Licht und Schall

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Tenebrula

Mitglied
Licht und Schall

Schon seit drei Tagen schleppte ich diese Bürde mit mir herum und wusste mir nicht anders zu helfen.
Der Druck, der mich zu diesem Schritt trieb, war immer größer geworden. Es verstieß gegen die Prinzipien, aber gegen diese hatte ich ohnehin auf mehreren Ebenen verstoßen, ganz zu schweigen von den Naturgesetzen und der Nächstenliebe. Und so fand ich mich ein in dem Beichtstuhl einer katholischen Kirche, obwohl ich weder dieser noch sonst einer Glaubensgemeinschaft angehöre.

"Vater, oder wie man sagt, ich habe gesündigt. Es war so: Ich war auf dem Fahrrad unterwegs, nachts und ohne Licht, es ist kaputt. Seit Jahren fühle ich mich einsam und schwer, daher meine Nachlässigkeit. Ich wollte einfach nur nach Hause. Der Weg war dunkel und führte an der Mauer des Schlossgartens entlang, in diesem schicken Viertel, wo die ganzen Erbsenzähler wohnen. Da schreckte ein nächtlicher Passant neben mir auf und rief mir ärgerlich zu, ich solle doch das Licht anmachen. Ich bremste scharf und nahm meine UV-Schutzbrille herunter, die ich zum Schutz der Bevölkerung Tag und Nacht trage. Ich stellte mich ihm in den Weg und antwortete, dass ich ja sehr wohl Licht habe. Mehr als genug. Und blickte direkt in seine Augen, setzte ihn der Lichtenergie von 200 Sonnentagen aus, in 10 Sekunden. Wie einige Male zuvor erschrak ich erst einmal über die Fähigkeit meiner Lichtsinneszellen, nicht nur Licht zu empfangen, sondern es auch durch angeregte Schwingungen in meinen strukturveränderten Rhodopsinmolekülen auszusenden. Und dabei konnte ich die Wellenlänge auch noch gezielt steuern. Ich begann mit warmen, tiefgehenden Infrarotstrahlen und steigerte mich in meiner Wut bis in den unsichtbaren, ionisierenden UV-Bereich hinein."
"Und dann?", fragte mein unbekanntes Gegenüber auf der anderen Seite des Beichtstuhles nur.

"Dann ... ", ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen, " dann fuhr ich nach Hause. Es war spät, und wie ich schon sagte, es ist eine schwere Sünde gewesen, und wahrscheinlich ist er jetzt blind und hat Verbrennungen dritten Grades im Gesicht und trägt schwere bleibende Schäden davon."
"Aber er ist noch am Leben."
"Ja, wenn man das dann noch Leben nennen kann. Ich weiß, es klingt sehr grausam und obendrein unglaubwürdig. Ich habe mir diese besondere Gabe jedoch auch nicht ausgesucht, ich wollte doch nur ... "
Trotz der katastrophalen Umstände hatte ich mit einem Mal das Gefühl, verstanden zu werden. Es tat so gut, einmal Vertrauen zu erleben. Als Mutant spürt man das genau, wenn man sich sicher sein kann, dass das Gesagte nicht den Raum des Gespräches verlassen wird, nicht einmal am Ende der Tage.
Sehr hatte ich dieses Gefühl vermisst. Ich staunte über meinen so unerschütterlichen Beichtvater. War das die Natur der Vergebung?

Und dann hörte ich es, ein leises Donnern aus dem übernatürlichen Kehlkopf meines mir verwandten Gegenübers. Der Klang schwoll an zu den brausenden Akkorden einer Orgel, wurde immer lauter und höher bis zu einem Kreischen, einem schrillen Pfeifen, das Letzte, was ich je hören würde. Es war die Strafe für den Missbrauch meiner Gabe und die Weitergabe der Information darüber. Beinahe kühl fühlte sich das Blut an, das mir nun aus den Ohren über die Halsschlagadern rann.

Hätten wir uns unter anderen Umständen kennengelernt, wäre meine Einsamkeit möglicherweise nicht so groß gewesen. Nun würde sie festgefroren sein in einem ewig mich umfangenden, lautlosen Wahnsinn.

(2006 - 2021)
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten