Liselotte Kranich
Mitglied
Kriegsopfer 2.0
If you’re going through hell, keep going.
Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.
(Winston Churchill)
Nastja war ein echter „Zwilling“ mit ihrem Bedürfnis nach regelmäßiger Abwechslung und permanenter Suche nach etwas Neuem. Doch entgegen diesen Regeln durchbohrte seit einer geraumen Zeit der kritische Blick von Winston Churchill Nastja vom Bildschirm ihres Laptops. Egal wie umstritten seine Persönlichkeit ist, hatte der zweifache Premierminister Großbritanniens einst aus Nastjas Sicht das Richtige gesagt: „Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.“
Nastja geriet in die richtige Hölle am 24. Februar 2022 und konnte drei Jahre später im Sommer 2025 leider immer noch kein Entkommen sehen. Es ist inzwischen viel geschehen. Leider wenig bis nichts Optimistisches. Der Krieg in ihrer Heimat, in der Ukraine wütete weiter. Alle Bemühungen des mitfühlenden Teils der Welt brachten viel, jedoch für den Sieg über das Böse war viel nicht genug.
Nastjas Schwager Taras war in die ukrainische Armee eingezogen worden, ging an die Front und wurde kurz danach unglücklicherweise als vermisst gemeldet. Seine Frau, Nastjas Schwester Ina, lebte seit über einem Jahr untröstlich in Ungewissheit. Inas alte, kranke Schwiegermutter starb inzwischen. Ihr Schwager Roman, der Bruder ihres verschollenen Mannes, befand sich mit seiner Familie schon lange im Besatzungsgebiet des russischen Aggressors. Von ihm war leider Gottes keine Hilfe zu erwarten. Sowohl aus objektiven als auch aus subjektiven Gründen. Roman wusste sich nicht besser zu helfen, als seinen Kummer in der Flasche zu ertränken.
Ina stellte die leerstehende Wohnung der verstorbenen Schwiegermutter einer Familie von den ukrainischen Inlandsflüchtlingen zur Verfügung. Ihre Heimatstadt Schostka im Gebiet Sumy im Nordosten der Ukraine war im Sommer 2025 leider nicht mehr sicher. Die unmittelbare Nähe zu der russischen Grenze, etwa 60 km, war von Tag zu Tag immer mehr zu spüren. Ina und Nastja bangten um ihren 83-jährigen Vater. Die blutigen Bilder von Butscha und Irpen standen drei Jahre später immer noch unverblasst den beiden Schwester vor den Augen und riefen bei ihnen panische Angst hervor.
Am letzten Maiwochenende kam die Ukraine und insbesondere ihre Hauptstadt Kyjiw vor lauter Attacken russischer Raketen, Shahed-Drohnen und wie auch immer die Zerstörungskörper hießen, schon drei Nächte nicht zur Ruhe. Kyjiw brannte lichterloh. Und das während und gleich nach den sogenannten Friedensverhandlungen in der Türkei. Nastja verstand die Welt nicht mehr. Es war offensichtlich, dass der Russe keinen Frieden wollte. Er konnte sich einfach ganz banal keinen Frieden erlauben. Nicht nur seines Rufes als Allermächtiger wegen - seine Fantasien vom großrussischen Reich und sein Weltmachtbestreben waren bekannt - sondern auch, weil die Kriegsindustrie mittlerweile die einzige Branche war, die die Wirtschaft des Aggressorlandes über Wasser hielt. Er setzte außer Frage auf die von ihm besetzten ukrainischen Industriegebiete. Dass diese Gebiete ihm zustünden, war seine feste Überzeugung. Ganz zu schweigen von der Halbinsel Krim.
