Liebe und französisch

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Heinrich VII

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„Ich gebe dem, der es war, jetzt die letzte Gelegenheit sich zu melden und die Tat zu gestehen!“ Der Rektor sah die versammelte Klasse mit dem ganzen aufgebotenen Ernst seiner Autorität an, doch niemand meldete sich. „Wenn das so ist“, sagte er schließlich und sah noch ernster in die stummen Gesichter, „werde ich alle bestrafen müssen.“ Doch auch danach meldete sich niemand.
Kurt war zu der Zeit Realschüler in der neunten Klasse und sie hatten eine Französisch-Lehrerin, die ihre tolle Figur mit hautengen Kostümen unterstrich, meistens eine modisch hochgesteckte Frisur trug und französische Worte so sexy aussprach, dass einem ganz anders wurde. Sie hatte einen Lieblingsschüler, den sie Jean Thomas nannte. Er sah natürlich gut aus, war von stattlicher Figur, intelligent, hatte Schlag beim weiblichen Geschlecht und konnte zu allem Überfluss auch noch passabel malen. Außerdem strengte er sich an, in Französisch immer besser zu werden, so dass die Lehrerin in manchen Stunden nur noch einen Schüler zu haben schien: Jean Thomas.
„Zu mir sagt sie so einen französischen Namen nie“, beschwerte sich Kurt bei seinen Kameraden. Als er einmal den Mut aufbrachte, die Lehrerin danach zu fragen was man aus seinem Namen machen könnte, speiste sie ihn damit ab, dass es für Kurt im Französischen keine Entsprechung gäbe.
Mit der Zeit hasste Kurt es richtig, wie sie mit Jean Thomas schäkerte. Jean Thomas hier, Jean Thomas da, manchmal die ganze Stunde lang, nur mit ihm. Im Geiste hatte Kurt diesen Kerl längst auf den Mond verbannt. Als Jean Thomas ein Bild in der Klasse zeigte, das er gemalt hatte, war sie so begeistert davon, dass er es ihr schenkte, Kurts Frust wurde noch gewaltiger. Kein Wunder, das Bild wurde gut sichtbar in der Klasse aufgehängt und erinnerte einen auf fatale Weise daran, wem alleine die Zuneigung der Lehrerin gehörte.

Einmal, in einer Französisch-Stunde, ging es um die Augen. Zur Übung spielte die Lehrerin ein altbewährtes Spiel mit den Schülern: Die Jungs in der Klasse nennen die Augenfarbe der Mädchen, ohne hinzugucken. Und dann umgekehrt, die Mädchen die Augenfarbe der Jungs. Bescheuert eigentlich, aber Kurt meldete sich, weil er wusste, dass die Augen von Edeltraud blau; also bleu waren und er tatsächlich schon tief in diese Augen gesehen hatte. Zumindest stellte er es so dar, weil die Lehrerin davon beeindruckt sein sollte. Er wollte ihr zeigen, dass er sich mit Mädchen auskenne, ein bisschen angeben, um seine Chancen zu verbessern. Doch die Lehrerin beachtete ihn nur kurz, mit ihren rehbraunen Zauberaugen; wandte sich allzu schnell ab, um sich im nächsten Moment Jean Thomas zu widmen.
„Weißt du die Augenfarbe von einem Mädchen?“
Jean Thomas wusste natürlich die Augenfarbe von mehr als einem Mädchen. Und diese Hühner lächelten ihm alle bestätigend zu, so dass Kurt am liebsten unter die Bank gekrochen und nie mehr aufgetaucht wäre. Vermutlich hätte sich jeder andere an der Stelle mit den Gegebenheiten abgefunden, aber nicht Kurt. Im Gegenteil, er dachte ab dieser Stunde fieberhaft darüber nach, wie man diesem Jean Thomas die Show vermasseln könnte. Es musste eine Möglichkeit geben, diesen Kerl unschädlich zu machen, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Wobei er natürlich nicht daran dachte, ihm etwas anzutun. Es sollte eher darum gehen, ihn kleiner zu machen vor der Lehrerin und sich selbst dadurch größer. Ein ungleicher Kampf, David gegen Goliath, aber Kurt hatte sich das in den Kopf gesetzt. Sein Freund Wolfgang versuchte ihm zu erklären, dass er sich zum Don Quichotte mache und gegen Windmühlen kämpfe. Jean Thomas würde ihn windelweich prügeln, wenn es zum Äußersten käme. Und das würde sein Ansehen in den Augen der Lehrerin bestimmt nicht verbessern.

Schließlich kam der Nachmittag, an dem die Klasse als erstes zwei Stunden Französisch hatte. Alle Schüler waren im Schulhof versammelt und warteten auf die Lehrerin. Mit seinem Freund Wolfgang zusammen tat das auch Kurt. Fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn tauchte der Sportwagen der Lehrerin auf. Alle Augen verfolgten, wie er auf den Hof fuhr, zum Lehrerparkplatz gelenkt und dort abgestellt wurde. Und dann stieg sie aus: Enges, halblanges Kostüm, hochgesteckte Frisur und ein Lächeln und Wiegen in den Hüften, dass selbst die Hummeln und Bienen für einen Moment zu summen aufhörten. Kurt wäre am liebsten auf sie zugerannt, hätte sie am liebsten in die Arme genommen und vor aller Augen geküsst. So schön, elegant und liebenswert wie in diesem Moment hatte er sie noch nie gesehen. Doch da war auch schon Jean Thomas, begab sich zu ihr, sagte ihr augenscheinlich Schmeicheleien und begleitete sie vor aller Augen ins Schulgebäude. Immer wieder Siegerblicke in die neidische Menge werfend.
Kurz bevor die Lehrerin die Tür erreichte, flog ein halb gegessener Apfel. Ein gut gezieltes Geschoß, das sein Ziel auf wundersame Weise fand und voll traf. Platsch!, machte es. Die Lehrerin schrie auf, die Tasche fiel ihr runter und dann stand sie da und drückte eine Hand auf ihr Auge. Alles war rasend schnell gegangen. Noch bevor jemand den Schützen ausfindig machen konnte, waren zwei Schüler unauffällig in der Menge verschwunden und hatten sich im Keller des Schulgebäudes versteckt. In einem Raum, der von niemandem benutzt wurde und wo auch vermutlich keiner nach ihnen suchen würde. Hatte überhaupt jemand mitgekriegt, wer den Apfel geworfen hat? Vermutlich nein, sonst hätte man denjenigen wohl sofort festgehalten und zum Rektor geschleppt.
„Warum hast du das gemacht?“, fragte Wolfgang und sah Kurt an. Sie saßen mit dem Rücken an die Wand gepresst, auf den kalten Bodenfließen. Beide rangen noch nach Atem, weil sie den Weg in den Keller runter gerannt waren. Kurt gab keine Antwort und sah Wolfgang auch nicht an. Warum hatte er das getan? Wusste er doch selbst nicht. Ich habe den Apfel fast aufgegessen und dann ist es einfach passiert …

„Warst du es?“, fragte der Rektor und riss Kurt aus seinen Gedanken.
„Nein!“, antwortete er, ohne rot zu werden.
Man hatte den Schulleiter, kurz nach dem Vorfall zuhause angerufen und einbestellt. Und er war auch sofort gekommen, hatte die Französisch-Lehrerin von jemandem ins Krankenhaus fahren lassen und sich anschließend gleich die Klasse vorgenommen; der sich Kurt und Wolfgang noch rechtzeitig vor dem Klingelton anschließen konnten.
Der Rektor ging weiter zum nächsten: „Warst du es?“ Die ganze Klasse wurde so befragt, einer nach dem anderen. Der Schulleiter war nicht gewillt, so leicht aufzugeben. Doch er bekam immer wieder die gleiche Antwort: „Nein!“
Schließlich stand er wieder vor der Klasse, hatte die Hände in die Hüften gestützt, starrte in die stummen Gesichter und sagte: „Falls derjenige von euch, der es war, sich doch noch zu seiner Tat bekennen will, weiß er wo er mich findet.“ Abwartend sah er die Klasse ein letztes Mal an, doch keiner rührte sich. Im Weggehen sagte er: „Einer von euch muss es gewesen sein.“

