Kai Kernberg
Mitglied
KW 6/24 Emotionen im Verkehr
Mit dem Fahrrad, im Winter, im Berufsverkehr, bei Regen und morgendlicher Dunkelheit durch die Innenstadt zur Arbeit fahren. Das können sich manche überhaupt nicht vorstellen. Wer vor Entsetzen überhaupt etwas dazu sagen kann, spricht Sätze wie "bist Du verrückt" oder "das ist lebensgefährlich" oder "so einen habe ich auch Mal gesehen".
Dabei ist die Sache gar nicht so schlimm, sie bietet sogar einen unglaublichen emotionalen Reichtum. Es ist wie mit Allem. Wenn Du Dich auskennst, brauchst Du Dich nicht fürchten und kannst die Spielarten genießen. Dies beginnt schon damit, dass die Radelroutiniers vorzugsweise ruhige Nebenstraßen nutzen. Dort sammeln sie sich zu kleinen, in sich friedlichen Gefolgen von zwei bis fünf Pedalisten. Je nach Tempovorliebe und Abzweig zerstreut sich die Straßenguerilla kurz darauf wieder. Neue Bündnisse formieren sich.
Und dann kommt der Moment, die Hauptstraße, die Ampel. Jede Solidarität geht hier verloren. Die einen halten bei Rot. Die anderen slalomieren sich mit Millimeterabstand zwischen Autos und Radfahrern hindurch, brettern über das Rotlicht, weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie noch eine Sekunde Vorsprung haben, bevor es für den Querverkehr grün wird. Der Puls schlägt an die Gurgel, hoffentlich geht das gut! Alle sind auf dem Weg zur Arbeit. Jetzt ein Unfall, erste Hilfe leisten, auf die Polizei warten, Zeuge sein, Papierkram! Bitte nicht! Geschafft, er ist unversehrt über die Kreuzung gehuscht. Die Ampelschaltung läuft um. Zuerst die Rechtsabbieger. Mit einer Grünlichtphase kommen immer sieben Autos durch. Ein SUV und ein LKW quetschen sich heute noch dahinter auf die verstopfte Kreuzung. Rechtsabbieger: Rot, Geradeausfahrer: Grün. Das SUV blockiert den gesamten Radweg. Vor ihm steht ein Taxi, hinter ihm der LKW. 20 Radfahrer drängen vor, dazu noch 15 aus der Gegenrichtung. Der sonnenstudiogebräunte Herr im SUV lächelt arrogant. Die Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer schlängeln sich an allen Seiten um seine Dreitonnenkarre mit E-Kennzeichen herum. Draußen und drinnen, hermetisch gegeneinander abgegrenzt. Anfeindungen zischen durch den Nieselregen.
Ich habe die regennasse Kreuzung hinter mir gelassen, steuere die nächste Seitenstraße an, um zur Ruhe zu kommen. Vor mir radelt eine Frau mit rotem Regenüberzug über dem Helm, gelber Warnweste über der schwarzen Regenjacke, blauer Regenhose und zwei orangen Gepäcktaschen. Ich folge ihr, beobachte die anmutigen Bewegungen ihrer Beine. Die rasenden Rotlichtritter wissen gar nicht, was sie verpassen, sinniere ich. In Gedanken nenne ich die Radlerin vor mir Anne. So hieß die Papageiendame einer Schulfreundin; sie war so farbenfroh, so einnehmend. Annes Beine in ihrer blauen, imprägnierten Hülle saugen meine Sinne an. Diese Straße führt fast eineinhalb Kilometer durch das Wohngebiet und ich werde jeden Meter genießen.
