KONTAKTE - Dreißig

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Die "Sozialisierung" Marikas machte gute Fortschritte. Damian hatte sie bereits mit einem guten Teil der Palette kultureller Angebote bekannt gemacht.
Diesmal führte sie der Plan für die abendlichen Lustbarkeiten in ein Konzert. Wobei der Begriff "Konzert" das Ereignis nicht unbedingt erschöpfend charakterisierte. Vielmehr hatte sich Damian natürlich wieder eine ... alternative Veranstaltung ausgewählt.
Es handelte sich um die Uraufführung des Impressions "Die Eroberung des Universums", von dem aufstrebenden Apperzeptionisten David Goliath geschaffen, der schon mit seinem Impressions - Opus "Unterwelt" Furore gemacht hatte.

"Was ist das eigentlich, zu dem du mich hier hinschleppst?", wollte Marika wissen, die noch immer ein wenig fassungslos darüber war, dass er sie aufgefordert hatte, möglichst ältere Kleidung zu tragen und auf Schmuck zu verzichten.
Damian zwinkerte ihr vielsagend zu und erklärte: "Ein Ereignis, bei dem du später einmal stolz sein wirst, sagen zu können, dass du dabei warst." Er pausierte kurz, ehe er hinzufügte: "... und es ertragen hast."
"Nun sei doch nicht so!", bat sie, "Erzähle mir davon! Lass mich nicht einfach blind in ... die Kultur hinein rennen!"
Er kicherte. "Wenn du von David Goliath noch nichts gehört hast, dann darf ich das keinesfalls tun", erklärte er. "Man muss seine erste Begegnung mit seinen Werken unbelastet absolvieren, erst dann kann man seine Leistung wirklich schätzen."
Marika gab auf. Sie glaubte nicht, dass sie ihrem Begleiter noch irgendein Detail würde entlocken können. Sie ging schweigend an seiner Hand, nur gelegentlich den ständig herab rutschenden Gurt ihrer Tasche wieder auf die Schulter schiebend.

Der Aufführungsort war atemberaubend. Man hatte ihn extra für die Werke der boomenden Menge von Apperzeptionisten entworfen und erbaut. Hier gab es weder eine Bühne, noch irgendwelche erkennbaren Wiedergabeeinrichtungen. Dafür standen die Sitze ... Halt! Auch diese hatten nichts mit der Bestuhlung eines Konzertsaales zu tun, sondern erinnerten eher an die massiven Sessel, die es in altertümlichen Raketenkapseln gegeben hatte.
Mit wachsender Spannung betrachtete Marika die Umgebung. Was sollte das werden? Sie ließ sich von Damian zu ihrem Platz führen und setzte sich nieder. "Bitte anschnallen!", quäkte eine dissonante Roboterstimme, "Sie finden zur Linken den Visor, zur Rechten die Hörer."
Sie gurtete sich an und platzierte die Rezeptionsgeräte auf und an ihrem Kopf.

Der Visor lieferte ein dreidimensionales Bild des Zuschauerraumes - wenn man es so nennen wollte ... Neben der fest an den Stuhl gezurrten Marika ruhte Damian in seinem Sitz, ebenso präpariert wie sie selbst.
Sie streckte den Arm aus und versuchte, ihn zu berühren, aber die Entfernung war zu groß.
"Damian!", rief sie.
Er wandte sich ihr zu und grinste. "Gleich geht es los. Mach dich auf alles gefasst! - auf alles ..."

Mit einem Mal umfing sie Schwärze. Sie glaubte zu spüren, wie eine Glocke über ihren Sitz gestülpt und Kontakte an ihrem Körper angebracht wurden. Eine kleine Panik begann, ihr Rückgrat zu erklimmen ...
Das Gesichtsfeld erhellte sich wieder. Sie sah das Innere einer winzigen Raumkapsel. Der Sessel klappte nach hinten, verharrte in Liegestellung.
Eine dumpf verzerrte Lautsprecherstimme zählte: "... , Fünf, Vier, Drei, Zwei, Eins, Blastoff!"

