Lisa

Ruedipferd

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Lisa

„Nun spann uns nicht länger auf die Folter, Lisa. Was gibt es so Wichtiges?“, fragte Juliane interessiert, denn Lisa hatte den Frauen gleich beim Hereinkommen ins Lokal große Neuigkeiten angekündigt.
Lächelnd stellte ihr der Wirt des „Lustigen Musikanten“ eine heiße Schokolade auf den Tisch. Natürlich wusste er, dass die Damen aus der Selbsthilfegruppe nicht als solche geboren worden waren. Robert Weiner hatte keine Probleme damit. Es war ihm egal, ob jemand lieber als Mann oder als Frau leben wollte oder nur das gleiche Geschlecht liebte. Hauptsache, er erwies sich als anständiger Mensch und bezahlte seine Zeche.
Einige dieser Frauen hatten es besonders schwer. Bei Arabella und Juliane konnte man die männliche Vergangenheit nicht nur anhand des äußeren Erscheinungsbildes erkennen, sondern auch unschwer hören. Arabella war Maurer von Beruf und das hinterließ zusätzliche Spuren. Bei Lisa schien alles etwas anders zu sein. Sie hatte im Laufe ihrer transsexuellen Entwicklung sehr viel Modegeschmack hinzugewonnen und konnte sich zudem hervorragend schminken.
„Ich hatte gestern meinen ersten Gutachtertermin bei Loran“, platzte sie ohne Umschweife heraus. „Er war sogar sehr nett zu mir. Ich soll ihm einen Lebenslauf mitbringen und dann wird er mir das Gutachten schnell schreiben.“
Die Frauen horchten sofort auf. Ines schüttelte irritiert den Kopf. „Weiß Annette davon?“, fragte sie. „Nein“, erklärte Lisa. „Ich habe das ganz allein gemacht. Ich will mal eigene Entscheidungen treffen und der Antrag beim Gericht war schon längst überfällig.“
„Es ist natürlich gut und richtig, dass du selbst aktiv bist. Aber du weißt, wie gefährlich Loran für uns werden kann. Wenn du merkst, dass du irgendetwas nicht packst, ruf mich bitte sofort an! Ich möchte nicht noch eine von euch auf dem Friedhof begraben müssen.“ Ines hatte ihre Worte sorgfältig gewählt. Einerseits musste Lisa den nächsten Schritt in ihrer eigenen Zeit selbst gehen. Doch sich ausgerechnet in puncto Selbstvertrauen und Selbstsicherheit bei Loran auszuprobieren, das war nicht gerade nach Ines‘ Geschmack. Lisa besaß ein sehr liebes Herz, aber sie zeigte im selben Atemzug eine erhebliche Naivität. Die sollte ihr in keiner Weise zum Verhängnis werden.
„Wie viele Sitzungen hat er bei dir angesetzt?“, fragte Arabella mit ihrer markanten tiefen Stimme.
„Er hat sich noch nicht dazu geäußert. Er meinte, erst müsse er meinen Lebenslauf lesen und wissen, was ich beruflich mache. Das wird noch schlimm werden. Ich kann mich da nicht outen. Wenn ich Hartz IV beantragen muss, schreibt er mir vielleicht das Gutachten nicht“, seufzte Lisa.
„Warum nimmst du Annettes Angebot nicht an? Sie will die Begutachtung in Hamburg vornehmen lassen und sich dort eventuell in der Nähe ihrer Mutter eine neue Kanzlei einrichten. Ihre Familie hat Geld und sie sagte doch, dass sie dir einen Job besorgen kann. Im Augenblick hat natürlich ihr Vater Vorrang, aber es ist ja abzusehen, wann der stirbt. Warte noch, Lisa.“
Ines überkam auf einmal ein merkwürdiges Gefühl, welches sie als undefinierbare dunkle Angst einordnete. Sie fühlte sich verpflichtet, Lisa vor dem drohenden Unheil zu bewahren, das sie wie eine Vorahnung beschlich und ihr die Kehle abschnürte.
