SusiPikl
Mitglied
Holt mich Opa ab?
Ich weiß es nicht, Lena.
Ganz zart und leise dotzen ein paar frische Schneeflocken ans Fenster. Kaum hörbar, dennoch nimmt man sie wahr, wie winzig runde Daunenfedern mit leichtem Eisflaum. Der Himmel milchig hellgelb, einen Farbton den es so nur selten zu sehen gibt. Fast golden, wie Engelsflügel.
Lena, seufzt leise: Aber dennoch denkbar?
Ja, denkbar schon. Wir wissen es nicht. Ich denke Opa hat besseres zu tun, als da rumzustehen, wie an einer Bushaltestelle und zu warten bis der Bus kommt und die kleine Lena aussteigt.
Lenas Grübchen an ihrer linken Wange vertieft sich kurz. Man könnte es fast als ein winziges Lächeln bezeichnen, aber auch nur fast. Sie bleibt bei ihrem Thema: Würde er mich überhaupt erkennen?
Das Grübchen verschwindet und ihre Augen und Wangenknochen treten hervor, sie hat so viel abgenommen.
Ja, aber ganz sicher doch, Du mit Deinen Segelohren, sage ich verschmitzt grinsend ihre Reaktion vorausschauend.
Mamaaaa, ich habe keine Segelohren, Lena klatscht mir mit ihrer schwachen Hand auf meinen Handrücken, der immer Nahe neben ihrer Hand liegt. So nahe, dass ich sie jederzeit greifen und stützen kann.
Das Piepen und Saugen und Tropfen um sie herum, nehme ich schon seit Wochen nicht mehr wahr. So nebensächlich ist das mittlerweile geworden. Lena schon, sie hängt ja dran, an dem ganzen Equipment.
Ihr Blick wendet sich zum einzigen Fenster im Raum und wir sehen wie immer dickere Flocken das Glas streifen und daran hängen bleiben, zuerst unverändert und sich dann doch nach und nach zu einer flüssigen Schliere auftauen und ganz langsam nach unten bewegen. Manchmal rutscht eine komplette Flocke einfach so hinab, nachdem sie minutenlang tapfer an der Scheibe hing, hier bin ich, hier bleibe ich, bis sie dann doch die Haftung verliert. Und dann Ruck für Ruck der Erdanziehungskraft folgend nach unten.
Die Luft im Raum spürt die Ruhe. Auch Lena und ich spüren die Ruhe. Die Luft ist wie immer, stehend, stickig, zeitlos, Stillstand.
Was wird mit meinem Zimmer geschehen?
Die Frage überwältigt mich jetzt und ich spüre wie mir erst kalt und dann ganz heiß wird. Mir schießen Tränen in die Augen, dabei habe ich mir ganz fest vorgenommen heute stark zu sein, mindestens so stark wie meine Tochter. Woher nimmt sie nur diese Kraft und Gelassenheit aus diesem winzig dürren Körper? Ich nehme ihre Hand in meine Hände, umfasse sie mit meinen beiden Händen. Umschlinge sie, packe sie in eine Höhle, meine feuchtwarme Händehöhle. Wie ein Cocoon. Durch meine Bewegung, die einzige im Raum, hört man nur ein leises Rascheln oder gar Knistern aus meiner reibenden Kleidung. Mehr nicht, die anderen Geräusche dieser ungewöhnlichen Maschinen vernehmen wir ja nicht mehr. Ich streichel sanft die dünnen blauen Äderchen auf ihrem Handrücken entlang.
Was möchtest Du denn was damit geschieht?
Ein Schmetterlingshaus soll daraus werden.
Ein Schmetterlingshaus?
Ja, so wie auf der Insel Mainau, am Bodensee vor zwei Jahren, weißt Du noch, Mama? Da wo mir der eine Schmetterling in so einem tollen kräftigen blau, hattest Du koboltblau genannt, auf den Kopf geflogen ist. Ich habe mich nicht getraut mich nur einen Zentimeter zu bewegen, weil ich wollte dass der für immer bei mir bleibt.
Kobaltblau, meine Süße, aber koboltblau lasse ich auch gelten.
Und dann ist er doch wieder weggeflogen, erst flatterte er über unsere Köpfe hoch oben herum und dann setzte er sich einfach auf eine andere Person, so eine hässliche Frau. Das vergesse ich nie, ich war richtig traurig und eifersüchtig, ich wollte doch die Auserwählte sein, für den Schmetterling.