Nachher kommt auf dieser Straße ein Stoppschild, dort wird sie anhalten. Dort werde ich sie durch den Nieselschleier ansprechen, anhimmeln, meiner Phantasie freien Lauf lassen. "Vom Fahrradsattel schweben wir in die Abendsonne, in das romantische, französische Boutiquehotel. An den glitzernden Pool. Im hintersten Winkel, verdeckt von einem Palmenstamm, steht eine einzelne Sonnenliege mit zartem Stoff und regionalen Ornamenten. Sie ist perfekt für uns. Du obenauf, ohne Regenklamotten, ohne Helm, nur Du. Deine Beine schimmern seidig im Sonnenlicht..." Obwohl, überlege ich, wenn Anne obenauf sitzt, könnte ich ihre Beine ja gar nicht richtig sehen. Nunja, "seidig im Sonnenlicht..., ich gönne den anderen Gästen den Anblick Deiner Beine, deren Schimmer hinter der Palme zu erhaschen ist, wenn Flaneure zufällig hier vorbeikommen. Deren Aufmerksamkeit und Blicke werden durch Deinen leuchtend blauen Bikini gelenkt. Im Übermut hast Du ihn etwas zu weit an der Palme vorbei auf die grauen Natursteinplatten geworfen. Wie ein Wasserlauf zeichnen die beiden Teile den Weg vom Beckenrand an der Palme vorbei zu unseren sanft wiegenden Körpern. Auffällig unauffällig wandeln die Damen und Herren auf und ab, während Du Deine Hüfte genüsslich vor und zurück schiebst. Unter allseits zustimmendem Nicken hebt der ordnungsliebende Maître-Nageur Deinen Zweiteiler auf und hält inne. Sein Blick wird von Deinem knienden Körper gefangen, folgt andächtig einigen Schweißtropfen, die sich aus Deinem Haaransatz hinter dem Ohr lösen, den Hals hinunter fließen und wie zufällig ihren Weg nehmen entweder über Dein Schulterblatt, Deine Taille und Deine Hüfte um dann auf Deinen Fuß zu fallen und im Muster der Liege zu versinken. Oder sie fließen vom Hals über Deine vorderen, schwingenden Wölbungen und verschmelzen weiter unten im Strom der Liebe. Der Maître überwindet sich, den Blick abzuwenden, fixiert den Bikini in seiner Hand, erblickt meine Badehose und hebt auch diese auf. Mit einem schiefen Grinsen und dem unüberhörbaren Satz "vers la réception" geht er davon. Wie ein Echo kichert es aus vielen Mündern "vers la réception". Schadenfreudig blicken Sie aus allen Richtungen auf die beiden Liebenden, deren Körper durch den schmalen Palmenstamm mit kaum mehr als mit einem Feigenblatt verdeckt sind. Im Äther liegt die Verheißung, dass diese beiden gleich ebenfalls ihren Weg von der Liege "vers la réception" nehmen müssten und schutzlos die Spuren des Aktes nicht verbergen könnten. "Goutte par goutte", so schwebt es Einigen vor, würden sie dem weiten Bogen folgend um den Pool herum defilieren und an diesen Abend in der "Auberge Rousis" über alle Flure und Zimmer ein Feuerwerk der Inspiration auslösen.
Eine warme Brise weht den Sonnenhut von Deinem Kopf. Ein willkommener Anlass für den aufmerksamen garçon de terrasse, ihn einzufangen und näher zu kommen, unsere unverhüllte, bewegte Verbundenheit zu studieren und dezent zu fragen 'madame, monsieur, prenez vous déjà le dessert? Je vous conseil à prener le diner en premier, s'il vous plaît...'. Durch seine enge Hose zeichnet sich wohl schon der Hauptgang ab. Wie zufällig sammeln sich hinter ihm Gäste, die sich auch für Appetitliches interessieren und deren hungrige Blicke über uns wandern wie über ein reichhaltiges Buffet. Der Garçon streckt die Hand nach Dir aus. Du ergreifst sie und reckst ihm Deinen Oberkörper entgegen. Aus Deinem weit geöffneten Mund strömt lustvoll-begeistert 'Oui. J'arrive. Aide moi prendre mon pied là-haut'". Unerhört!
Ich schrecke zusammen. Da ist das Stoppschild. Anne ist zum Greifen nah. Gleich muss Die Papageiendame anhalten. Macht sie aber nicht. Stattdessen blickt sie schnell nach links und rechts. Regentropfen fliegen von ihrem Helm in alle Richtungen wie von einem sich schüttelnden Straßenköter. Dann steigt sie kräftig in die Pedale und fegt einfach über die Kreuzung. So ein Luder! Wie konnte ich mich in diesen Beinen nur so täuschen? Nicht eine Sekunde werden Dir meine Gedanken nachhängen, Du Ordnungswidrige!