Aber Lisa schüttelte fest entschlossen den Kopf. „Annette hat schon so viel für mich getan und ich freue mich, sie zur Freundin haben zu dürfen. Als zweiten Gutachter nehme ich den Hamburger und ich werde wohl auch mit ihr umsiedeln. Es tut mir nur so leid für meine Mutter. Sie hat es nicht leicht mit meinem Vater und meinem Bruder. Beide trinken mehr als gut für sie ist und Vater hat sie schon öfter geschlagen. Ich möchte gerne in ihrer Nähe bleiben. Aber wenn ich erst offiziell als Frau lebe, wird ihr mein Vater wohl den Umgang mit mir verbieten und mein feiner Herr Bruder will mich sogar verprügeln, wenn ich mich zu Hause in einem Kleid zeigen sollte.“
Lisas Stimme klang traurig. Jedoch spürte sie etwas in Richtung Stolz in sich und wollte Annette, die so viel Gutes für sie tat, nicht mit ihren Problemen belasten. Schon gar nicht im Augenblick. Dem Senator ging es sehr schlecht. Annette hatte nun andere Sorgen.
Nach und nach gesellten sich noch drei weitere Frauen zur Gruppe und die Gesprächsthemen wechselten. Lisa beschloss, am nächsten Tag nach der Arbeit ihre Mutter zu besuchen. Sie würde ihr fehlen und sie wollte sie ganz behutsam auf den neuen Lebensweg und den geplanten Umzug nach Hamburg vorbereiten.

Anna Maruhn blickte ihren Sohn sehr ängstlich an, als sie ihm eine Tasse Kaffee in der alten schäbigen Küche ihrer kleinen Wohnung einschenkte. Die Fünfundfünfzigjährige sah älter aus, als sie tatsächlich war. Das Leben hatte bei ihr deutlich seine Spuren hinterlassen.
Ihr Mann zeigte bereits erhebliche Anzeichen von Alkoholismus und fand deshalb seit Jahren keinen neuen Arbeitsplatz. Das Geld reichte weder vorne noch hinten. Heinz Maruhn setzte die Stütze vom Arbeitsamt gleich in Schnaps um. Wenn er sich über etwas ärgerte, wurde er seiner Frau gegenüber handgreiflich. Mehrfach musste sich Anna wegen aufgeplatzter Lippen, Augenbrauen und letztens sogar wegen eines Unterarmbruchs in ärztliche Behandlung begeben.
Ihr ältester Sohn Dirk stand dem Vater in nichts nach. Er legte zwar nicht Hand an die eigene Mutter, aber er schlug regelmäßig seine Frau und die beiden elf und vierzehn Jahre alten Söhne, insbesondere dann, wenn er wieder einmal betrunken heimkam. Die Frau lebte deswegen seit kurzer Zeit getrennt von Dirk, welcher wieder bei den Eltern schlief.
Carsten, der Jüngste, war anders. Mit ihm konnte sie sich aussprechen. Er zeigte Verständnis für sie, doch seine weiche Art wirkte auf Bruder und Vater wie ein rotes Tuch.
„Sie werden bald kommen. Dortmund spielt gegen die Bayern und das werden sie nachher sehen wollen. Du solltest nach dem Kaffee gehen, damit es keinen Streit gibt“, sagte sie rasch.
Lisa legte der Mutter liebevoll die Hand auf den Arm. „Mama, ich muss dir etwas erzählen. Behalte es bitte für dich. Wenn Dirk und Papa irgendetwas von meinen Plänen erfahren, könnte es zur Katastrophe kommen. Mama, ich werde mein Geschlecht wechseln und als Frau leben. Eine Freundin ist Anwältin und zieht nach Hamburg. Ich will sie begleiten und mir dort als Frau einen Job suchen. Es tut mir nur so leid, dass ich dann nicht mehr für dich da sein kann. Wenn ich alles erledigt habe und genug Geld verdiene, kannst du mich immer besuchen kommen und vielleicht“, sie schluckte und machte eine Pause „trennst du dich ja doch eines Tages von Papa. Keine Frau muss sich von ihrem Mann so behandeln lassen. Mama, du hast etwas Besseres verdient!“
Annas Augen weiteten sich bei Lisas Worten und nahmen den Ausdruck tiefsten Entsetzens an. Natürlich kannte sie Carstens Problem. Aber solange er seine Neigungen nur heimlich auslebte, konnte ihm nichts geschehen.
„Kind, du weißt nicht, was du da sagst! Bitte trink aus und geh, damit sie dich hier nicht finden. Carsten, Junge, daran darfst du nicht einmal denken! Sie werden dich töten. Ein Mann, der eine Frau sein will, das wird Vater nie zulassen und Dirk erst recht nicht. Bitte passe auf dich auf.“
Anna nahm die leere Kaffeetasse und spülte sie schnell unter dem laufenden Wasserhahn ab, gleich so, als wolle sie die Spuren von Carstens Besuch rasch verwischen und vor allem die letzten Worte ihres Sohnes ungesagt machen. Lisa stand auf und nahm sie fest in ihre Arme. „Pass auch du auf dich auf, Mama.“ Dann ging sie zur Tür.
