Lebensfreude

Anna

Mitglied
Leben(sfreude)

Alex kämpfte sich mit ihrem Rollstuhl die Zufahrtsstrasse zum Schulhaus hoch. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Weg fuhr, aber es war seit ihrem Unfall das erste mal, dass sie nicht am Schulhaus vorbei fahren würde. Sie musste hinein aber sie wollte nicht. Sie wusste ganz genau, dass alle sie anstarren würden und sie hasste es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber es waren nun mal unter den 1300 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums nur zwei, mit ihr drei, die im Rollstuhl sassen. Ein kleines Mädchen aus der Unterstufe, klein und zerbrechlich, sie konnte nur gerade Arme und Kopf ein wenig bewegen. Und ein junger Mann aus der fünften, er konnte die Beine ein wenig bewegen aber nicht gehen. Beide hatten einen Rollstuhl mit Motor. Alex hatte sich jedoch geweigert, sich in so einen zu setzen, sie hatte viel Kraft in den Armen, sie war viel geritten und hatte im Stall gearbeitet. Sie war von der Hüfte an abwärts gelähmt, aber sie wollte ihre Armmuskeln trainieren und nicht einfach resigniert und voll Selbstmitleid ihre gebliebene Kraft verkümmern lassen. ‚Scheisse, ist das steil!‘, dachte Alex in der Mitte der Steigung, ‚ich hätte die Strecke doch jeden Tag fahren sollen.‘ Fünf Wochen Sommerferien lagen hinter ihr, in der ersten war der Unfall passiert. Niemand aus der Schule wusste davon, sie hatte nicht gewollt, dass sie in den Ferien schon die mitleidigen Gesichter ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen oder schlimmer noch, Lehrer oder Lehrerinnen zu ertragen hatte. Es reichte vollkommen, was jetzt dann kommen würde.
Sie war nun oben angekommen und bog links ab. Von hinten sah sie die Englischlehrerin kommen. ‚Warum muss die denn auch hier wohnen?‘ Tränen traten ihr in die Augen. Die Lehrerin kam immer näher, schliesslich holte sie sie ein. Alex versuchte, so tun, als ob sie die Lehrerin nicht sehen würde. Sie zuckte zusammen, als sie Mrs. Maechler fragend „Alexandra?! „sagen hörte. „Ja?“ ‚Scheisse‘. „Was hast du denn gemacht?“ „Ich? Gar nichts. Nur der Autofahrer. Er hat die Bremse wohl nicht erwischt, weil er zu besoffen war.“ ‚Scheiss-Alkohol!‘
Sie setzte ihren Weg fort und liess die Lehrerin hinter sich. Diese schaute ihr besorgt nach.

Alex hatte den Ostausgang der Aula erreicht, öffnete mit einigen Problemen die beiden Türen und durchquerte die Halle. Auf der anderen Seite wieder raus, den Kiesweg hinunter, an grösseren der beiden Teiche vorbei, schmaler Weg links und beinahe die Treppe runter. ‚Jetzt reicht‘s dann aber!‘, dachte Alex, während sie den Rollstuhl drehte und den schmalen Weg um den kleineren Weg hinunterrollte. Schon wieder eine Treppe. Rechts abbiegen. Dann stand sie vor der Baracke, von Schülern und Lehrern liebevoll Pavillon genannt. Nochmals drei Treppenstufen. ‚Ich finde das nicht mehr witzig! Besteht denn dieses verdammte Schulhaus nur aus Treppen?‘ Das war übertrieben, obwohl alle Schulzimmer nur über Treppen zugänglich waren, aber es hatte Aufzüge, eigentlich für faule Lehrer gedacht, die sie jedoch selten benutzten. Schüler durften sie nur benutzen, wenn sie mit Krücken gehen mussten. Oder eben, wenn sie im Rollstuhl sassen.

Weit und breit war noch niemand zu sehen. Alex war froh, denn schon wieder begann sie zu weinen. Aus Zorn, Verzweiflung, auch aus Angst vor den Reaktionen der anderen. Und dann musste sie die erste Stunde auch noch Spanisch haben, bei ihrer Klassenlehrerin, die gerade von einem halbjährigen Urlaub zurückgekehrt war.
Sie fuhr halb um die Baracke herum bis zu einem Findling, auf dem sie früher immer gesessen hatte. Schon in den Ferien war sie einmal hierher gekommen und hatte sich aus dem Rollstuhl heraus auf den Stein gezogen. Das tat sie jetzt wieder. Sie sass da, ganz gerade, und schaute hinüber zum Berg, den man noch fast Hügel nennen müsste. Die Sicht war klar, die Luft noch kühl, typisch Spätsommer eben. Die Tränen rannen ihr übers Gesicht, aber sie war nicht mehr traurig. „Hey, ich lebe!“, schrie sie in den jungen Tag hinaus.
Sie hörte Schritte. Als sie sich umschaute, stand die Spanischlehrerin, Frau Kemmler, an der Ecke. „Alexandra?“ tönte es fragend aus ihrer Richtung. „Ja?“, rief Alex glücklich zurück, „kommen sie doch her!“
„Geht es dir gut?“ „Ja, doch, eigentlich schon. Sehen sie, ich lebe! Ja, mir geht’s gut.“
„Was ist dir denn passiert?“ „Ich werde es ihnen sagen. Aber könnten sie mich bitte noch ein Weilchen allein hier lassen? Oder ganz still dastehen?“
Die Lehrerin ging, aber nur bis zur Ecke der Baracke, dort blieb sie stehen und schaute zu Alex. Diese sass da, ganz still, den Blick in die Ferne gerichtet, Tränen strömten, aber sie hatte ein seliges, tiefes Lächeln auf dem Gesicht. Sie war ganz von Freude erfüllt. Freude über das Leben, das sie hatte fortleben dürfen. Sie fühlte sich eins mit ihrer Umgebung, es spielte gar keine Rolle ob sie laufen konnte oder nicht. Jedenfalls nicht in dem Moment.
Aber es würde bald eine Rolle spielen.

Drei Minuten später hob sie sich wieder in den Rollstuhl und fuhr zum Eingang. Dort hob sie sich wieder hinaus auf die oberste der drei Stufen, hob dann den Stuhl, den sie zuvor zusammengeklappt hatte, hinauf und zog sich hinein. Alex öffnete die rechte der zwei Türen, die sich, wie sie auch nach fünf Wochen Ferien noch wusste, leichter öffnen liess als die rechte, und fuhr hinein. Sie drehte nach links zu ihrem Klassenzimmer. Alexandra zuckte zusammen, als sie Frau Kemmler entdeckte, die sie wohl die ganze Zeit beobachtet hatte.
Dann kamen die ersten ihrer Mitschüler.
Alex überstand die erste Schulstunde gut. Sie bat ihre Spanisch-Lehrerin, dass sie der ganzen Klasse von ihrem Unfall erzählen konnte, denn sie hatte keine Lust, die Geschichte nachher 23 Mal zu erzählen. Sie hatte schon befürchtet, die Lehrerin könnte auf die Idee kommen, sie alles in Spanisch erzählen zu lassen, aber zum Glück kam Frau Kemmler das nicht in den Sinn.

Turnen. Na toll. Die Sportlehrerin erschrak, als sie Alex im Rollstuhl erblickte.
Physik. Das Zimmer ist eine einzige Treppe, auf jeder Stufe links und rechts je ein Tisch für vier Personen. Alex quetschte sich mit Sonia in die erste Reihe. Herr Casty fragte natürlich auch noch. Alex grauste schon vor der Doppelstunde Mathematik und vor dem ewig grinsenden Mathe-Lehrer.
Dieser musste typischerweise auch noch Bescheid wissen. ‚Nur noch Französisch, Geschichte und Englisch. Ich glaub, dass schaff ich.‘ Natürlich schaffte sie es. Aber sie kam total tot zu Hause an.

Spätabends suchte sie ihr Tagebuch, in das sie seit mindestens zweieinhalb Monaten nichts mehr geschrieben hatte.
Alex begann zu schreiben. Sie schrieb über den schönen Morgen (vor der Schule) und über den anstrengenden Rest des Tages. Und das erste Mal schrieb sie auch über den Unfall. Sie beschrieb ihn von der Minute an, in der sie an jenem Tag das Haus verlassen hatte. Sie schrieb, dass sie auf keinen Fall aufgeben würde und sie am nächsten Tag zum Reitstall fahren wollte, um ihr ehemaliges Pflegepferd zu besuchen. Alex war sich sicher, dass sie es wieder reiten konnte, das Vertrauen von Pferd zu Reiter verschwand nicht einfach so und sie hatte ihres auch nicht verloren. Und sie hoffte, dass sie irgendwann wieder würde gehen können, auch wenn die Ärzte das Gegenteil sagten. Aber solange Hoffnung besteht, und sei auch nur ein winziges Fünkchen, solange lohnt es sich, zu hoffen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zum heulen schön!

sehr gut geschrieben, spanned erzählt, schlicht und ergreifend. danke schön und weiter so! ganz lieb grüßt
 



 
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