Koffeinhaltige Fischerreisen

TobiN

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„Nun sag schon, was soll es sein? Was hast du nach der Schule vor, welchen Job?“
Sie sagte es liebevoll, aber ihr Finger tippten ungeduldig auf dem Blau der Tischdecke herum.
„Ich...weiß noch nicht...“
„Was meinst du, du weißt noch nicht? Du bist bald raus, was soll aus dir werden?!“
Das Tippen wurde zu einem hohlen Klopfer auf die Tischplatte, der das Geschirr kurz zum Klimpern brachte.
„Das ist wegen deiner Erziehung, der Junge ist schwach, unentschlossen.“
Rau, dunkel und immer wieder Aufmerksamkeit an sich reißend, diese Stimme.
„Meine Erziehung?! Tja...irgendwer musste es ja tun. Du hast ja eher mit Abwesenheit geglänzt.“
„Oh ich bitte dich, muss ich mir das schon wieder anhören. Alles, was ich getan habe, war um diese Familie zu ernähren!“
„Ah natürlich, unser Retter. Das ist wieder mal typisch. Du kannst einfach nicht...“
Ihr Streitgespräch fing an langsam mit dem Hintergrund zu verschmelzen, wie es das immer tat, wie er es gewohnt war.
Jakob saß mit seinen Eltern am Tisch im Esszimmer.
Es war Kaffeezeit, heute mit Apfelstrudel. Nun war dieser leer und sie tranken nur noch Kaffee.
Der Kuchen war lecker, fruchtig und wohltuend, aber das Gespräch, was ihm entsprang, schmeckte fahl auf der Zunge und lag schwer im Magen.
Seine Innereien rumorten und der Kaffee spornte dies zuzüglich an. Sich durch ins Badezimmer zu gehen bemerkbar zu machen war allerdings keine Option.
Zurzeit stritten sie an ihm vorbei und über ihn hinweg. Es lag nicht in seinem Interesse an diesem Zustand etwas zu verändern, da es ihm zuweilen eine kurze Ruhe verschaffte.
Aus diesem Zustand der Apathie erwächst allerdings auch der Fakt, dass er diese Ruhe mit nicht allzu viel verbringen konnte.
Seine Optionen waren streng limitiert. Augenkontakt einzugehen war möglich, aber riskant. Deshalb richtete er seinen Blick einfach in die Kaffeetasse vor ihm, mit dem langen Silberlöffel darin.
Keine schlechte Tasse. Es waren Kaffeebohnen und weitere Tassen darauf.
Es waren kleinere auf Untertellern, wie die seiner Eltern.
Die seinige war nicht so, sie war lang nach oben gezogen. Wenn sie zwei tranken, trank er nur eine, das gefiel ihm. So war er eben: effizient, pragmatisch, mit dem Hang immer das meiste aus der vorhandenen Zeit zu machen.
Es begab sich nun also, dass er vor dieser braunen, warmen Flüssigkeit saß, dessen Höhe nur die Hälfte des Gefäßes zu erreichen vermochte, und die ihm vorhandene Zeit eben nicht vernünftig nutzen konnte.
Sonst bringt Kaffee so machen Morgen erst richtig in Schwung, hilft einem den Tag erst richtig zu nutzen, jetzt aber sorgte er nur für die letzte Zurückhaltung der absoluten Langeweile.
Um den letzten Teil noch zu halten, begann er mit dem Löffel kleine Wellen zu schlagen.
Erst Eine, vom Löffel ausgehen kreisförmig, bis zu den Außenkanten und dann zögernd verebbend.
Dann noch eine.
Noch eine.
Wieder eine.
Stopp.
Was jetzt? Ach was hatte er auch erwartet? Was sollte das bringen?
Noch eine.
Warte was? Er hatte den Löffel nicht angerührt, nicht einen Zentimeter verschoben.
Noch eine.
Was war da los? War eine Fliege da unten drin?
Jakob warf einen Blick hinauf, nur einen kurzen flüchtigen, aber sie stritten immer noch, ihre Stimmen unverändert ein nicht entzifferbares Rauschen im Hintergrund. Überraschung...
Also wieder zurück zu den Wellen. Ja da war tatsächlich etwas Kleines dort unten, was gerade aus den Untiefen empor stieg.
Eine Fliege? Nein. Irgendwie anders, größer, nicht in der Farbe eines Insektes.
Immer weiter an Millimetern gewinnend, kommt auf einmal eine ruckartige Bewegung auf.

An die Oberfläche angetrieben schwimmt es dort, ein...nein...doch...ein Segelboot.
Das Wort „unmöglich“ zischt innerhalb seines Kopfes von rechts nach links, von oben nach unten, aber wie oft er auch blinzelt, um der Realität wieder Platz zu verschaffen, es bleibt dennoch da unten.