Ihre Mutter sah ihr aus dem Küchenfenster lange nach. „Der Herrgott möge dich beschützen, mein liebes Kind“, schluchzte die verhärmte Frau leise. Eine unheilvolle Vorahnung ließ sie erzittern. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Transsexualität nichts Verwerfliches war und sich die gesellschaftliche Meinung inzwischen in dieser Hinsicht rapide geändert hatte.
In Deutschland gab es mehrere homosexuelle Bürgermeister und selbst der Außenminister bekannte sich zu seiner Ausrichtung. Aber diese Menschen hatten nichts mit ihrem Mann und ihrem Sohn gemeinsam. Deren Leben spielte sich in der Kneipe am Stammtisch ab. Toleranz und Achtung vor den anderen gehörten nicht in ihr Vokabular. Und Transsexualität in der eigenen Familie, das würden sie nie und nimmer hinnehmen.

„Wie geht es deinem Vater?“, fragte Lisa, als Annette sie am Abend anrief. „Er hustet viel und bekommt sehr schlecht Luft. Wir rechnen täglich mit dem Schlimmsten. Er hat eine Patientenverfügung aufgesetzt und bestimmt, dass man ihn zu Hause sterben lassen soll. So können wir ihn nicht ins Krankenhaus bringen, wo er bessere Hilfe hätte. Wir sind uns in den letzten Tagen sehr viel näher gekommen“, meinte Annette mit leiser Stimme. „Und was machst du?“
„Ich muss dir etwas gestehen. Ich war bei Loran und hatte meine erste Sitzung bei ihm. Am nächsten Montag soll ich gegen sechs Uhr abends wieder hin“, erwiderte Lisa. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Schließlich war Annette ihre beste Freundin und wollte ihr helfen. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten.
„Ach, Mädchen, kann man dich nicht einmal fünf Minuten allein lassen, ohne dass du Unfug anstellst? Wir hatten doch abgesprochen, dass wir unseren Weg hier in Hamburg gehen! Der Doktor weiß bereits Bescheid und ist einverstanden.“
Lisa wusste, dass Annette Recht hatte und wollte nicht trotzig werden. Und doch bäumte sich etwas in ihr auf. Sie empfand die gutgemeinte Hilfe als Bevormundung, obwohl sie Annettes Argumente teilte.
„Nun fang du nicht auch noch an. Ines hat schon deswegen auf mir herumgehackt!“, schimpfte Lisa.
„Ich hacke nicht auf dir herum. Und Ines tut das auch nicht. Wir wollen dich nur vor Schaden bewahren. Loran ist ein Fiesling und man weiß nie, was er sich noch ausdenkt. Pass bitte auf, Lisa. Hast du ihm auch von uns erzählt?“
„Nein, natürlich nicht. Er wollte nur etwas über meine Kindheit und meine Familie wissen. Das musste ich ihm ja sagen. Er verhielt sich sehr verständnisvoll, als ich ihm erklärte, wie gemein Dirk und Vater zu mir sind und er wollte sich sogar für mich einsetzen.“
Am anderen Ende der Leitung war es ruhig geworden. „Okay Süße, ich werde in zwei bis drei Wochen wieder zu Hause sein. Dann reden wir weiter. Vielleicht ist doch alles nicht so schlimm, wie wir bisher dachten. Halte die Stellung und grüße die anderen herzlich von mir.“
Lisa atmete erleichtert auf. Eine hässliche Auseinandersetzung mit Annette war das Letzte, was sie sich wünschte. „Danke, das werde ich. Alles Gute für deinen Papa“, hauchte sie in den Hörer.

Oh je! Jürgen, schüttelte sich mit einer schlimmen Vorahnung. Er hatte bisher noch nichts Positives über Dr. Klaus Loran gehört und konnte sich einen derartigen Sinneswandel bei ihm nur schwer vorstellen. Jürgen fürchtete, dass Loran etwas im Schilde führte, und hatte Angst.
Dem Vater ging es schlecht. Nach Meinung der Ärzte dürfte er nur noch wenige Wochen zu leben haben. Jürgen und die Mutter trösteten sich gegenseitig und er wollte Hamburg nicht mehr verlassen.
Um sich etwas abzulenken, begab er sich zusammen mit Magda auf den Speicher. Auf Bitten der Mutter begann er dort aufzuräumen. So verbrachte er viele Stunden zwischen den alten Sachen seiner Vorfahren. Langsam konnte sich der Dachboden wieder sehen lassen. In einer großen alten Holztruhe fand Jürgen diverse Waffen, die einst seinem Großvater gehört hatten.