Die weiteren Nachbarstaaten Russlands machten sich Sorgen, dass der Appetit von Putin nicht einmal mit der gesamten Ukraine gestillt wäre. „Und das ganz zu Recht“, meinte Nastja neulich im Gespräch mit ihrer Schwester. „Sollte es ihm gelingen, die Ukraine zu besiegen, würde er weitergehen.“
Der Putin-Liebling, Kreml-Propagandist und Oberhetzer Solowjow, explodierte am 26. Mai des laufenden Jahres im russischen Fernsehen wegen des seitens der Ukraine und Europas geforderten Waffenstillstandes. „Habt ihr das gehört?“, erzählte Nastja sehr emotional ihrer Schwester Ina weiter. „Er will den Tod von Ukrainern und Europäern! Und das öffentlich, ganz offiziell im russischen Fernsehen! Es ist höchste Zeit, endlich mal zu glauben, was die Russen sagen! Bis jetzt haben sie alles, was sie irgendwann mal angekündigt hatten, auch tatsächlich getan.“
Zum tiefsten Bedauern von Nastja glaubten die naiven, deutschen Pazifisten das Gegenteil. Sie schätzten die von Europa angestrebte Aufrüstung nicht als notgedrungene Abschreckung für den Aggressor Putin ein. Sie waren empört, dass die NATO den Krieg mit Russland angeblich herbeiführt. „Er versteht doch nur die Stärke als Abschreckung“, meinte Nastjas Neffe Max, der auch zum Gespräch der beiden Schwester stieß. Das war so klar wie ein heller Tag. Jedoch leider nicht allen. Nastja und ihre Verwandten konnten sich nur an den Kopf fassen.
Nastja kam es so vor, als hätten diejenigen, die an diesen Blödsinn glaubten, seit der Corona-Zeit ihre Alu-Hüte noch nicht wieder abgesetzt. Nastja und ihr Mann hatten sich vor kurzem eine Kreuzfahrt gegönnt. An einem schönen Morgen unterhielten sie sich mit einem Ehepaar am Frühstückstisch. Plötzlich sagte die Frau zu Nastja: „Schauen Sie mal, eine Frau aus dem All ist an Bord.“ Nastja war diese ‚Alien-Frau‘ mit einer Alu-Mütze auch schon begegnet. Von ihrer Sorte gab es mindestens zwei an Bord. Die zweite ‚Alien-Frau‘ trug an dem Tag einen langen Alu-Mantel. Es war klar, dass solche Kleidung, einer Rettungsdecke ähnlich, an Deck eines Kreuzfahrtschiffes auf der nördlichen Route sogar funktional richtig sein mochte. Eine Rettungsdecke gehörte sachgemäß mit der silbernen Seite an den Körper des Opfers, um die Wärmestrahlung des Körpers zu reflektieren. Das war aber auch der Punkt. Die Alu-Hüte mussten Nastjas Erachtens dringendst von den betroffenen Köpfen runter. Die Köpfe kochten schon von der übermäßigen Wärme.
„Nun gut“, fuhr Nastja im Gespräch mit ihrer Schwester fort. „Der mögliche Krieg gegen Europa ist zunächst nur in Putins Zukunftsplänen, obwohl Russland schon lange einen hybriden Krieg gegen Europa führt. Die Spuren der Terror- und Sabotageakte führen in der letzten Zeit überwiegend nach Russland.“
„Ganz genau.“ Nastjas Neffe Max war derselben Meinung. „Jetzt wäre es an der Zeit, den aktuellen Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Das liegt allein in Putins Macht.“
„Die Ukraine kann nicht aufhören, sich zu verteidigen“, fügte Ina hinzu. „Das wäre das Ende ihrer Existenz. Uns bleibt nichts übrig als weiter zu kämpfen. Die Menschen sind jedoch bereits extrem kriegsmüde.“
Die nächtlichen Angriffe erschöpften und raubten den Menschen den letzten Nerv und die letzte Kraft. Ina erinnerte sich: „Als ich letzten Monat bei unserem Vater zu Besuch war, verbrachten wir beide die Nacht angespannt im Flur sitzend. Ich habe 24 Explosionen gezählt. Am nächsten Tag reiste ich nach Kyjiw ab. Die zweite Nacht verbrachte der Vater schon allein im Korridor seiner Wohnung.“
Nach zwei, drei Nächten ohne Schlaf kippt ein Mensch vor Müdigkeit um. Man fällt letztendlich in einen tiefen Schlaf, und keine Sirene kann laut genug sein, um Menschen aus diesem Schlaf zu reißen. Doch zur Arbeit musste man auch gehen. Die Kriegsregelung der Arbeitsverhältnisse sah eine sechstägige Arbeitswoche und keine Feiertage vor.