Tatsächlich.
Zwei Masten, Segel gehisst, Holz so braun wie die Flüssigkeit die es treiben lässt.
Den skurrilen Anblick noch nicht ganz akzeptierend, versuchte es Jakob dennoch.
Die Augen zusammengekniffen, wollte er die Details des Eindringlings seines Getränkes ausmachen.
Auf dem Deck wuselten schwarze Punkte herum und soweit es seinen Augen möglich war dies festzustellen, handelte es sich dabei um Menschen. Sie vollführten ganz gewöhnliche, auf einem Schiff übliche Tätigkeiten. Taue wurden gestrafft, Richtungen korrigiert und es gab kleiner Gruppierungen, die wahrscheinlich angeregt plauderten.
Dennoch war der Anblick bizarr.
Zuerst dachte er, der Kahn hätte an der Seite eine Art Karomuster. Beim zweiten Blick stellte es sich aber heraus, dass es sich um einige Fischernetze handelte, die dort aufgerafft wurden.
Just in diesem Moment fährt eine neue Motivation durch die Mannschaft der Punkte. Alles wird hektischer. Die Segel werden eingeholt, es wird leicht nach links gelenkt und nach kurzer Zeit kommt es zum kompletten Stillstand.
Dieses Manöver erfolgreich ausgeführt, bewegt sich alles zu den Seiten hin, die Netze werden gelöst und in den Kaffee darunter eingetaucht.
Da ihm langsam die Realitätsfragen ausgegangen waren, gab er sich allmählich der Situation hin.
Dennoch konnten ihm die Leute da unten, seiner Meinung nach, nur leidtun. Wenn sie der Meinung waren sie könnten in seiner Tasse auf Fische stoßen, würden sie wohl bald auf eine bittere Enttäuschung treffen.
Es begab sich jedoch anders, als in der Umgebung der Netze viele kleine Bewegungen aufkamen, die unruhige winzige Wellen mit sich brachten.

Jakob hielt es für wahnwitzig, obwohl das zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr viel Bedeutung besaß, aber die Fischer holten die Netze wirklich nach kurzer Zeit prallgefüllt an Deck und leerten sie dort.
Die Miniaturen tüchtiger Männer hatten wohl auch mit weniger Ausbeute gerechnet, denn er sah sie auf und ab hüpfen.
Er würde diesen Kaffee, nach dem was er gesehen hatte, wohl nicht mehr trinken, also freute er sich mit. Immerhin konnten andere ihm noch etwas abgewinnen.
Langsam wuchsen sie ihm auch ans Herz. Es schienen ehrbare Leute zu sein, mit kleinen Familien, kleinen persönlichen Problemen, kleinen Leben.
In Ehrerbietung sich verlierend, bemerkte Jakob plötzlich eine weitere Maße aus seinem Kaffee steigen, auf der anderen Seite seines Silberlöffels.
Zuallererst dachte er, es könnte sich vielleicht um einen Wal handelt. So befand er sich doch anscheinend nun in einer Welt, in der die Romangeschichten nicht mehr allzu fantastisch wirkten.
Dem war aber nicht so.
Die Maße schien ein weiteres aufsteigendes Schiff zu werden.
Wie viele Fischer sind denn bitte da drin?!
Aber nein...irgendwas an diesem Schiff war anders. Er konzentrierte sich nun vollständig darauf um herauszufinden was dies war.
Dann fiel ihm das Stückchen schwarzen Stoffes auf, dass am höchsten Maßt hing.
Oh verdammt.
Während Jakob noch in einem Zustand der überraschten Paralyse verharrte, begann auch schon die erste Kanonenkugel geschwind quer hinüber zum Fischerboot zu fliegen.
Von dieser Änderung der Situation allem Anschein nach genauso überrascht wie er, war der Kapitän nicht mehr in der Lage einen Einschlag durch abdrehen oder ähnliches zu verhindern.
So schlug die Kugel in den Bug ein und brach einige Stücke heraus.
Die Mannschaft geriet in Panik und auch Jakobs Herz setzte einen Schlag aus.
Hatte er vorher nur als unbeteiligter Zuschauer gehandelt, war er sich nun sicher, dass er handeln musste.
Das für den Fang ausgerüstete Boot hatte, keinerlei Bewaffnung und würde solch einem Angriff ohne seine Hilfe nicht lange standhalten können.
Ein Entschluss musste gefasst werden, weshalb er in Ermangelung anderer Möglichkeiten den Stiel seines Löffels ergriff.
Die Kelle aus dem Kaffee erhebend, rief er sich die Bösartigkeit von Piraten ins Gedächtnis, um dann mit einer schnellen Bewegung ihr Schiff gegen den Rand seiner Tasse zu rammen.
Als er seinen Löffel wieder in die Position gebracht hatte, in der er vorher war, konnte er mitansehen wie die Bruchstücke des Piratenwracks wieder dem Gewässer zugeführt wurden, aus dem sie entstiegen waren.
Die Fischer, auf die er jetzt wieder seine komplette Aufmerksamkeit richtete, bewegten sich eine Zeit lang nicht vom Fleck.
Dann allerdings hatten sie ihre Rettung wohl verarbeitet und sprangen wie verrückt, freudig umher und auch Jakob war nun wieder beruhigt.
Zum Steuerrad hin blickend, an dem der vermeintliche Kapitän sich befand, hätte er schwören können dass dieser zu ihm aufblickte. Fast hätte er sich doch tatsächlich eingebildet, dass dieser ihm salutierte und auch wenn das unmöglich zu sehen wäre, gab es ihm doch ein wohliges Gefühl.
„Was sagst du denn dazu?!“
Jakob blickte von seiner Kaffeetasse auf, seine Mutter hatte ihn angesprochen.
„Ehm...was?“
„Na was du nach der Schule jetzt bald machen willst! Meine Güte, Junge davon reden wir doch die ganze Zeit.“
Er richtete seinen Blick wieder zurück in die Tasse, doch das Schiff war nun verschwunden, weshalb er sich wohl der Realität zuwenden musste.
Jakob brachte den Kopf in die Gerade, sah seine Eltern so ernst an, wie er es schon lange nicht getan hatte und sagte das, was ihm einzig richtig erschien:
„Ich glaube, ich will Fischer werden. Ob das was wird? Keine Ahnung, aber wenn man sich nicht hin und wieder seinen Träumen hingeben darf, was bleibt dann überhaupt noch.“
 



 
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