Leon und der Rest der Welt

Enny

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Leon und der Rest der Welt

Der sechsjährige Leon lebte mit seinen Eltern und seinem fünfjährigen Bruder in Berlin-Charlottenburg. Vor kurzem wurde festgestellt, dass sein Anderssein einen Namen hatte: Autismus. Das beeindruckte ihn nicht weiter, er blieb, wie er war. Zu einem Problem wurde aber, dass seine Mutter ständig damit beschäftigt war, eine passende Therapie für ihn zu finden. Er hörte seine Eltern oft darüber streiten und das tat ihm leid. Leon fand, dass er keine brauchte. Er war glücklich und zufrieden, so wie sein Leben eben war.

An einem heißen Augusttag fand seine Einschulung statt. Alle Kinder im Kindergarten konnten es kaum abwarten, in die Schule zu kommen, nur er nicht. So wachte er an diesem Tag auf und freute sich kein bisschen. Er fühlte sich in seiner schicken Kleidung furchtbar steif und unwohl, seine Bewegungen wirkten noch langsamer und vorsichtiger als normalerweise. Bei der Feier in der Schule empfand Leon alles als zu viel und zu laut. Es wurde besser, nachdem die neue Lehrerin mit den Kindern in ihren Klassenraum gegangen war. Dort standen immer zwei Tische und vier Stühle in einer Gruppe zusammen. Diese kamen ihm seltsam klein vor und er wurde vom Geruch nach Kreide und nassen Putzlappen abgelenkt. Jedes Kind suchte sich einen Platz, aber Leon blieb unschlüssig stehen, bis es zum Schluss nur einen einzigen freien Stuhl gab, und zwar an einem Tisch mit drei Mädchen. Egal, er mochte keine anderen Kinder, redete nicht mit ihnen - er sprach fast nie - und ignorierte sie, wenn sie ihn zum Mitspielen aufforderten. Es meinte es nicht böse, er konnte nur einfach nichts mit ihnen anfangen.

Ein paar Wochen später schob ihm Lea, seine Sitznachbarin, im Unterricht einen kleinen Zettel zu. Darauf stand: „Willst du mit mir gehen?“, darunter war ein Herzchen gemalt. Leon wusste nichts damit anzufangen und fragte Lea in der nächsten Pause: „Wohin soll ich denn mit dir gehen?“ Da drehte sich Lea wortlos um und rannte weg. Er hörte sie aufschluchzen und überlegte verzweifelt, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte.

Fr. Maschke, seine Lehrerin, hatte einige Fortbildungen zum Thema Autismus absolviert und berichtete seinen Eltern von seinen Problemen im Unterricht: „Leon hat Schwierigkeiten, mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen. Er vermeidet jeden Blickkontakt und spricht nicht. Wenn andere Kinder auf ihn zugehen, reagiert er abweisend, teilweise aggressiv. Leon scheint sich für gar nichts zu interessieren. Wie erleben Sie ihn denn zuhause?“

Die Mutter erzählte: „Zuhause beobachten wir das auch so ähnlich. Mir fehlt am meisten, dass er seine Gefühle nicht ausdrücken kann. Er wird z. B. grundlos wütend und kann mir nicht sagen, warum.“

Frau Maschke sagt: „Bei einer meiner Fortbildungen wurde die Delphintherapie bei Autismus vorgestellt. Dadurch kann die Sprachaktivität verbessert werden, die Angst und Aggressivität wird reduziert, der Schlaf wird besser und die intellektuelle Entwicklung unterstützt.

Leons Mutter war von dieser Idee sofort begeistert, sein Vater warf ein:

„Ich habe gehört, dass diese Therapie sehr teuer ist.“

„Na und, was bedeutet schon Geld, wenn Leon endlich geholfen werden kann?“, entgegnet die Mutter.

„Wie wird es Leon verkraften, wenn er nochmal erleben muss, dass eine Therapie nicht hilft? Na gut, versuchen wir es! Das ist dann aber bitte die letzte Therapie.“

Die Reise zum „Europäischen Delfinzentrum“ in Antalya ist schnell organisiert. Leon war davon zunächst nicht zu überzeugen. Denn nach all den bisherigen Behandlungen fühlte er sich immer noch wie ein Außerirdischer zwischen den „Normalos“. Schließlich war er einverstanden, weil er spürte, wie wichtig es vor allem seiner Mutter war. Sie wohnten in Antalya im Hotel direkt neben dem Delfinzentrum. Draußen war es heiß, im Zimmer dagegen angenehm klimatisiert. Leon störte das penetrante Summen der Klimaanlage. Er hörte oft Dinge, die sonst niemand wahrzunehmen schien. Er roch das salzige Meer und fremdartige Gerüche aus der Hotelküche. Im Hotelpool plantschte und lärmte es, schrecklich!

Nachmittags gingen sie zum Zentrum hinüber. Zuerst lernten sie ihren Delfintrainer kennen, der ihnen den Ablauf für die nächsten beiden Wochen erklärte. Danach fand die erste Therapiestunde mit Moa, einem Delfinweibchen, statt. Er durfte sie streicheln, ihre Haut fühlte sich samtigweich an. Ihre Aura war wie eine Seifenblase, die ihn von der Außenwelt abschirmte und beruhigend wirkte.

Leon beobachte im Becken nebenan ein kleines Mädchen, das leise vor sich hin weinte. Warum sie wohl so traurig war? Er versuchte sie aufzumuntern, indem er ihr zulächelte. Es fiel ihm schwer, aber er gab sich große Mühe, sein schönstes Lächeln zu zeigen. Seine Mutter es gesehen und schimpfte: „Leon, hör sofort auf, dem Mädchen Grimassen zu schneiden! Das ist sehr unhöflich.“

„Oh nein“, dachte er, „ich wollte sie doch nicht verletzen, sondern nur ein bisschen aufmuntern.“ Er hatte wirklich noch viel von Moa zu lernen. Ob er das wohl schaffen wird?
 



 
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