Die quälende Ungewissheit über das Schicksal der Soldaten an der Front trug noch mehr zur Erschöpfung der Zurückgebliebenen bei. Jede Familie war mittlerweile betroffen. Die Friedhöfe breiteten sich flächendeckend schnell aus. Die Überlebenden kamen überwiegend behindert von der Front zurück. Viele Soldaten waren seit mehreren Monaten verschollen.
Im Sommer 2023 hatte Nastja für den Mann ihrer Schwester Taras ein Bild gemalt. Als Motiv wünschte er sich zu seinem 50. Geburtstag eine brennende Kerze. Die Kerze blieb seit fast zwei Jahren ungeschenkt. Von Taras gab es keine Spur und keine Nachricht. Einfach nichts. Er wurde nach seinem runden Geburtstag eingezogen und verschwand drei Monate später von der Bildfläche.
„Ina, lass uns weiter warten und an ein Wunder glauben. Wir haben weder seinen Leichnam noch eine Sterbeurkunde gesehen. Lass uns die Hoffnung nicht aufgeben“, versuchte Nastja ihre Schwester und vor allem sich selbst zu beruhigen. „Viele sind in Russland in Gefangenschaft.“ Der Gedanke an eine mögliche Gefangenschaft spendete den Schwestern wenig Trost. Ina sprach es aus: „Es herrscht die Meinung, dass der Tod besser als die russische Gefangenschaft wäre.“
Die Gefangenen von beiden Seiten wurden immer mal wieder ausgetauscht. Das Herz riss in Stücke beim Anblick der Heimkehrenden. Die Menschen waren ausgehungert, physisch und moralisch zerstört. Beide Schwestern suchten jedes Mal gierig und mit viel Hoffnung auf den Bildern das vertraute Gesicht und wurden bis jetzt jedes Mal enttäuscht. Sie wussten nach wie vor nicht, ob Taras ein Jahr älter geworden war. Nastja wünschte sich brennend, ihr Geschenk – das Bild mit der besagten Kerze – loszuwerden, bekam jedoch keine Chance.
Es klingelte an der Tür. Das wird bestimmt Jana sein, dachte Nastja. Jana war eine der beiden jungen Frauen aus der Nachbarschaft. Sie wollte Nastja etwas vom grünen Salat von ihrer Mutter bringen. Ihre Mutter hatte im Moment mehr als genug davon. Nastja wusste noch, wie sie früher ihre Ernte aus dem Garten in der Nachbarschaft verteilte.
Kluge Köpfe empfahlen die Aussaat in mehreren Etappen, zum Beispiel im Zwei-Wochen-Takt. So konnte das Gemüse nach und nach heranwachsen. Diese perfekte Theorie wurde selten von den Hobbygärtnern in die Praxis umgesetzt. Auch von Janas Mutter nicht. Und so freute sich Nastja schon auf eine Riesenschüssel mit frischem grünem Salat zum Abendbrot.
Ihre beiden Nachbarinnen lebten schon lange zusammen und beabsichtigten, diesen Sommer zu heiraten. „Wie einfach haben es alle Nichteinfachen heutzutage“, dachte Nastja. Das war nicht immer so und könnte in Verbindung mit dem aktuell steigenden Sympathisieren der Bevölkerung der rechten Strömung in der Politik wieder schnell auf der Kippe stehen. Die Vorsitzende der rechtsradikalen Partei in Deutschland war zwar selbst lesbisch, konnte jedoch sicherlich keine Garantie des unbesorgten Lebens für die Gleichgesinnten im Fall des möglichen Wechsels zu einer Diktatur sein. Nastja selbst würde das nicht testen wollen.
Sie erinnerte sich an ein schon etwas älteres Gespräch mit ihrem früheren Kollegen Martin. Es ging um einen Ukrainer aus seinem Bekanntenkreis, der mit seiner Mutter und Schwester bereits vor mehreren Jahren aus Charkiw nach Deutschland gekommen war und so alle Vorteile eines demokratischen Sozialstaates schon lange genug genießen konnte.