Mit dem Fahrrad, im Winter, im Berufsverkehr, bei Regen und morgendlicher Dunkelheit durch die Innenstadt zur Arbeit fahren. Das können sich manche überhaupt nicht vorstellen. Wer vor Entsetzen überhaupt etwas dazu sagen kann, spricht Sätze wie "bist Du verrückt" oder "das ist lebensgefährlich" oder "so einen habe ich auch Mal gesehen".
Dabei ist die Sache gar nicht so schlimm, sie bietet sogar einen unglaublichen emotionalen Reichtum. Es ist wie mit Allem. Wenn Du Dich auskennst, brauchst Du Dich nicht fürchten und kannst die Spielarten genießen. Dies beginnt schon damit, dass die Radelroutiniers vorzugsweise ruhige Nebenstraßen nutzen. Dort sammeln sie sich zu kleinen, in sich friedlichen Gefolgen von zwei bis fünf Pedalisten. Je nach Tempovorliebe und Abzweig zerstreut sich die Straßenguerilla kurz darauf wieder. Neue Bündnisse formieren sich.
Und dann kommt der Moment, die Hauptstraße, die Ampel. Jede Solidarität geht hier verloren. Die einen halten bei Rot. Die anderen slalomieren sich mit Millimeterabstand zwischen Autos und Radfahrern hindurch, brettern über das Rotlicht, weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie noch eine Sekunde Vorsprung haben, bevor es für den Querverkehr grün wird. Der Puls schlägt an die Gurgel, hoffentlich geht das gut! Alle sind auf dem Weg zur Arbeit. Jetzt ein Unfall, erste Hilfe leisten, auf die Polizei warten, Zeuge sein, Papierkram! Bitte nicht! Geschafft, er ist unversehrt über die Kreuzung gehuscht. Die Ampelschaltung läuft um. Zuerst die Rechtsabbieger. Mit einer Grünlichtphase kommen immer sieben Autos durch. Ein SUV und ein LKW quetschen sich heute noch dahinter auf die verstopfte Kreuzung. Rechtsabbieger: Rot, Geradeausfahrer: Grün. Das SUV blockiert den gesamten Radweg. Vor ihm steht ein Taxi, hinter ihm der LKW. 20 Radfahrer drängen vor, dazu noch 15 aus der Gegenrichtung. Der sonnenstudiogebräunte Herr im SUV lächelt arrogant. Die Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer schlängeln sich an allen Seiten um seine Dreitonnenkarre mit E-Kennzeichen herum. Draußen und drinnen, hermetisch gegeneinander abgegrenzt. Anfeindungen zischen durch den Nieselregen.
Ich habe die regennasse Kreuzung hinter mir gelassen, steuere die nächste Seitenstraße an, um zur Ruhe zu kommen. Vor mir radelt eine Frau mit rotem Regenüberzug über dem Helm, gelber Warnweste über der schwarzen Regenjacke, blauer Regenhose und zwei orangen Gepäcktaschen. Ich folge ihr, beobachte die anmutigen Bewegungen ihrer Beine. Die rasenden Rotlichtritter wissen gar nicht, was sie verpassen, sinniere ich. In Gedanken nenne ich die Radlerin vor mir Anne. So hieß die Papageiendame einer Schulfreundin; sie war so farbenfroh, so einnehmend. Annes Beine in ihrer blauen, imprägnierten Hülle saugen meine Sinne an. Diese Straße führt fast eineinhalb Kilometer durch das Wohngebiet und ich werde jeden Meter genießen.