Die Lehrerin kam später nochmal zurück zur Schule und hielt noch eine Stunde Unterricht. Sie stand vorne an der Tafel und drückte ein feuchtes Taschentuch aufs Auge. Zum Glück war es nicht ernsthaft verletzt. Wie wir später erfuhren, musste der Arzt im Krankenhaus lediglich die Schwellung versorgen. Kurt tat die Frau leid. Mehrfach spielte er mit dem Gedanken, ihr zu sagen, dass er es war. Aber nein, das konnte er nicht. Der Rektor würde ihn in der Luft zerreissen, vielleicht von der Schule werfen. Jean Thomas würde ihm eine gehörige Tracht Prügel verabreichen.
Doch ein anderer Gedanke stieg in ihm auf: Die Lehrerin würde ihn beachten, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Er würde im Mittelpunkt stehen, wenn auch nicht für eine gute Tat. Aber er hätte für eine Weile ihre volle Aufmerksamkeit. Er, der Schatten, der Unscheinbare, der links liegen gelassene würde für eine Weile in der Gunst ihrer Zuwendung stehen. Auch wenn diese nur aus Wut, Unverständnis und vielleicht sogar Abscheu bestehen würde. Es war Aufmerksamkeit, sie kümmerte sich um ihn. Etwas, was sie unter normalen Umständen nie getan hätte.
 
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petrasmiles

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Lieber Heinrich VII,

eigentlich scheint mir die Geschichte unvollständig - die Szene mit dem 'Geständnis' und die Reaktion der Lehrerin darauf hätte nach meinem Empfinden dazu gehört.
Aber interessant sind diese Blicke in eine Jungenseele allemal.

Liebe Grüße
Petra
 

Heinrich VII

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Hallo petra,

Lieber Heinrich VII, eigentlich scheint mir die Geschichte unvollständig - die Szene mit dem 'Geständnis' und die Reaktion der Lehrerin darauf hätte nach meinem Empfinden dazu gehört.
Ja, klar - es ist unzweifelhaft ein offener Schluss. Ich wollte das Ding eigentlich zuende schreiben, Kurt gesteht etc.
Aber wie langweilig wäre das, wird es doch schon in Kurts Gedanken vorweg genommen. Nach ein paar mal durchlesen,
habe ich mir gesagt; Warum nicht so ein Ende (ohne wirkliches Ende sozusagen) Den Rest überlässt du der Spekulation
des Lesers. Ich will das nicht verteidigen - vielleicht schreibe ich doch noch ein vollständiges Ende. ;)

Aber interessant sind diese Blicke in eine Jungenseele allemal.
Danke dir. Deinem Rating nach scheint es dir, trotz offenem Schluss, gefallen zu haben, was mich freut.
Schön, dass du einen Kommentar hinterlassen hast. :)

Gruß, Heinrich
 
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petrasmiles

Mitglied
Aber wie langweilig wäre das, wird es doch schon in Kurts Gedanken vorweg genommen.
Das ist eben der Unterschied zwischen Fact und Fiction :) Das Ende ist ja 'offen' - und kann sogar dahingehend dramatisiert werden, dass alles ganz anders kommt ... ich denke, dieses 'Langeweile'-Argument ist keines.
Nun ist die Französisch-Lehrerin ein bisschen überzeichnet, sodass man nicht gerade mit einer kritischen Hinterfragung ihrer Rolle rechnen kann, aber immerhin könnte sie seinen 'Schneid' respektieren.
Oder so.