Dieser kämpfte als Oberstleutnant der Infanterie in der Wehrmacht und war die letzten Kriegsmonate an der Narwa Front in Estland stationiert gewesen. Jürgen besaß aus seinen jungen Jahren im Schützenverein noch einen Waffenschein, obwohl er die Gewehre längst alle verkauft hatte.
Staunend nahm er das Sturmgewehr seines Großvaters in die Hand. Wie hatte der es nur geschafft, es nach Hamburg zu bringen? Die Alliierten überprüften damals die heimkehrenden Soldaten äußerst gründlich, so dass es ihm nur in einer Nacht- und Nebelaktion gelungen sein konnte, die Waffen vor deren Zugriff zu verstecken.
Während Jürgen die schwere Holzkiste weiter auspackte, kam eine Pistole zum Vorschein. Und es war nicht einfach irgendeine! Jürgen sah plötzlich eine echte Tokarew TT30 in seiner Hand liegen.
Aus den Erzählungen des Großvaters in seiner Kindheit kannte er die Geschichte dieser russischen Pistole, die ein gewisser Tokarew in Russland erfunden hatte und von der es nur knapp 1000 Stück gab. Später wurde die Waffe, mit der die Soldaten der Roten Armee kämpften, verbessert und hieß Tokarew TT33. Einem ehemaligen Kommilitonen gehörte ein Waffengeschäft in Dortmund. Der würde vermutlich ein Vermögen für dieses Schmuckstück von Pistole zahlen.
Jürgen beschloss, niemandem etwas von dem Fund zu erzählen. Er hob die Waffe samt Holster und den dazugehörigen Patronen auf und steckte sie im Auto vorsichtig in eine Damenhandtasche, die unter dem Beifahrersitz lag, bevor er mit den Aufräumarbeiten fortfuhr. Er wollte sie mit nach Dortmund nehmen und dem Bekannten bei nächster Gelegenheit zeigen.

Lisa schminkte sich besonders sorgfältig und verließ um halb sechs Uhr das Haus. Sie brauchte mit der S-Bahn nur eine Viertelstunde zur Praxis und wollte rechtzeitig zu ihrem zweiten Termin bei Dr. Loran eintreffen. Die Sprechstundenhilfe nickte wohlwollend mit dem Kopf, als sich Lisa anmeldete. Einen Moment später trat sie in das Arbeitszimmer des Mediziners und erstarrte.
Bitte, nein! In der kleinen Sitzgruppe am Fenster saßen ihr Vater und ihr Bruder Dirk. Der Vater musste getrunken haben. Seine Nase wies eine starke Rötung auf und seine Augen blickten glasig aus dem aufgeschwemmten Gesicht.
Die Stirn ihres Bruders legte sich in starke Runzeln. Auch er machte einen alkoholisierten Eindruck und sah Lisa unverwandt und böse an. Dr. Klaus Loran lächelte hämisch. Er ahnte, was in den beiden Männern in diesem Moment vor sich ging.
„Kommen Sie, Herr Maruhn, setzen Sie sich zu ihrer Familie. Ich habe Ihren Herrn Vater und Ihren Bruder eingeladen, damit sie sich ein Bild von Ihnen machen können. Kommen Sie nur, hier beißt niemand!“
Schüchtern und voller Angst schritt Lisa auf den ihr angebotenen Platz zu. Sie setzte sich und stellte ihre Beine, wie es Frauen im Rock tun, neben sich zusammen. „Ich bin etwas überrascht“, schluckte sie. „Meine Familie hatte ich hier noch nicht erwartet. Das sollte doch erst später geschehen, wie Sie selbst sagten. Sonst hätte ich dem Gespräch heute nie zugestimmt.“
Dr. Lorans Augen leuchteten spöttisch. „Da haben wir uns missverstanden. Ich mache das immer so. Es ist wichtig, dass Eltern und Geschwister wissen, wie der Sohn in der weiblichen Geschlechtsrolle aussieht und ankommt. Sie sehen ja perfekt aus oder was meinen Sie, meine Herren? Er kann eigentlich sofort als Travestiekünstler auftreten, so nennt man doch die Männer in Frauenkleidern. Wirklich, Herr Maruhn. Ich bin sehr beeindruckt. Ihre ganze Haltung kommt richtig weiblich rüber."