Im nächsten Moment senkte sich ein tonnenschweres Gewicht auf den ganzen Körper. Marika hatte das Gefühl, man wolle alle internen Flüssigkeiten zur Diffusion durch die Haut bewegen. Sie versuchte zu atmen, brachte aber, auch unter größter Anstrengung, nur ein hastiges Schnappen zustande. Der Andruck verformte die Augäpfel, sodass sie nur noch undeutliche Schemen wahrnahm.
Gerade als sie meinte, sie müsse im nächsten Augenblick auseinander brechen, verschwand das Riesengewicht und ihr Stuhl nahm wieder normale Sitzposition ein. Die Raumkapsel löste sich auf und sie schwebte frei im All.
Doch auch das war keine Erlösung, denn nun sank die Temperatur rasant. Winzige Mikrometeore bohrten sich schmerzhaft in die ungeschützte Haut, auf der sich bereits eine Reifschicht gebildet hatte.
Alles in ihrem Körper schrie, nach Licht, nach Sicherheit, nach Wärme, ...
In ihren Ohren erklang eine getragene Melodie, die sich gegen die massiven Akkordflächen des Hintergrundes zu behaupten suchte.

Sie schoss durch die Finsternis, auf die Sonne zu. Deren Flammenmeer taute bald den Körper frei und begann, ihn zu rösten. Die Hitze wurde immer unerträglicher, während sich die Bewegung verlangsamte und sie auf der Venus ankam. Eine wilde Melodie begleitete den Feuertanz auf der Planetenoberfläche. Das Atmen wurde schwer, denn die Atmosphäre bestand aus Schwefelsäuredämpfen, die sich heiß brodelnd in ihre Lungen fraßen. Der Schrei, der sich ihrer Kehle entrang, verkam zu einem dumpfen Röcheln.

Doch da war die Qual auch schon beendet. Sie fühlte, wie sich ihr Körper wieder in den Weltraum erhob.
Die Planeten rasten an ihr vorbei, sie passierte, erneut halb gefroren, die Stationen des Sonnensystems, die ihr ihre ganz persönlichen Klänge entgegen warfen - und schwebte hinaus, in die Weiten des freien Raumes. Nun begann die Erkundung interstellarer Gebiete. Sie begegnete Nebeln, Gaswolken, weißen Zwergen, roten Riesen, gefrorenen Zwergplaneten und gigantischen gasförmigen Himmelskörpern.

Ihr Körper wurde gezerrt, komprimiert, gefroren, gebrannt, tauchte in Ozeane aus flüssigem Helium ein, schrammte an Gebirgen aus totem Gestein entlang. Sie lernte, sich wie ein Asteroid zu fühlen, wie ein Gasnebel und - am Ende - wie ein Komet. Länger und länger wurde der Schweif, den ihr Körper hinter sich her zog.
Erst im letzten Augenblick sah sie das winzige schwarze Loch, in das sie ungebremst hinein raste. Sie wurde gleichzeitig zusammengepresst und auseinander gerissen. Die Musik verlor sich im Chaos farbigen Rauschens, gelegentlich unterbrochen von Reminiszenzen des bisher Gehörten.
Dann war alles schwarz - und weiß - in so schnellem Wechsel, dass sie gleichzeitig die Helligkeitsextreme und das resultierende Graugemisch wahrzunehmen glaubte.

Die Eindrücke brachen ab. Schwärze und Stille umgaben sie, deren Körper sich wie eine breiige Emulsion anfühlte. Die Kontakte lösten sich und sie spürte, wie sich die Glocke, die sie hermetisch vom Umfeld abgeschirmt hatte, verschwand. Angenehme Kühle umgab sie.
Sie glaubte, nun sei alles vorbei. Doch da erhob sich aus dem Nichts eine winzige Melodie, gewann an Kraft und Fülle ...
In weiter Ferne erschien das Bild ... der Erde. Eine zweite verhaltene Flötenmelodie tröpfelte aus den Kopfhörern.
Tränen liefen Marika über die Wangen. Ein befreites Schluchzen schüttelte den maltraitierten Körper. "Dort hin! Nach Hause!" - das war alles, was ihre Existenz ausmachte.