Nachher kommt auf dieser Straße ein Stoppschild, dort wird sie anhalten. Dort werde ich sie durch den Nieselschleier ansprechen, anhimmeln, meiner Phantasie freien Lauf lassen. "Vom Fahrradsattel schweben wir in die Abendsonne, in das romantische, französische Boutiquehotel. An den glitzernden Pool. Im hintersten Winkel, verdeckt von einem Palmenstamm, steht eine einzelne Sonnenliege mit zartem Stoff und regionalen Ornamenten. Sie ist perfekt für uns. Du obenauf, ohne Regenklamotten, ohne Helm, nur Du. Deine Beine schimmern seidig im Sonnenlicht..." Obwohl, überlege ich, wenn Anne obenauf sitzt, könnte ich ihre Beine ja gar nicht richtig sehen. Nunja, "seidig im Sonnenlicht..., ich gönne den anderen Gästen den Anblick Deiner Beine, deren Schimmer hinter der Palme zu erhaschen ist, wenn Flaneure zufällig hier vorbeikommen. Deren Aufmerksamkeit und Blicke werden durch Deinen leuchtend blauen Bikini gelenkt. Im Übermut hast Du ihn etwas zu weit an der Palme vorbei auf die grauen Natursteinplatten geworfen. Wie ein Wasserlauf zeichnen die beiden Teile den Weg vom Beckenrand an der Palme vorbei zu unseren sanft wiegenden Körpern. Auffällig unauffällig wandeln die Damen und Herren auf und ab, während Du Deine Hüfte genüsslich vor und zurück schiebst. Unter allseits zustimmendem Nicken hebt der ordnungsliebende Maître-Nageur Deinen Zweiteiler auf und hält inne. Sein Blick wird von Deinem knienden Körper gefangen, folgt andächtig einigen Schweißtropfen, die sich aus Deinem Haaransatz hinter dem Ohr lösen, den Hals hinunter fließen und wie zufällig ihren Weg nehmen entweder über Dein Schulterblatt, Deine Taille und Deine Hüfte um dann auf Deinen Fuß zu fallen und im Muster der Liege zu versinken. Oder sie fließen vom Hals über Deine vorderen, schwingenden Wölbungen und verschmelzen weiter unten im Strom der Liebe. Der Maître überwindet sich, den Blick abzuwenden, fixiert den Bikini in seiner Hand, erblickt meine Badehose und hebt auch diese auf. Mit einem schiefen Grinsen und dem unüberhörbaren Satz "vers la réception" geht er davon. Wie ein Echo kichert es aus vielen Mündern "vers la réception". Schadenfreudig blicken Sie aus allen Richtungen auf die beiden Liebenden, deren Körper durch den schmalen Palmenstamm mit kaum mehr als mit einem Feigenblatt verdeckt sind. Im Äther liegt die Verheißung, dass diese beiden gleich ebenfalls ihren Weg von der Liege "vers la réception" nehmen müssten und schutzlos die Spuren des Aktes nicht verbergen könnten. "Goutte par goutte", so schwebt es Einigen vor, würden sie dem weiten Bogen folgend um den Pool herum defilieren und an diesen Abend in der "Auberge Rousis" über alle Flure und Zimmer ein Feuerwerk der Inspiration auslösen.
Eine warme Brise weht den Sonnenhut von Deinem Kopf. Ein willkommener Anlass für den aufmerksamen garçon de terrasse, ihn einzufangen und näher zu kommen, unsere unverhüllte, bewegte Verbundenheit zu studieren und dezent zu fragen 'madame, monsieur, prenez vous déjà le dessert? Je vous conseil à prener le diner en premier, s'il vous plaît...'. Durch seine enge Hose zeichnet sich wohl schon der Hauptgang ab. Wie zufällig sammeln sich hinter ihm Gäste, die sich auch für Appetitliches interessieren und deren hungrige Blicke über uns wandern wie über ein reichhaltiges Buffet. Der Garçon streckt die Hand nach Dir aus. Du ergreifst sie und reckst ihm Deinen Oberkörper entgegen. Aus Deinem weit geöffneten Mund strömt lustvoll-begeistert 'Oui. J'arrive. Aide moi prendre mon pied là-haut'". Unerhört!
Ich schrecke zusammen. Da ist das Stoppschild. Anne ist zum Greifen nah. Gleich muss Die Papageiendame anhalten. Macht sie aber nicht. Stattdessen blickt sie schnell nach links und rechts. Regentropfen fliegen von ihrem Helm in alle Richtungen wie von einem sich schüttelnden Straßenköter. Dann steigt sie kräftig in die Pedale und fegt einfach über die Kreuzung. So ein Luder! Wie konnte ich mich in diesen Beinen nur so täuschen? Nicht eine Sekunde werden Dir meine Gedanken nachhängen, Du Ordnungswidrige!
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