Dirk Maruhn sah seinen Vater naserümpfend an. „Müssen wir uns das antun? Komm Vater, ich würde sagen, wir gehen!“ Er stand auf und reichte seinem Vater die Hand, damit dieser sich aus dem Sessel hochziehen konnte.
Heinz Maruhn ließ sich das Angebot seines Sohnes nicht entgehen und ergriff dessen Arm. Er blickte mit angewidertem Gesichtsausdruck auf Lisa und lallte nur noch: „Eine Schande ist das, eine große Schande.“ Dann spuckte er aus und verließ vor dem verblüfften Gutachter das Sprechzimmer.
Lisa war blass geworden. Auch sie erhob sich und sah Loran entsetzt an. „Wie konnten Sie nur! Und ich habe Ihnen vertraut!“ Mit Tränen in den Augen lief sie völlig verzweifelt hinaus.
Was für ein gemeiner Kerl! Draußen war niemand mehr zu sehen. Lisa atmete tief durch. Es war Ende Januar und die Straßen schimmerten vereist. Schnee lag auf den Seitenstreifen.
Fröstelnd zog Lisa ihre Jacke näher an sich. Statt auf der Hauptstraße zu bleiben, wählte sie eine Abkürzung zur S-Bahnhaltestelle. Sie ging langsam den einsamen Weg entlang, der auf der linken Seite an einem Wäldchen vorbeiführte. Ein teilweise eingerissener Schutzzaun trennte den Trampelpfad zu ihrer Rechten von den Bahngleisen. Lisa registrierte die herumliegenden Äste vor ihren Füßen nicht. Schluchzend wanderte sie weiter neben den Gleisen her. Als ihre verweinten Augen aufblickten, sah sie in ein vor Zorn gerötetes Gesicht. „Du alte dreckige Tucke! Du schwule Sau! Hast du keine Ehre im Leib, so herumzulaufen! Du bringst deinen Vater noch ins Grab, aber das werde ich verhindern“, schrie der Mann und schlug Lisa so heftig mit der Faust ins Gesicht, dass sie den Halt verlor und sofort hintenüber kippte.
Dabei stolperte sie auf die Bahngleise und fiel hin. Der Angriff war ohne Vorwarnung gekommen. Der Schlag hatte sie mit voller Wucht getroffen. Mit beiden Händen versuchte sie sich im Gleisbett abzustützen. Ihre Beine wurden schwer. Sie taumelte und langsam schob sich ihr Körper hoch. Das Gesicht war tränenüberströmt. Es war ihr nicht möglich, etwas zu sehen. Durch die aufgeplatzten Lippen floss Blut in den Mund. Sie schmeckte es. Lisa wusste, wer der Angreifer war. Ihr Herz schrie seinen Namen. Warum tat er ihr das an? Sie dachte an ihre Mutter und wollte in letzter Verzweiflung kämpfen. Der zweite Faustschlag, um einiges härter als der erste, traf sie an der Schläfe. Sie stürzte auf das Gleis. Lisa nahm nicht mehr wahr, wie lange sie auf den kalten Schwellen gelegen hatte. Ein helles Licht kam auf die junge Frau zu und gab dabei ohrenbetäubende Schreie von sich.
Um sie herum wurde es totenstill. Lisa fühlte sich im nächsten Augenblick so frei wie noch nie in ihrem Leben und eine Stimme flüsterte ihr zu, in eben dieses Licht hineinzugehen. Sie willigte ein, verschmolz damit und wurde eins mit dem Universum. Ihre Seele bekam mit einem Mal Flügel und flog immer höher und höher. Lisa lächelte dankbar. Ihr Mörder war in der Dunkelheit verschwunden, ohne sich umzusehen.