Die Auserwählte. Das Wort hängt mir nach ... Lena, die Auserwählte, ja, warum es gerade mein Kind erwischt hat, das kann wohl keiner der vielen Götter erklären.
Werde ich noch denken können, Mama?
Werde ich Euch und alles Erlebte vergessen?
Puh, was für Fragen da hochkommen ... Ich strenge mich an und suche nach Erklärungen.
Niemand weiß das sicher, Lena. Manche denken, es ist wie Schlaf mit bunten Träumen aus dem man aber nie wieder aufwacht. Andere glauben an Himmel, oder dass man wiedergeboren wird, aber in einem anderen Körper oder Gestalt. Als eine Ameise oder ein Stein oder so etwas.
Lena bewegt ihren kleinen Körper ein wenig hin und her, kuschelt sich tiefer in ihr weißes Bett hinein, als wäre es ihr Nest, ihr Zuhause, was es ja auch seit Monaten schon ist. Ich sehe wie ihre Augen schwerer werden.
Andere glauben an Erinnerung oder auch an eine Zwischenwelt, in der man sich noch eine zeitlang als Engel aufhalten kann. Ich weiß es nicht, aber ich glaube ganz fest, dass das Gefühl der Liebe bleibt. Dass man keine Schmerzen verspürt und dass da nicht Nichts sein kann. Viele Menschen glauben, dass sie die bereits verstorbenen Menschen wiedersehen, die sie lieben. Andere denken anders. Wir wissen es nicht.
Ich spüre eine Bewegung in meinen warm verschwitzten Handflächen, ihre Hand löst sich aus meiner. Doch statt dass dieses kleine Händchen sich kurz die Nase am herzförmigen Pflaster kratzt, unter dem die Magensonde ist. Oder sich das Buch greift, welches auf der anderen Bettseite von mir auf ihrem rollbaren Beitisch liegt und ich ihr daraus vorlesen soll, weil sie sich dazu selbst nicht mehr konzentrieren kann, die ganzen Arzneimittel-Cocktails machen einem ja die Birne matschig.
Wobei Lena toll lesen kann, sie konnte das schon im letzten Jahr im Kindergarten, weil sie es da schon unbedingt lernen wollte. War sowieso schon immer ein sehr neugieriges und wissbegieriges Kind, aber wieso war, sie ist ein wissbegieriges, schlaues Kind, was denke ich da. Wieso denke ich war, statt ist.
Meine Gedanken über den War- und Ist-Zustand irritieren mich während Lenas kleine Hand sich aus meiner Fingerhöhle entzieht und sich behutsam auf meine Hand drauflegt. Sie schließt bewusst ihre Augen und dreht ihren Kopf zur Seite. Sie braucht nichts zu sagen, die Medikamente machen müde. Ihre Lippen in ihrem blassen Gesicht sind heute, wie soll ich das beschreiben, eine Farbe, die es so in keinem Malkasten zu kaufen gibt, man müsste sie mühevoll anmischen, was nur gelänge kenne man den Farbkreis und Mischverhältnisse gut. Gelb-rosé würde ich sie versuchen zu beschreiben. So wie der Himmel heute.
Ihre Augenlider zittern, wie die Flügel eines Schmetterlings wenn er sich im noch kühlen Morgengrauen auf Flugtemperatur bringt.
Ihre Atmung aber ist ruhig und entspannt, wie die Flügel eines Schmetterlings wenn auch er durch seine winzigen Öffnungen an den Seiten seines schmalen Körpers seine lebensnotwendige Luft strömen lässt, besonders nach einem langen anstrengenden Flug.
Meine Gedanken führen meinen Blick von Lena ab zu Ihrem kleinen Tisch. Zu dem Strohhalm, der in Lenas Trinkbecher steckt.
Auch Schmetterlinge trinken über einen Halm, ihrem Rüssel. Wir haben damals am Bodensee beobachten können, wie der Rüssel, der aufgerollt unter ihren Köpfchen sitzt ausgerollt, dann an das süße Objekt der Begierde gedockt und mit ganzem Körpereinsatz rhythmisch pulsierend durch seinen Rüssel nach oben, vermutlich in seinen Mini-Magen, gezogen wurde.
