Lass das Tote ruhen

Papiertiger

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Ich hatte mich im Fitnessstudio angemeldet, um attraktiver für sie zu werden und sie damit vielleicht von mir überzeugen zu können. Doch dann kam der Punkt, an dem ich merkte: mit jedem Kilo weniger, mit jeder Muskelstärkung und mit immer neuen persönlichen Bestmarken wurde ich immer selbstbewusster und fragte mich, wozu ich es eigentlich nötig haben sollte, jemandem etwas recht machen zu wollen, der ich so offensichtlich völlig egal war. Sport ist Mord? In diesem Fall hatte das Training und vor allem die kontinuierlichen Erfolge daraus geholfen die Trauer über eine unerwiderte Liebe zu bewältigen, diese Frau hinter mir zu lassen und wieder nach vorne schauen zu können. Aber wie in so vielen anderen Horrorfilmen und -serien auch: irgendwann tauchen die Untoten wieder auf und der Schrecken beginnt erneut.

Ich traf sie völlig unvermittelt auf dem Heimweg vom Supermarkt. Mein Blick fiel auf ihren kurzen Lederrock von Zara, auf ihre Strumpfhose und ihre schwarzen Stiefel. Dieses Outfit! Es war wohl das, was für Superman Kryptonit oder für einen Spielsüchtigen ein blinkender, klingelnder, Münzen ausspuckender Automat ist. „Hallo Tom“, hauchte sie, mit ihrer warmen, tiefen Stimme. Sie war wie immer, professionell geschminkt, ihr langes, lockiges Haar wirkte wie ein Fluss aus Gold, der an ihrem makellosen Körper bis zu den wunderschön geformten Hüften floss. Ihr Duft. Ihr Lächeln. Mein Schmerz. Es war, ich bin mir ziemlich sicher, genau so wie bei einem trockenen Alkoholiker, der unvorbereitet und ungeschützt mitten in einer Bar hereinspaziert, weil er unaufmerksam war. Da gelten die ersten Gedanken dann nicht dem Absturz, dem Elend, der Depression, der Scham und dem Selbsthass nach dem Vollrausch, dem Erwachen im eigenen Erbrochenen, dem leer geräumten Konto. Das Schöne, die Ekstase, die Befreiung von allen Sorgen und Widrigkeiten des Alltags dominieren. Spaß haben. Jemand sein. Träumen dürfen. Von grenzenlosen Möglichkeiten und ewiger Freude und Glückseligkeit fabulieren, die ganze Welt umarmen und unaufhaltbar zu sein.

Was tun? Das Blut floss wieder zurück in den Kopf. Gedankenstoppmethode? Laut „Stopp!“ rufen? Auf eine Chillischote beißen? Ein Gummiband am Handgelenk haben, daran ziehen und durch den Schmerz des zurück schnellenden Bandes wieder klar im Kopf zu werden? Kaffee! Um wieder klar zu werden, na klar, das war auch eine Methode.

Und so saßen Tina und ich anschließend im Cafe um die Ecke. Ich zahlte. Sie erzählte von ihrem Leben. Ich fragte, wie ich ihr helfen kann. Sie stellte gerade so viele Fragen, das es noch halbwegs höflich war. Nächste Woche werde ich ihr beim Umzug helfen. Ich lieh ihr noch etwas Geld, weil es bei ihr gerade finanziell eng war.

Nachts schreckte ich aus dem Halbschlaf auf. Ich hatte krächzende Zombielaute gehört. Sabbern. Aber es war nur der Fernseher. Bescheuert! Eine Gruppe Jugendlicher hatte sich in einer Hütte im Wald einquartiert, um dort zu feiern, obwohl sie hätte wissen müssen, dass sie mitten in einem Gebiet waren, in dem zu viele Gefahren lauerten. Selbst schuld, dachte ich.
 



 
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