Jürgen versuchte mehrmals die Freundin anzurufen. Doch sie nahm nicht ab. Eine unerklärliche Angst schnürte ihm den Hals zu und legte sich auf seine Seele. Es ging nicht um den Vater. Die Angst hatte mit Lisa zu tun. Er schrak auf. Das Hausmädchen klopfte an seine Zimmertür. „Herr von Wichern, Sie möchten bitte zu Ihrem Vater kommen.“
„Danke “, antwortete Jürgen und legte das Handy auf seinen Schreibtisch. Die Stunden, die er zuletzt mit seinem Vater verbracht hatte, gaben ihm Kraft. Der alte Senator bestimmte nicht nur das Leben in der Familie, er bestimmte auch, wie mit dem Tod umgegangen werden sollte. Jürgen schmunzelte. Sein Vater machte es dem Sensenmann nicht leicht. Respekt hatte er jedenfalls keinen vor ihm. Er klopfte an die Tür des Krankenzimmers und trat ein. Dr. Heinz Bauer empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln. Er war seit vielen Jahren der Hausanwalt. „Jürgen, ich kenne dich als kleinen Jungen und nun bist du ein Kollege. Wie geht es dir? Dein Vater schwärmt in den höchsten Tönen von dir und deinem Bruder!“ „Hallo, ja, er wird auf seine alten Tage sentimental. Vater, ich kenne dich nicht wieder.“ Jürgen setzte sich aufs Bett und lächelte den Senator an. Der machte eine abwehrende Handbewegung. Leise begann er zu sprechen. „Jürgen, ich habe deinen Bruder immer vorgezogen. Martin ist ein Mann nach meinem Geschmack. Aber ich habe auch dich stets geliebt. Leider es nicht immer gezeigt. Du hast dein Studium gut abgeschlossen und dir eine Anwaltskanzlei aufgebaut. Und deine Mutter hält große Stücke auf dich. Ich habe meinen Freund Heinz hier angewiesen, dir ein schönes Aktienpaket zu überschreiben, wenn ich auf den Friedhof umziehe. Du kannst damit machen, was du willst. Vielleicht lassen sich die Fehler der Vergangenheit auf diese Weise etwas abmildern. Martin kriegt die Firma und wenn du willst, soll er dich als Firmenanwalt beschäftigen. Ich will Frieden zwischen meinen Söhnen. Die Firma muss weiterlaufen. Wir haben eine Verantwortung für unsere Mitarbeiter zu tragen.“ Jürgen schluckte. Dass der Vater ausgerechnet am Sterbebett seine Meinung über ihn so deutlich aussprach, berührte ihn tief und ließ ihn leicht zittern. Er nahm sich zusammen. „Vater, das ehrt mich. Aber ich glaube nicht, dass dein Umzug schon ansteht. So, wie du drauf bist, springt eher der Tod aus Verzweiflung über seinen renitenten Klienten ins Grab.“ Dr. Bauer lachte auf. „Das sehe ich genauso. Jürgen, schließ mal die Tür ab. Ich hab hier etwas für uns.“ Er zog eine Flasche Brandy aus der Tasche. Jürgen sah, wie die Augen seines Vaters zu leuchten begannen und nahm schnell drei Gläser aus dem Schrank. Heinz Bauer schenkte ein. „Prost, Männer“, sagte Friedrich von Wichern. „Das war das Beste des Tages, Heinz. Du bist und bleibst ein wahrer Freund.“ Jürgen nahm das Glas und führte es an die Lippen des Vaters, der genussvoll trank. Die drei Männer saßen noch eine Stunde zusammen und erzählten Geschichten aus ihrem Leben. Als Heinz Bauer sich verabschiedete, kam Magda herein. Einen Tag später starb Friedrich von Wichern friedlich im Kreise seiner Familie.
Jürgen half, wie Martin, seiner Mutter nach allen Kräften und musste für die Unterbringung mehrerer angereister Freunde und Verwandte der Familie sorgen. So blieb ihm wenig Zeit zu trauern. Er dachte an den gelungenen letzten Abend, an dem er von seinem Vater zünftig Abschied genommen hatte. Es gab für die Beerdigung viel zu tun. Jürgen führte unzählige Gespräche mit Geschäftspartnern seines Vaters und vielen Freunden der Familie. Die Beerdigungsfeier glich zeitweilig einem Rummelplatz. Ängstlich schaute er von Zeit zu Zeit auf seine Mutter. Magda wirkte erschöpft, aber sie hielt durch. Sie war es gewohnt ihre Rolle zu spielen und ihre Pflichten zu erfüllen.

Zwei Tage nach der Beisetzung des Vaters stand Jürgen in seinem Jugendzimmer, sah gedankenverloren auf die Elbe hinaus und versuchte erneut Lisa anzurufen. Eine Frauenstimme meldete sich. Na endlich!
„Lisa? Hier ist Annette, warum höre ich nichts von dir?", fragte er erleichtert. Die Frau am anderen Ende der Leitung schluchzte. „Hier ist Anna Maruhn, ich bin die Mutter“, weinte sie leise.
„Annette von Wichern, guten Tag, Frau Maruhn. Ich wollte Lisa, ich meine Carsten sprechen. Wir sind sehr eng befreundet und ich bin zurzeit in Hamburg, weil mein Vater krank war und vor ein paar Tagen verstorben ist. Wie geht es ihr?“
Die Frau brach weinend zusammen. „Mein Sohn ist tot, Frau von Wichern. Er hatte einen schweren Unfall und wurde von der S-Bahn überfahren. Ich kann es gar nicht begreifen. Die Beerdigung war vorgestern. Carsten hatte so gut von Ihnen gesprochen. Er wollte doch mit Ihnen nach Hamburg ziehen“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
Jürgen fühlte plötzlich, wie sich der Boden unter seinen Füßen bewegte. Seine Knie wollten nachgeben. In letzter Sekunde wurde er sich der Gefahr der drohenden Ohnmacht bewusst und steuerte mit aller Willenskraft dagegen an. Lisa, tot? Das konnte er nicht glauben. Ein Unfall? Was war geschehen?
„Aber das ist doch nicht möglich“, stammelte er verzweifelt ins Handy. „Bitte, bitte, sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist! Was ist denn passiert? Hat Loran, der Gutachter, sie gequält?“
„Ich weiß es nicht. Sie hatte einen Termin dort, zu dem auch mein Mann und mein Sohn Dirk von diesem Arzt geladen worden waren. Auf dem Heimweg ist sie auf die Bahnschienen gefallen und dann kam plötzlich ein Zug.“
Jürgens Gehirn arbeitete fieberhaft. „Ich fahre morgen gleich nach Hause und komme ich zu Ihnen, Frau Maruhn. Ich muss unbedingt genau wissen, was passiert ist. Ich bin Anwältin. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, rufen Sie mich bitte an.“
Weinend sank er auf sein Bett. Leere, Wut, Verzweiflung, alles stürzte wie ein Wasserfall über ihn herein. Der Schock raubte seinen Verstand. Loran, schoss es ihm durch den Kopf. Es geschah auf dem Heimweg vom Termin. Nein! Lisa läuft nicht so einfach auf Bahngleise! An einen Unfall glaube ich nicht, dachte er. Er spürte einen tiefen Schmerz, der seine Seele und sein Herz zerriss. Kein klarer Gedanke war mehr greifbar, so sehr er es auch wollte.
Als er erwachte, saß seine Mutter an seinem Bett und hielt zitternd seine Hand. „Jürgen, nein, ich sage ab sofort Annette, liebes Kind, was machst du denn für Sachen? Was ist denn geschehen? Du hattest einen Zusammenbruch und das kann nicht durch Vater gekommen sein!“ Am Fußende lehnte Martin und sah den jüngeren Bruder sorgenvoll und etwas verwirrt an. „He, Kleiner, was hast du? Birgit kam zufällig an deiner Tür vorbei und sagte, mit dir wäre etwas nicht in Ordnung.“ Jürgen brauchte einen Moment, um die Gegenwart zu realisieren. Er hatte versucht, Lisa anzurufen und deren Mutter war am Handy gewesen. Lisa hatte einen Unfall und wurde von der S- Bahn überrollt. Seine beste Freundin Lisa war tot! Und seine Mutter hatte ihn eben mit dem neuen Namen angesprochen. Er trug noch Männerkleidung im Haus. Nun wurde er erstmals in seiner weiblichen Identität bestätigt und das ließ ihn endgültig in die neue Rolle fallen. Jürgen wurde zu Annette. Die begann wieder zu weinen. Langsam wurde ein Wimmern daraus. Sie schmiegte sich fest in Magdas Arme. Stockend begann sie ihr alles zu erzählen. Martin hörte aufmerksam zu. Nach und nach begriff er die Zusammenhänge. Magda hatte ihm bereits von Lisa und der Selbsthilfegruppe berichtet. Es fehlte ihm wegen der Beisetzung bislang allerdings die Zeit, mit Annette selbst zu sprechen. Ein kurzer Blick zu seiner Mutter sagte ihm, was er nun zu tun hatte. Die beiden verstanden sich ohne Worte. Martin nahm sein Handy zur Hand und rief den Hausarzt der Familie.