Damals lag das Futter auf einem kleinen Unterteller aus Porzellan. Vintage, mit so einem welligen Goldrand, eine Scheibe Orange war es, an dem der orange farbene Schmetterling saugte. Neben anderen Leckereien wie Apfel und Pfirsich, alles ordentlich geviertelt und geschnitten. Stelle mir gerade vor, wie ich in der Küche stehe und das Tagesmenü für hunderte von Schmeterlingen vorbereite, eine schöne Vorstellung.
Das Schmetterlingshaus.
Die Luft riecht nach Moos und Nektar zugleich, fühlt sich weich und warm an auf der Haut, atmet sich leicht stickig, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die es braucht.
Man sieht es auch an den mikroskopisch winzigen Wassertröpfchen an der Scheibe, ein leichter Nebel, ein feiner Film.
Die Morgensonne dringt trotzdem hindurch.
Ein sanftes Licht fällt durch das mit zarten in altrosa gefärbten halb runtergelassenen Stoffrollo behangene große Fenster von Lenas Zimmer.
Ich schaue hinaus, die Äste der großen Birke im Garten bewegen sich sanft im Wind.
Ein bezauberndes Licht- und Blätterspiel in hellgrauen bis kreidefarbene Schattenformen malt bewegte Muster auf den Boden, einem hellen Holzboden mit natürlicher Struktur, lebendig und warm unter meinen nackten Füßen.
Ein paar abgefallene Blätter liegen darauf verteilt, als wären sie gerade vom Himmel gefallen. Überall grüne und blühende Pflanzen, nicht nur auf der neuen Tapete, die echten in verschieden großen Töpfen.
Andere ranken sich an den Wänden entlang, als würden Sie sich gewollt mit dem Muster der Tapete vereinigen wollen. Hoch und zur Seite. Farn, Orchideen, Hibiskus, Oleander und auch tropische Blumen aller Art, bunt, in allen Farben, Mustern, Größen und Formen. Und wieder andere hängen von der Decke herab in Glaskugeln, wie ganz viele Mini-Welten, die dünnen Triebe mal kürzer, mal länger, wie fedrige Lianen brechen sie aus den Welten aus und wenden sich der Erdanziehungskraft zu.
Und wenn der Wind leise durch die manchmal geöffneten Fenster zieht, so wie jetzt, schwingen sie langsam hin und her und vervollständigen das zauberhafte Schattenspiel auf dem Boden.
Die Fenster mit Fliegengitter geschützt, dass sich kein Schmetterling völlig hilfslos nach Draußen verirrt, sitzen manchmal ein oder mehrere "Linge" daran, neugierig und frische Luft atmend, als wären sie selbst von der hohen Luftfeuchtigkeit überdrüssig.
In der Mitte des Zimmers steht ein kleiner Springbrunnen auf einer weißen Säule, dessen Wasser leise plätschert. Das Geräusch klingt wie ein Atem, der den Raum lebendig hält. Leicht grünlich und ein paar braune Flecken hat der Kelch des Brunnens bereits am oberen Rand. In dem Kelch liegen bunte Glasmurmeln als Landeplatz für die Schmetterlinge, damit sie in Ruhe "picknicken" können, so nannte es damals Lena.
Mal hier, mal da flattern Schmetterlinge in allen möglichen Blautönen durch den Raum. Blau wie das Meer, blau wie der Himmel, blau wie die Dämmerung, blau wie eine Kornblume, blau wie eine Regenlücke nach dem Sturm, auch ein Blau wie Stille in Farbe.
Die Schmetterlinge sind ganz klein und auch recht groß.
Manche sitzen auf den Blättern der vielen Pflanzen und Blüten oder verstecken sich in dem Ästen. Andere schweben kurz über Dich, fast schwerelos oder auch ganz anders, flattern aufgeregt um Dich herum.
Ein Sessel aus Rattan mit den drei bunten Kissen von Lenas alten Bett steht in einer Ecke. Daneben ein kleiner Tisch. Eine kleine, flache Keramikschüssel mit Honigwasser und Lenas Buch, aus dem ich ihr über viele Wochen stückchenweise vorgelesen habe, verzieren den Tisch. Auch hier liegen ein paar abgefallene Blüten, wie absichtlich dort hingestreut.
Wenn es Abend wird, leuchten kleine Lichterketten zwischen den Blüten und Blättern – sie sehen aus wie Glühwürmchen, die den Schmetterlingen Gesellschaft leisten.