Ja, wirklich gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Heinrich VII

Mitglied
Das ist eben der Unterschied zwischen Fact und Fiction :) Das Ende ist ja 'offen' - und kann sogar dahingehend dramatisiert werden, dass alles ganz anders kommt ... ich denke, dieses 'Langeweile'-Argument ist keines.
Nun ist die Französisch-Lehrerin ein bisschen überzeichnet, sodass man nicht gerade mit einer kritischen Hinterfragung ihrer Rolle rechnen kann, aber immerhin könnte sie seinen 'Schneid' respektieren.
Oder so.

Ja, wirklich gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Shallow

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Hallo @Heinrich VII,

der erste Satz ist grammatikalisch nicht wirklich gelungen (Komma-Setzung überprüfen, da fehlen zwei) und das häufige Mantra "show, don´t tell" kann ich nicht mehr hören, trifft auf deinen Text aber zu. Nur kurz zur Grammatik, etwas später schreibst du "Kurt war zu der Zeit Realschüler, in der neunten Klasse...
Dieses Komma müsste m.E. entfallen. Weitere Beispiele lasse ich weg. Zum Stil:

Kein Wunder, das Bild wurde gut sichtbar in der Klasse aufgehängt und erinnerte einen auf fatale Weise daran, wem alleine die Zuneigung der Lehrerin gehörte.

Abgesehen davon, dass ich es für unglaubwürdig halte, dass eine Lehrerin das Bild (nur) eines Schülers aufhängt, ist die Erzählperspektive falsch. Vorher erzählst du aus Sicht von Kurt, von daher hätte ich "erinnerte Ihn" schlüssiger gefunden, als "erinnerte einen".

Lehrerin beachtete ihn nur kurz, mit ihren rehbraunen Zauberaugen

Naja.

Wobei er natürlich nicht daran dachte, ihm etwas anzutun. Es sollte eher darum gehen, ...

Auch hier erklärst du wieder, statt zu erzählen.

Ich finde die Idee gar nicht schlecht, die Umsetzung hat Luft nach oben.


Ist zumindest mein Eindruck, schönen Gruß


Shallow
 

Heinrich VII

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Hallo Shallow,

der erste Satz ist grammatikalisch nicht wirklich gelungen (Komma-Setzung überprüfen, da fehlen zwei)
Die Kommas sind gesetzt - ;)

und das häufige Mantra "show, don´t tell" kann ich nicht mehr hören, trifft auf deinen Text aber zu.
An welchen Stellen meinst du, dass ich zu viel erzähle und zu wenig zeige?

Nur kurz zur Grammatik, etwas später schreibst du "Kurt war zu der Zeit Realschüler, in der neunten Klasse...
Dieses Komma müsste m.E. entfallen. Weitere Beispiele lasse ich weg.
Ja, stimmt - das hab ich schon verbessert.

Zum Stil: Kein Wunder, das Bild wurde gut sichtbar in der Klasse aufgehängt und erinnerte einen auf fatale Weise daran, wem alleine die Zuneigung der Lehrerin gehörte.
Abgesehen davon, dass ich es für unglaubwürdig halte, dass eine Lehrerin das Bild (nur) eines Schülers aufhängt,
Oh - geht so etwas nicht? :oops:

ist die Erzählperspektive falsch. Vorher erzählst du aus Sicht von Kurt, von daher hätte ich "erinnerte Ihn" schlüssiger gefunden, als "erinnerte einen".
Es ist ein personaler Erzähler, kein Ich-Erzähler. So wie ich das gelernt habe, kann diese Art von Erzähler aus allen möglichen Perspektiven heraus erzählen.
Er ist nicht an eine Person gebunden.

Lehrerin beachtete ihn nur kurz, mit ihren rehbraunen Zauberaugen
Gefällt dir anscheinend nicht - diese Überzeichnung der Lehrerin.

Ich finde die Idee gar nicht schlecht, die Umsetzung hat Luft nach oben. Ist zumindest mein Eindruck,
Danke dir. Luft nach oben haben Texte immer, wenn du mich fragst.
Hat mich gefreut, dass du dich mit meiner Geschichte auseinander gesetzt und mich auf einige Punkte hingewiesen hast.

Gruß, Heinrich
 
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