Martin sprach emotional aus dem Herzen: „Ich weiß, wie extrem beengt und schlecht sie in Charkiw damals gelebt haben. Es waren unwürdige Bedingungen. Wenn ich ihn heute reden höre, dass Deutschland kein demokratisch geführter Staat sei, dass wir die Ukrainer als Kanonenfutter benutzen, tut mir das weh. Er sagt, dass wir den Russen nicht richtig zuhören und ihre Interessen missachten würden. Unsere Solidarität mit der Ukraine nennt er heuchlerisch. Wir im Westen hätten von Demokratie keine Ahnung und wären auf Russland eifersüchtig. Das sagt auch noch ein Schwuler, der seinerzeit genug Schikanen erlebt hatte.“ Martin fand seine Worte widerlich und war fassungslos.
Wie geschickt wickelte die russische Propaganda verschiedene Schichten der Gesellschaft um den Finger. Hier war der Russe Weltmeister. Er führte die blinden Karnickel an der Nase zum Abgrund. Schrecklich! „Wie naiv konnte man nur sein?“, fragte sich Nastja. Es gab auch optimistische Meinungen aus dem Gegenlager, dass eine echte Demokratie das verkraften könnte. Nastja wollte daran glauben.
Die jüngsten Entwicklungen in der Welt bekräftigten Nastjas Optimismus mit jedem Tag immer weniger. Demokratie war leider nicht mehr in. In Italien waren schon die Rechten an der Macht. Ungarn und die Slowakei sympathisierten mit Putins Russland und schienen mittlerweile die Europäische Union zerstören zu wollen. Nastja und ihr Mann bereisten vor Kurzem Ungarn von West nach Ost und mussten während ihrer Reise andauernd staunen. Die ungarischen Dörfer, besonders im östlichen Teil des Landes, waren sehr storchenfreundlich. In manchen Dörfern wurde, wenn nicht auf jedem, dann auf jedem zweiten Strommast extra ein Ring angebracht, worauf Störche ganz bequem ihr Nest bauen konnten. Nastja und ihr Mann waren davon sehr angetan. Die Autobahn war neu und offensichtlich teuer. Die restlichen Straßen waren alt und in einem beklagenswerten Zustand. Das war eine eher unangenehme Überraschung. Auf Schritt und Tritt gab es Anti-EU-Plakate mit einem entschiedenen Text: „Wir lassen über uns nicht entscheiden.“ Diese Tatsache war für die beiden sehr enttäuschend.
Sogar die älteste Demokratie der Welt platzte in Amerika aus allen Nähten. Der neue Präsident war ein erfahrener Geschäftsmann. Und so regierte er auch. Während des Wahlkampfes versprach er, Amerika wieder großzumachen. Er bemühte sich mit Nachdruck, sein Versprechen einzuhalten, ging jedoch dabei aus Nastjas Sicht über Leichen.
Nastja machte sich langsam Sorgen um ihren Landsmann und Kumpel Artem. Die Ausländer waren in Amerika aktuell eher unbeliebt. Auf Nastjas Nachfrage, wie es ihm und seiner Familie in Amerika erginge, berichtete er per WhatsApp: „Das ist Wahnsinn, was hier vor sich geht. Ein idiotisches Bacchanal pur. Man hat finanzielle Verluste und lebt mit der ständigen Angst, seinen Job zu verlieren.“ Artem war alles anderes als begeistert.
Die Intelligenz floss langsam aus den USA ab. Die Prominenz flüchtete ins Ausland. Viele gingen nach Kanada. „Diejenigen, für die die Flucht aktuell keine Option darstellte, kämpften,“ so Artem, „gegen den Bolschewismus, leider ohne große Erfolge zu erzielen.“
Die ganze Welt schien kopfzustehen. Die ganze Welt schien im Krieg zu sein. Die einen hatten es mit einem äußeren Aggressor zu tun. Die anderen mussten gegen die eigenen, inneren „Windmühlen“ kämpfen.
Es gab noch ein Versprechen des neuen amerikanischen Präsidenten. Er wollte nach seinem Amtseintritt als Erstes den Krieg in der Ukraine innerhalb von vierundzwanzig Stunden beenden. Dabei ging er wie ein Holzfäller zu Werke. Er führte den ukrainischen Präsidenten wie einen Schuljungen vor. Er ließ sich von Putin an der Nase herumführen und ganz banal übers Ohr hauen. Nastja stellte sich wieder diese Frage aller Fragen: „Wie naiv kann man nur sein?“ Sie griff zu ihrem Smartphone. Es gab eine Meldung im aktuellen Status eines Bekannten. Auf dem Bild war die Jerry-Maus mit einer Gedankenblase: „Ich bin heut‘ so blöd. Ich könnt Amerika regieren!“ Nastja fühlte sich erleichtert. Sie war nicht alleine.
Das einzig Positive an der ganzen Geschichte kristallisierte sich langsam heraus. Viele begriffen, dass auf Amerika kein Verlass mehr war, und begannen, selbständig zu denken und zu handeln. Der neue, deutsche Bundeskanzler überraschte immer mehr mit seinen Vorhaben. Die Ukraine durfte endlich Waffen mit einer beachtlichen Reichweite bekommen. Nastja hatte vor ihren Augen ein Video, das schon länger im Internet kursierte: Putin rannte mit einer Aktentasche über den Roten Platz in Moskau. Hinter ihm stand der Kreml in Flammen. Das wäre eine Genugtuung für Nastja. Sie hätte sich gewünscht, dass etwas dieser Art am Tag der Siegesparade in Moskau passiert wäre. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Putin hat nichts Besseres verdient. Alle Drohungen vonseiten Russlands in so einem Fall in der Ukraine die Hölle auf Erden zu veranstalten, beeindruckten Nastja nicht mehr. Es war schon die Hölle los in der Ukraine. Und es gab kein Richtig oder Falsch in den Handlungen seitens der Ukraine. Die russischen Angriffe intensivierten sich immer mehr.
Nastja musste wieder an die Worte des Kreml-Oberhetzers Solowjow denken. Dass er mit den Chachly* nichts zu verhandeln hätte und sich nur deren Tod wünschte. „Wir sind anders“, meinte er. In diesem Punkt hatte er recht. Die einstigen „Brudervölker“ unterschieden sich grundsätzlich. Nastja hat das auch schon nicht nur einmal behauptet. Mit einem einzigen Unterschied – sie hat aus diesem Grund den Russen keinen Tod gewünscht. Wenn die Ukrainer so gehasst wurden, wozu wurden sie „heim ins Reich“ gezwungen? War die ganze Aktion die Unmengen an Opfern von beiden Seiten wert? War es krank? Oder war es krank? Wann finge das russische „Plankton“ endlich an, mal auch diese Frage zu stellen?
Nastja hatte das „Glück“, in der Verwandtschaft von der Seite ihres Mannes auch Russen „genießen zu dürfen“. Die Frau des Cousins von Nastjas Mann behauptete von Anfang an, dass Ukrainer im Unrecht wären und überhaupt keine Ahnung von der korrekten Weltordnung und Völkersubordination hätten. Das war kaum zu ertragen. Nastjas Mann hat den Kontakt zu seiner Verwandtschaft abgebrochen. Sie haben den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine nie verurteilt. Auf Nastjas Nachfrage gleich nach dem Kriegsbeginn kam aus diesem „Familienflügel“ ein sparsames: „Auch wir wollen Frieden.“ Der Preis dafür konnte drei Jahre später immer noch nicht endgültig errechnet werden. Nastja wurde es schwindelig, wenn sie daran denken musste.
Hoffentlich konnte sie es irgendwann mal wiedergutmachen, dass der russische Opa wegen des Krieges zu der Einschulung seiner deutschen Enkelin nicht kommen durfte. Schließlich hatten sie es auch nicht leicht. Nastja verspürte kein Mitleid und schämte sich nicht dafür. Na sowas!
Der Mensch als solcher ist schon ein komisches Geschöpf Gottes oder auch des Teufels. Dessen war sich Nastja noch nicht sicher. Sie konnte die letzten zehn Jahre ein Erlebnis nicht vergessen, als sie beruflich in Moskau auf einer Ausstellung war. Die überwiegend zurückhaltende, sachliche Stimmung durchbrach ein Kollege weißrussischer Herkunft. Irgendwie hatte er das Bedürfnis, sich als zugezogener Russe Nastja gegenüber zu behaupten, indem er pathetisch ausrief: „Die Krim gehört uns!“
Warum war es ihm so verdammt wichtig? Ging es ihm persönlich dadurch besser? Welche Vorteile hatten er und seine Familie davon? War der Urlaub auf der Krim sein größter Wunsch? Oder war es nur wichtig, auf etwas stolz zu sein? Es wurde wohl im Fernsehen gesagt, dass sie jetzt die „Größten“ sind und dass sie jetzt darauf stolz sein müssen? Hat er sich irgendwann mal gefragt, ob das Ziel die Mittel wert war? Bestimmt. Auf diese Frage hat er sicherlich auch eine positive Antwort im verlogenen, russischen Fernsehen bekommen. Die Kunst der Verdummbeutelung beherrschte das putinsche Regime perfekt. Das funktionierte einwandfrei, sowohl in Russland als auch außerhalb. Mittels stetiger, innerer Zersetzung der Gesellschaft nahm sein Einfluss in vielen Ländern besorgniserregend zu.
Nastja war von Natur aus ein sehr toleranter Mensch. In missverständlichen Situationen suchte sie den Fehler zuerst bei sich und hatte viel Verständnis für menschliches Fehlverhalten. Ihr Mann ärgerte sich oft darüber, dass seine Frau nicht ihm den Rücken deckte, sondern allzu oft die anderen verteidigte. Nastja musste aber nach drei Kriegsjahren feststellen, dass ihre Toleranz doch nicht unendlich war. Die Bilder der Gewalt des Aggressors, der Zerstörung in ihrem Heimatland und der Zynismus der Rhetorik der Russen und ihrer Lakaien riefen in ihr Wut hervor. Sie wusste ganz genau, dass sie bis an ihr Lebensende dem „Brudervolk“ das ganze Unrecht nicht vergessen wird. Sie überließ das den nach ihr kommenden Generationen. Hass war nicht gut. Nastja konnte sich aber von dem ihr gewöhnlich fremden Gefühl leider, zumindest gegenwärtig, nicht befreien.
In diesem Moment meldete sich der zweite, innere „Zwilling“‘ von Nastja: „Mit so einer Einstellung spielst du schon wirklich in die Hände des Feindes. Hasserfüllt lässt es sich einfacher aufeinander schießen. Verflixt nochmal!“ Nastja könnte schreien. Wie sollte man den Oberarsch erledigen? Nastja war sicherlich nicht die Einzige mit diesem Wunsch. Unbestätigten Nachrichten zufolge war ein wichtiger, privater Hubschrauber attackiert worden. Nastja konnte sich nicht vorstellen, dass Putin wirklich drin war. Wenn überhaupt, dann höchstens einer seiner Doppelgänger. Vermutlich war das der Grund für die jüngsten, schwersten Raketenangriffe in Kyjiw.
Nastja war die ganze Zeit in Gedanken in ihrer kleinen Heimat. Den Berichten der ukrainischen Seite zufolge bereitete der Feind eine Offensive im Gebiet Sumy vor. Das war die Grenzregion, wo es den ukrainischen Streitkräften gelungen war, auf das russische Territorium vorzudringen. Der Russe hat aktuell mehrere zehntausende Soldaten zusammengezogen. Alles deutete auf Vorbereitungen eines Angriffs, um die Ukrainer aus dem eingenommenen Territorium zurückzudrängen und möglichst weit in Sumyer Gebiet einzumarschieren. In vier ukrainischen Dörfern war es den Russen schon gelungen.
Nastja glaubte nicht wirklich an Gott. In solchen Momenten erlaubte sie sich die Annahme, dass es ihn im Zweifelsfall doch geben könnte. Und um sich dann später keine Vorwürfe zu machen, nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft gehabt zu haben, bat sie ihn um seinen Beistand. Um ehrlich zu sein, wüsste Nastja sonst nichts Besseres, was sie unternehmen könnte. Es blieb nur zu beten und zu hoffen.