Lena ist jetzt bestimmt auch nicht alleine.
Ich weiß es nicht, Lena.
Ganz zart und leise dotzen ein paar frische Schneeflocken ans Fenster. Kaum hörbar, dennoch nimmt man sie wahr, wie winzig runde Daunenfedern mit leichtem Eisflaum. Der Himmel milchig hellgelb, einen Farbton den es so nur selten zu sehen gibt. Fast golden, wie Engelsflügel.
Lena, seufzt leise: Aber dennoch denkbar?
Ja, denkbar schon. Wir wissen es nicht. Ich denke Opa hat besseres zu tun, als da rumzustehen, wie an einer Bushaltestelle und zu warten bis der Bus kommt und die kleine Lena aussteigt.
Lenas Grübchen an ihrer linken Wange vertieft sich kurz. Man könnte es fast als ein winziges Lächeln bezeichnen, aber auch nur fast. Sie bleibt bei ihrem Thema: Würde er mich überhaupt erkennen?
Das Grübchen verschwindet und ihre Augen und Wangenknochen treten hervor, sie hat so viel abgenommen.
Ja, aber ganz sicher doch, Du mit Deinen Segelohren, sage ich verschmitzt grinsend ihre Reaktion vorausschauend.
Mamaaaa, ich habe keine Segelohren, Lena klatscht mir mit ihrer schwachen Hand auf meinen Handrücken, der immer Nahe neben ihrer Hand liegt. So nahe, dass ich sie jederzeit greifen und stützen kann.
Das Piepen und Saugen und Tropfen um sie herum, nehme ich schon seit Wochen nicht mehr wahr. So nebensächlich ist das mittlerweile geworden. Lena schon, sie hängt ja dran, an dem ganzen Equipment.
Ihr Blick wendet sich zum einzigen Fenster im Raum und wir sehen wie immer dickere Flocken das Glas streifen und daran hängen bleiben, zuerst unverändert und sich dann doch nach und nach zu einer flüssigen Schliere auftauen und ganz langsam nach unten bewegen. Manchmal rutscht eine komplette Flocke einfach so hinab, nachdem sie minutenlang tapfer an der Scheibe hing, hier bin ich, hier bleibe ich, bis sie dann doch die Haftung verliert. Und dann Ruck für Ruck der Erdanziehungskraft folgend nach unten.
Die Luft im Raum spürt die Ruhe. Auch Lena und ich spüren die Ruhe. Die Luft ist wie immer, stehend, stickig, zeitlos, Stillstand.
Was wird mit meinem Zimmer geschehen?
Die Frage überwältigt mich jetzt und ich spüre wie mir erst kalt und dann ganz heiß wird. Mir schießen Tränen in die Augen, dabei habe ich mir ganz fest vorgenommen heute stark zu sein, mindestens so stark wie meine Tochter. Woher nimmt sie nur diese Kraft und Gelassenheit aus diesem winzig dürren Körper? Ich nehme ihre Hand in meine Hände, umfasse sie mit meinen beiden Händen. Umschlinge sie, packe sie in eine Höhle, meine feuchtwarme Händehöhle. Wie ein Cocoon. Durch meine Bewegung, die einzige im Raum, hört man nur ein leises Rascheln oder gar Knistern aus meiner reibenden Kleidung. Mehr nicht, die anderen Geräusche dieser ungewöhnlichen Maschinen vernehmen wir ja nicht mehr. Ich streichel sanft die dünnen blauen Äderchen auf ihrem Handrücken entlang.
Was möchtest Du denn was damit geschieht?
Ein Schmetterlingshaus soll daraus werden.
Ein Schmetterlingshaus?
Ja, so wie auf der Insel Mainau, am Bodensee vor zwei Jahren, weißt Du noch, Mama? Da wo mir der eine Schmetterling in so einem tollen kräftigen blau, hattest Du koboltblau genannt, auf den Kopf geflogen ist. Ich habe mich nicht getraut mich nur einen Zentimeter zu bewegen, weil ich wollte dass der für immer bei mir bleibt.
Kobaltblau, meine Süße, aber koboltblau lasse ich auch gelten.
Und dann ist er doch wieder weggeflogen, erst flatterte er über unsere Köpfe hoch oben herum und dann setzte er sich einfach auf eine andere Person, so eine hässliche Frau. Das vergesse ich nie, ich war richtig traurig und eifersüchtig, ich wollte doch die Auserwählte sein, für den Schmetterling.