Das Bild des Planeten wuchs, füllte bald ihr Gesichtsfeld. Sie schien in die Atmosphäre einzutauchen, umrundete in kühnem Flug die Welt ...
Endlich! Sie landete sanft auf einer weiten, grünen Wiese. Die Sonne schien und der Wind mischte sich mit Flötenklang und einem tiefen Basston.

Sie war daheim!

"Bitte entfernen sie Hörer und Visor! Platzieren sie die Geräte zur Linken und zur Rechten. Wenn sie sich in der Lage fühlen, können sie aufstehen, andernfalls ruhen sie bitte noch ein paar Minuten aus! Wir hoffen, dass ihr Erlebnis beeindruckend war. Auf Wiedersehen!"

Erst im fünften Anlauf gelang es Marika, sich aus dem Stuhl zu erheben. Natürlich hatte ihr Körper keine der gefühlten Misshandlungen erlitten, dennoch war es, als besäße sie gerade noch so viel Kraft, dass sie zu Damian wanken und ihm in die Arme sinken konnte.
"Nun, habe ich zu viel versprochen?", schnaufte er, der sich ebenfalls nur mühsam auf den Beinen hielt.
"Du hattest ... nichts ... versprochen", brachte sie mühsam hervor, "Und das ... war ... gut so. Darauf hätte mich ... nichts ... vorbereiten können."
"Lass uns duschen!" Er löste sich vorsichtig aus ihrer Umklammerung und übergab sie einer Service - Androidin, die sie zu den Duschräumen geleitete.

Erst eine knappe Stunde später trafen sie sich - wiederbelebt - aufs Neue, beide in ein oberschenkellanges "Kleid" gehüllt, auf dem vorn zu lesen war:
"David Goliath:
*Die Eroberung des Universums*"
und hinten stand:
"I survived the world premiere!"
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Steffen,

das ist krass. Und das übersteigt alle Vorstellungskraft. Du hast das Unglaubliche in Worte gefasst. Physisch haben sie keine Blessuren erlitten, und doch sind sie völlig matt und nicht in der Lage, sich normal zu bewegen. Krass.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

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Hallo Rainer,

leider ist die Antwort auf Deinen Kommentar allem Anschein nach nicht im System angekommen, daher noch ein Versuch:
Ich gestehe, dass mich Sergej Snegows "Menschen wie Götter" zu dem Kapitel inspiriert hat. Dort gibt es etwas sehr ähnliches.

Eigentlich ist die Idee ja gar nicht so fernliegend, denn in den Illusoren geschieht ja etwas gleichartiges, nur eben für das Individuum, statt für ein ganzes Auditorium und interaktiv, statt als reine "Aufführung" ohne Möglichkeit zur Einflussnahme.

Ich freue mich aber, dass Dich das Kapitel scheinbar ebenso gepackt hat, wie Marika ;o)

Beste Grüße,
Steffen
 
Hallo Steffen,

ich hatte auch das Gefühl, dass da von vorgestern Abend bis zum nächsten Morgen um halb zehn gar nichts angekommen war. Dass da absolut nichts passiert war, konnte ich mir zumindest nicht vorstellen. Vielleicht hat ja auch die LL mal Wartungsarbeiten.
Aber jetzt zu Deinem Thema: ich glaube, ich würde sowas nicht machen, ich fahre ja nicht mal Achterbahn. Spannend ist es natürlich trotzdem.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Aufschreiber

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Ich wäre auch nicht der Mensch, den das verlockte. Insofern war es sicher auch ein bisschen ein Hazardspiel von Damian. Was, wenn Marika eher von "unserem" Schlage wäre?
Also, ICH wäre sehr zornig, wenn man mich mit sowas überraschte.

Beste Grüße,
Steffen.
 



 
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