Die Regierung in Kyjiw hatte nach eigenen Angaben Schritte unternommen, um Russland dort an einer großangelegten Offensive zu hindern. Die vier aufgegebenen Ortschaften waren rechtzeitig evakuiert worden. Die weiteren Details waren nicht bekannt. Das war aber auch richtig so. Es wurde ohnehin viel zu viel öffentlich diskutiert. Der Feind musste nur ausreichend „Stifte zum Mitschreiben“ haben.
Die letzten zwei Generationen in Europa machten sich überhaupt keinen Kopf darüber, dass Schwätzer für den Feind eine Goldmine darstellten. Es gab keinen wirklichen Feind. Die Gesellschaft hatte Anspruch auf Transparenz und Informiertheit. Alle Besserwisser und Ahnungslosen wollten nach ihrer Meinung gefragt werden und mitreden können. Die Generation unserer Eltern kannte es anders.
Nastjas 83-jähriger Vater ging, soweit es möglich war, mit der Zeit, bediente selbständig zeitgenössische Technik und war weitgehend fit im Umgang mit einem Smartphone. Die Dinge waren selbst für Nastja mit ihren 50 Jahren schon langsam zu klein und zu umständlich. Ohne Brille konnte sie die kleine Schrift kaum erkennen. Sie vertippte sich regelmäßig beim Schreiben. Die Eingabehilfe machte sie wahnsinnig. Es haute ständig nicht hin. Die Texte ergaben im besten Fall keinen und schlimmstenfalls einen falschen Sinn. Nach den häufigen Updates wurden oft die von ihr händisch eingestellten Änderungen zurückgesetzt, und das ganze Spiel fing von Neuem an.
Einmal war Nastja bei ihrer früheren Nachbarin Annelore zu Besuch. Es klingelte. Nastja schaute vorsichtshalber auf ihr Handy. Ihrs war es nicht. „Annelore, willst du nicht rangehen?“, fragte Nastja. „Mach ruhig. Mich stört es nicht.“ Annelore wehrte erstaunt ab: „Das ist nicht mein Handy. Meins hat einen anderen Klingelton.“ Nastja fiel es ein: „Du hast bestimmt wie ich vor kurzem Updates bekommen.“ „Ja“, bestätigte Annelore Nastjas Vermutung. „Nun kannst du jetzt wieder deinen Lieblingsklingelton einstellen“, lächelte Nastja ihre Nachbarin an.
Mit dem Vater hatten es Nastja und vor allem ihre Schwester Ina nicht so einfach. Ina wohnte viel näher und hatte deswegen mit dem Smartphone von ihrem Vater mehr zu tun gehabt. Natürlich nur, wenn er sie ranließ. Das tat er äußerst ungern. Nur, wenn er selbst überhaupt nicht mehr weiterkam. Über Vaters Behauptungen aus der Reihe: „Sie haben mir meine Kontakte gelöscht“, oder „Sie haben mir die Meet-App abgeschaltet“, wunderten sich die beiden Schwester nicht und schmunzelten nur. Ihr Vater war weder gaga noch paranoid. Er mochte jedoch solche Späßchen wie zum Beispiel das Video mit dem von Selenskyj geohrfeigten Trump. Das Video ging mindestens drei Mal um die Welt. Jeder anständige Mensch wunderte sich, wie der Autor dieses Videos seine Gedanken lesen konnte? Nastjas Vater rief an und bat seine Tochter, ihm nie wieder solches Kompromat** zu schicken. Er erinnerte sich nur allzu gut an die Sowjetzeit, als die unsichtbaren Ohren, Augen und Finger des Feindes oder auch des immer wachsamen „Freundes“ überall mitmischten.
Der Oberarsch Russlands war apropos vom Feinsten in solchen Sachen ausgebildet. Das war kein Geheimnis. Und jetzt stand er quasi vor Vaters Haustür. Schiete!
Ein Tag war um. Nastja hatte keine Nachrichten aus der Heimat. Das war ein gutes Zeichen. Dann gab es an der Front keine oder zumindest keine gravierenden Veränderungen. Das war der Fall, wenn keine Nachrichten gute Nachrichten bedeuteten. Nastjas Mann gab wie üblich am Frühstückstisch die erste „Politinformation“ an seine Frau weiter. Die Geschichte mit dem
Hubschrauber angeblich mit Putin an Bord hat sich als erfunden erwiesen. Das war keine Überraschung. Nastja und ihr Mann wären über das Gegenteil verwundert. Noch eine Lüge, die das Bild von Putin stärken sollte.