Die Auserwählte. Das Wort hängt mir nach ... Lena, die Auserwählte, ja, warum es gerade mein Kind erwischt hat, das kann wohl keiner der vielen Götter erklären.
Werde ich noch denken können, Mama?
Werde ich Euch und alles Erlebte vergessen?
Puh, was für Fragen da hochkommen ... Ich strenge mich an und suche nach Erklärungen.
Niemand weiß das sicher, Lena. Manche denken, es ist wie Schlaf mit bunten Träumen aus dem man aber nie wieder aufwacht. Andere glauben an Himmel, oder dass man wiedergeboren wird, aber in einem anderen Körper oder Gestalt. Als eine Ameise oder ein Stein oder so etwas.
Lena bewegt ihren kleinen Körper ein wenig hin und her, kuschelt sich tiefer in ihr weißes Bett hinein, als wäre es ihr Nest, ihr Zuhause, was es ja auch seit Monaten schon ist. Ich sehe wie ihre Augen schwerer werden.
Andere glauben an Erinnerung oder auch an eine Zwischenwelt, in der man sich noch eine zeitlang als Engel aufhalten kann. Ich weiß es nicht, aber ich glaube ganz fest, dass das Gefühl der Liebe bleibt. Dass man keine Schmerzen verspürt und dass da nicht Nichts sein kann. Viele Menschen glauben, dass sie die bereits verstorbenen Menschen wiedersehen, die sie lieben. Andere denken anders. Wir wissen es nicht.
Ich spüre eine Bewegung in meinen warm verschwitzten Handflächen, ihre Hand löst sich aus meiner. Doch statt dass dieses kleine Händchen sich kurz die Nase am herzförmigen Pflaster kratzt, unter dem die Magensonde ist. Oder sich das Buch greift, welches auf der anderen Bettseite von mir auf ihrem rollbaren Beitisch liegt und ich ihr daraus vorlesen soll, weil sie sich dazu selbst nicht mehr konzentrieren kann, die ganzen Arzneimittel-Cocktails machen einem ja die Birne matschig.
Wobei Lena toll lesen kann, sie konnte das schon im letzten Jahr im Kindergarten, weil sie es da schon unbedingt lernen wollte. War sowieso schon immer ein sehr neugieriges und wissbegieriges Kind, aber wieso war, sie ist ein wissbegieriges, schlaues Kind, was denke ich da. Wieso denke ich war, statt ist.
Meine Gedanken über den War- und Ist-Zustand irritieren mich während Lenas kleine Hand sich aus meiner Fingerhöhle entzieht und sich behutsam auf meine Hand drauflegt. Sie schließt bewusst ihre Augen und dreht ihren Kopf zur Seite. Sie braucht nichts zu sagen, die Medikamente machen müde. Ihre Lippen in ihrem blassen Gesicht sind heute, wie soll ich das beschreiben, eine Farbe, die es so in keinem Malkasten zu kaufen gibt, man müsste sie mühevoll anmischen, was nur gelänge kenne man den Farbkreis und Mischverhältnisse gut. Gelb-rosé würde ich sie versuchen zu beschreiben. So wie der Himmel heute.
Ihre Augenlider zittern, wie die Flügel eines Schmetterlings wenn er sich im noch kühlen Morgengrauen auf Flugtemperatur bringt.
Ihre Atmung aber ist ruhig und entspannt, wie die Flügel eines Schmetterlings wenn auch er durch seine winzigen Öffnungen an den Seiten seines schmalen Körpers seine lebensnotwendige Luft strömen lässt, besonders nach einem langen anstrengenden Flug.
Meine Gedanken führen meinen Blick von Lena ab zu Ihrem kleinen Tisch. Zu dem Strohhalm, der in Lenas Trinkbecher steckt.
Auch Schmetterlinge trinken über einen Halm, ihrem Rüssel. Wir haben damals am Bodensee beobachten können, wie der Rüssel, der aufgerollt unter ihren Köpfchen sitzt ausgerollt, dann an das süße Objekt der Begierde gedockt und mit ganzem Körpereinsatz rhythmisch pulsierend durch seinen Rüssel nach oben, vermutlich in seinen Mini-Magen, gezogen wurde.
