Linsen

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Tante Anni

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Bis in den Abend durften die Kinder draußen spielen. Viel Autoverkehr gab es nicht, obwohl sie in der Stadt wohnten. Die meisten Kinder hatten nicht viel Spielzeug zu Hause, aber damals wussten sie noch mit wenigen Hilfsmitteln und mit viel Fantasie Spiele zu erfinden. Irgendwas fiel ihnen immer ein. Die Straßen waren ein Sammelsurium an Abenteuerplätzen. Heute spielten sie zu dritt. Und wenn sie nicht in den Straßen herumtollten, wurden wieder einmal die Kellerräume unter die Lupe genommen. Der Tag war schon lang und die Stimme der Mutter des kleinen Antons ertönte bereits zum zweiten Mal: Komm hoch, es gibt Abendbrot! Menno, es sind Ferien, dachte er. Ich kann später noch essen. Aber Anton wusste, wenn Muttern ein drittes Mal am Fenster erscheinen musste, gab es morgen Stubenarrest. Er verabschiedete sich von den anderen Jungs. Wasch dein Gesicht und die Hände, bevor du dich an den Tisch setzt! Wie siehst du nur aus?! Habt ihr euch wieder im Kohlenkeller rumgetrieben?! Dort unten war es einfach knorke. Ein regelrechter Abenteuerspielplatz. Die Kellergänge schienen endlos zu sein, denn sie waren mit mehreren Häuserblöcken verbunden. Seitdem die Zeit des Wartens in den Schutzräumen vorbei war, konnte man auch andere Räume durchstöbern und seiner Fantasie freien Lauf lassen. Mutter stellte eine Schüssel auf den Tisch. Schon wieder Linsen?! Bei Berti gibt es heute Schweinebraten mit… Klatsch, die Hand schlug wie aus dem Nichts ein. Seine Wange brannte, aber er ließ sich nicht anmerken, wie weh es tat. Bertis Familie betreibt seit Generationen die Metzgerei. Und sein Vater hat noch dazu einen Klumpfuß. Er musste nicht jahrelang fort. Im Gegensatz zu deinem Vater, von dem wir noch immer nicht wissen, ob es ihm gut geht! Ich will nie wieder hören, dass andere mehr haben. Oder etwas Besseres. Uns geht es doch gut! Seine Mutter war den Tränen nahe. Wieder einmal.

Am nächsten Morgen klingelte es früh an der Tür. Antons Mutter öffnete zitternd den Brief. Plötzlich legte sie die Hand vor den Mund und fing an zu weinen. Vati kommt! Vati kommt nach Hause! Er lebt! So vergnügt hatte er sie noch nie weinen gesehen. Lachend und ein Liedchen nach dem anderen trällernd, putzte sie sich durch die gesamte Wohnung. Die schon vorher sauber war. In drei Tagen würde Vati ankommen. Anton konnte sich kaum an ihn erinnern. Er war damals noch zu klein, als sein Vater seine Uniform anzog und nicht mehr wieder kam. Was sollte er davon halten, dass bald ein für ihn fremder Mann hier wohnen sollte.

Der besagte Tag kam früher als ihm lieb war. Doch nun stand er mit Mutti am Bahnhof. In seiner Sonntagshose und seinem guten Hemd fühlte er sich unwohl und steif. Mutti hatte ihren besten Hut aufgesetzt. So geschniegelt standen sie bereits eine halbe Stunde vor Ankunft des Zuges an dem fast leeren Bahnsteig. Das Rattern riss Anton aus der Langeweile. Das war er also, sein Vater. Er benutzte zwei Krücken zum Gehen, denn sein linkes Bein war weg. Die Kleidung schmutzig, die Haare zerwühlt. Alles, was Anton durch den Kopf ging war, dass es ab jetzt einen Esser mehr zu Hause gab. Selbst die verhassten Linsen müsste er nun teilen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, vom Bahnhof bis nach Hause. Mutti weinte und lächelte im Wechsel. Die nächsten Tage durfte Anton kaum die Wohnung verlassen. Er sollte sich wieder an seinen Vater gewöhnen. Und umgekehrt. Doch die Stimmung blieb verhalten. Anton konnte mit den Geschichten, die sein Vater erzählte, nicht viel anfangen und er wollte sie auch gar nicht hören. Sein Sinn stand mehr danach mit seinen Kumpels zu spielen. Bald fing die Schule wieder an. Verrückt, noch nie hatte er sich darauf gefreut, so wie jetzt. Mit den Wochen gewöhnten sie sich zwar aneinander, doch eine gewisse Distanz blieb. Für Anton gab es nur einen Menschen mehr, der ihn bevormundete und auf dem Teller selten etwas zum richtig satt werden. Und noch öfter Linsen.

Seinen Vater hatte er in all der Zeit nicht ein einziges Mal lächeln sehen. Er blieb ein mürrischer Grantler. Der die Tage damit ausfüllte, im Sessel sitzend Vergangenes ungefragt zu bewerten und die aktuelle Situation zu verfluchen. Seine Mutter stets bemüht, ihm Jegliches recht zu machen, in dem sie sämtliche Forderungen unverzüglich erfüllte und ihm alles reichte, was er gerade wünschte. Ich will was trinken! Zieh mir den Schuh aus! Manchmal hörte Anton seine Mutter nachts im Schlafzimmer weinen. Sein Vater schlief nach wie vor auf der Couch im Wohnzimmer. Wie lange sollte das so weiter gehen, fragte er sich. Wie lange noch würde sein Vater in dem Sessel sitzen. Eine Arbeit für ihn gab es nicht. Sie lebten von dem, was seine Mutter mit Nähen und Saubermachen verdiente. An manchen Tagen begab sie sich schwer bepackt auf „Hamsterfahrt“ hinaus aufs Land, um mit Lebensmitteln wieder zurückzukommen. Lange durfte Anton dann nicht draußen sein, um seinem Vater bei was auch immer sofort behilflich sein zu können. Aber mehr als Geld benötigten sie eine sinnvolle Arbeit für ihn. Denn er fühlte sich Woche für Woche unnützer. Anton verlebte schöne Zeiten einzig in der Schule. Zu Hause nichts anderes als miese Stimmung und ernste Mienen. Fröhlichkeit schien tabu zu sein. Nicht nur einmal kam ihm in den Sinn, wie schön es ohne Vater war. Und jedes Mal schämte er sich für diese Gedanken.

An einem Montag, Anton kam gerade aus der Schule, erwartete ihn seine völlig aufgelöste Mutter mit rot verweinten Augen. Ein Schubfach der Vitrine stand weit offen. Der alte Armeerevolver fehlte.

Heute geht Anton ab und zu auf den Friedhof und bedankt sich bei seinem Vater dafür, dass alles wieder so wie früher ist.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Tante Anni,

Deine Geschichte ist ein gelungener Einstand. Du thematisierst behutsam und genau ein vielschichtiges Problem der Kriegsheimkehrer und ihrer Familien.

Ein bisschen mehr hättest Du noch das Verhältnis von Vater und Mutter beleuchten können.

Viel Freude an und in der Leselupe wünscht

DS
 



 
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