Nastja fuhr ihren Laptop hoch. Sie klickte die unzähligen, auf ihren früheren Suchaktionen basierenden Angebote weg. „Na, ganz ohne fremde Ohren und Augen funktionierte es in unserer Zeit auch nicht“, ging es ihr durch den Kopf. „Jetzt heißt es nur anders. Die künstliche Intelligenz sollte das sein.“
Die KI hörte mit, beobachtete und begleitete die Menschheit durch den Alltag. Zuerst wurden nur die Suchvorgänge ausgewertet. Dann wurden die Gespräche in der Nähe eines Smartphones oder Computers abgehört.
„Lass uns unsere Smartphones ins Gefrierfach legen“, scherzte Nastjas Mann. „Was bekämen wir dann angeboten? Eine Reise zum Nordpol? Oder einen Pelzmantel?“
„Alles ist möglich“, lachte Nastja zurück. „Mir würde aber bestimmt das Lachen vergehen, wenn ich eines Tages feststellt, dass meine Gedanken gelesen werden.“
„Ausschließen würde ich das nicht“, meinte Nastjas Mann.
„Früher hieß es – Technik, die begeistert. Jetzt erschreckt sie mich, ehrlich gesagt“, antwortete Nastja nachdenklich.
Nastja hatte jedoch nicht vor, sich übermäßig lange mit diesen Gedanken zu beschäftigen. Mit den Worten einer früheren Kollegin: „Es ist so, wie es ist. Wir wurschteln uns schon durch“, beendete sie für sich heute das Kapitel. Die künstliche Intelligenz hatte zugegeben merklich viele Vorteile an sich. Nastja arbeitete gerade an einer Erzählung. Sie setzte den Punkt am Ende des Satzes und wollte später die künstliche Stimme den Text ihrem Mann vorlesen lassen. Ihr Mann hörte sich üblicherweise geduldig Nastjas Texte mehrmals an. Er hatte sozusagen die Ehre, als Erster die rohen, eckigen und kantigen Textversionen schleifen zu dürfen.
Nastjas Smartphone brummte einige Male. Ina schickte mehrere Nachrichten per Telegram. „Hoffentlich gute Nachrichten“, hielt Nastja den Atem an. Die Ukraine veröffentlichte Bilder ihrer Sicherheitsdienste zur geheimen Operation „Spinnennetz“. Tief im Inland Russlands, über viertausend Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt waren vier Militärbasen angegriffen und eine beachtliche Zahl Langstreckenbomber getroffen worden. Nastjas Mann griff zu seinem Laptop. Die Nachrichten n-tv berichteten auch darüber. Nach spürbarer Freude entstand bei Nastja ziemlich schnell das Gefühl großer Besorgnis.
„Heute Nacht bekommt ihr sicherlich kein Auge zu“, schrieb sie ihrer Schwester. „Putin wird sich rächen.“
„Höchstwahrscheinlich. Letzte Nacht haben wir auch nicht geschlafen. Die russischen Flugkörper sind ständig unterwegs.“
„Putin soll angeblich schon den Rentenfonds in Russland plündern. Irgendwann mal geht ihm das Geld aus.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Ina mit Bedauern. „Ich weiß nicht, wo er das Geld her hat. Die massiven Angriffe auf die Ukraine nehmen nicht ab.“
Jeder Krieg endet irgendwann. Ob mit uns, ohne uns oder mit unzähligen zerstörten uns. Die Zeit wird Feinde, Freunde und Gleichgültige mit Namen benennen. Niemand wird verschont bleiben. Die Betroffenen werden noch lange an ihren Wunden lecken. Die Welt wird nicht mehr die alte sein.
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* 'Chachly‘ Mehrzahl von ‚chachol‘, phonetisch ‚khakhol‘, russisch, schriftlich ‚chochol‘, abwertend für Ukrainer, etymologisch ‚Haarschopf‘ der ukrainischen Kosaken.
** Kompromat = kompromittierendes Material
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