Damals lag das Futter auf einem kleinen Unterteller aus Porzellan. Vintage, mit so einem welligen Goldrand, eine Scheibe Orange war es, an dem der orange farbene Schmetterling saugte. Neben anderen Leckereien wie Apfel und Pfirsich, alles ordentlich geviertelt und geschnitten. Stelle mir gerade vor, wie ich in der Küche stehe und das Tagesmenü für hunderte von Schmeterlingen vorbereite, eine schöne Vorstellung.
Das Schmetterlingshaus.
Die Luft riecht nach Moos und Nektar zugleich, fühlt sich weich und warm an auf der Haut, atmet sich leicht stickig, wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die es braucht.
Man sieht es auch an den mikroskopisch winzigen Wassertröpfchen an der Scheibe, ein leichter Nebel, ein feiner Film.
Die Morgensonne dringt trotzdem hindurch.
Ein sanftes Licht fällt durch das mit zarten in altrosa gefärbten halb runtergelassenen Stoffrollo behangene große Fenster von Lenas Zimmer.
Ich schaue hinaus, die Äste der großen Birke im Garten bewegen sich sanft im Wind.
Ein bezauberndes Licht- und Blätterspiel in hellgrauen bis kreidefarbene Schattenformen malt bewegte Muster auf den Boden, einem hellen Holzboden mit natürlicher Struktur, lebendig und warm unter meinen nackten Füßen.
Ein paar abgefallene Blätter liegen darauf verteilt, als wären sie gerade vom Himmel gefallen. Überall grüne und blühende Pflanzen, nicht nur auf der neuen Tapete, die echten in verschieden großen Töpfen.
Andere ranken sich an den Wänden entlang, als würden Sie sich gewollt mit dem Muster der Tapete vereinigen wollen. Hoch und zur Seite. Farn, Orchideen, Hibiskus, Oleander und auch tropische Blumen aller Art, bunt, in allen Farben, Mustern, Größen und Formen. Und wieder andere hängen von der Decke herab in Glaskugeln, wie ganz viele Mini-Welten, die dünnen Triebe mal kürzer, mal länger, wie fedrige Lianen brechen sie aus den Welten aus und wenden sich der Erdanziehungskraft zu.
Und wenn der Wind leise durch die manchmal geöffneten Fenster zieht, so wie jetzt, schwingen sie langsam hin und her und vervollständigen das zauberhafte Schattenspiel auf dem Boden.
Die Fenster mit Fliegengitter geschützt, dass sich kein Schmetterling völlig hilfslos nach Draußen verirrt, sitzen manchmal ein oder mehrere "Linge" daran, neugierig und frische Luft atmend, als wären sie selbst von der hohen Luftfeuchtigkeit überdrüssig.
In der Mitte des Zimmers steht ein kleiner Springbrunnen auf einer weißen Säule, dessen Wasser leise plätschert. Das Geräusch klingt wie ein Atem, der den Raum lebendig hält. Leicht grünlich und ein paar braune Flecken hat der Kelch des Brunnens bereits am oberen Rand. In dem Kelch liegen bunte Glasmurmeln als Landeplatz für die Schmetterlinge, damit sie in Ruhe "picknicken" können, so nannte es damals Lena.
Mal hier, mal da flattern Schmetterlinge in allen möglichen Blautönen durch den Raum. Blau wie das Meer, blau wie der Himmel, blau wie die Dämmerung, blau wie eine Kornblume, blau wie eine Regenlücke nach dem Sturm, auch ein Blau wie Stille in Farbe.
Die Schmetterlinge sind ganz klein und auch recht groß.
Manche sitzen auf den Blättern der vielen Pflanzen und Blüten oder verstecken sich in dem Ästen. Andere schweben kurz über Dich, fast schwerelos oder auch ganz anders, flattern aufgeregt um Dich herum.
Ein Sessel aus Rattan mit den drei bunten Kissen von Lenas alten Bett steht in einer Ecke. Daneben ein kleiner Tisch. Eine kleine, flache Keramikschüssel mit Honigwasser und Lenas Buch, aus dem ich ihr über viele Wochen stückchenweise vorgelesen habe, verzieren den Tisch. Auch hier liegen ein paar abgefallene Blüten, wie absichtlich dort hingestreut.
Wenn es Abend wird, leuchten kleine Lichterketten zwischen den Blüten und Blättern – sie sehen aus wie Glühwürmchen, die den Schmetterlingen Gesellschaft leisten.
Lena ist jetzt bestimmt auch nicht alleine.
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