Das Reich erhält einen neuen Namen und ein neues Zeitalter bricht an. Der Krieg wird schließlich enden, denn die Ordnung wäre wiederhergestellt, durch die ewige, strahlende Macht des Königsmondes.
Alle Hoffnung ruhte nun auf dieser kleinen Gruppe wagemutiger Menschen. Die Verantwortung erschien übermenschlich, doch Kyra würde ihr Leben geben, um dieser Bürde gerecht zu werden! Sie und ihre Mannen würden kämpfen bis zum letzten Atemzug und einen letzten Schwerthieb darüber hinaus!
Als die Dämmerung endlich hereinbrach, seufzte Kyra erleichtert. Sie hatten die dritte Nacht überlebt.
 
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