Zwei Tage nach der schrecklichen Nachricht saßen alle drei zusammen im Wohnzimmer. Martin von Wichern sprach den jüngeren Bruder, der nun seine Schwester sein würde, warmherzig und mitfühlend an. „Mutter hat mir schon das meiste erzählt. Mir ist inzwischen vieles klarer geworden. Du wärst als Kind problemlos als Mädchen durchgegangen und es tut mir sehr leid, dass ich dir damals oft wehgetan habe“, meinte er zu Annette gewandt. Sie lächelte dankbar zurück. „Danke Martin, aber du musst dich nicht entschuldigen. Mutter hat dir sicher schon gesagt, dass der Sohn ihres ehemaligen Kommilitonen mir beim Geschlechtswechsel helfen will. Ich werde bei ihr im Stadtpalais wohnen. Nach der Operation brauche ich noch eine Weile Betreuung und ich kann mir keine bessere Lehrmeisterin für mein neues Leben als Frau wünschen, als unsere Mutter. Ich möchte nur nicht, dass es meinetwegen Probleme in der Firma gibt.“ Martin schüttelte den Kopf. „Das habe ich mit Mutter schon geklärt. Ich bin der Chef und gebe die Richtung vor. Wem etwas nicht passt, der kann gerne den Betrieb verlassen. Insofern unterscheide ich mich nicht allzu sehr von Vater. Die Firma wird in puncto Toleranz vorangehen. Wir haben vor ein paar Tagen die Bewerbung einer Hamburger Transsexuellen im Personalbüro erhalten und wenn sie für den Posten in der Reederei qualifiziert ist, stelle ich sie ein. Sie war als Mann zur See gefahren, wie mir der Personalchef berichtete. Ihr Vorstellungstermin wird nächste Woche sein. So können sich die Mitarbeiter bereits auf dich vorbereiten. Ich glaube nicht, dass jemand von denen aus dem Rahmen fällt. Natürlich müssen wir damit rechnen, dass hinter vorgehaltener Hand über uns geredet wird. Von den Mitarbeitern wird das wohl keiner öffentlich tun. Die Leute wollen ja ihre Jobs behalten. Bei uns in der Firma wirst du ohne Schwierigkeiten arbeiten können. Es werden allerdings eine Menge Fragen auftauchen. Die meisten wissen, dass es Transsexualität gibt, aber kaum einer hat einen Schimmer davon, um was es sich dabei wirklich handelt.“

„Gut, Martin, ich hatte mir eine solche Reaktion von dir gewünscht. Ich habe meine Kinder zu ehrlichen und toleranten Menschen erzogen“, schaltete sich Magda ein. Martin schmunzelte. „Mir gefällt das eigentlich so viel besser. Eine kleine Schwester ist keine Konkurrenz bei den Frauen. Übrigens, Renate als ehemalige Krankenschwester, sieht zum Glück kein Problem mit dir. Sie hat dich als Schwager in ihr Herz geschlossen und lässt dich auch als Schwägerin nicht wieder heraus. Sonst hätte ich sie nicht geheiratet.“ Annette nickte dankbar lächelnd. „Wir haben uns nach der Beerdigung ganz kurz unterhalten. Es geht ihr in der Hauptsache um Julian und das macht auch mir einiges Kopfzerbrechen. Ich wollte deshalb noch nicht in weiblicher Kleidung vor ihm erscheinen. Er ist so traurig wegen Opa und fragt ständig nach ihm. Mit uns ist Vater immer streng gewesen. Aber mit Julian tobte er herum. Typisch Großvater.“
Magda lachte. „Er ist auf allen Vieren durchs Wohnzimmer gehoppelt und hat mit dem Kleinen Häschen gespielt. Die beiden rauften sich auf dem Fußboden. So etwas wäre ihm in eurer Kindheit nie eingefallen. Renate hat mir erzählt, dass sie wegen Julian schon mit ihrer Freundin gesprochen hat. Die ist eine renommierte Kinderpsychologin in Berlin und meinte, sie könne vielleicht helfen. In ihrer Praxis gab es bereits mehrere ähnliche Fälle, so dass sie einiges an Erfahrung auf dem Gebiet aufweisen kann. Sie wollte Renate bei nächster Gelegenheit besuchen und Julian kennen lernen. So wie ich es verstanden habe, reagieren kleine Kinder viel spontaner als wir Erwachsenen. Sie kennen noch keine Vorurteile und sagen ihre Meinung sehr ehrlich. Es kommt darauf an, nicht so viel drum herum zu reden. Es ist, wie es ist, und so ist es okay. Danach gehen sie zur Tagesordnung über.“
Martin stellte seine Kaffeetasse auf den kleinen Couchtisch, nachdem er getrunken hatte. „Sie heißt Marion und wird demnächst in Hamburg an einem Kongress teilnehmen. Sie soll bei uns wohnen und die ganze Familie ungezwungen kennenlernen. Ich glaube, wir machen uns vielleicht zu viele Sorgen. Julian ist ein aufgeweckter Junge, der bekommt das hin. Renate war gestern mit ihm auf dem Friedhof. Er hat sie gefragt, ob der Opa jetzt bei den Engeln im Himmel ist und ob es da auch Hasen gibt. Ich überlege, ihm zur Ablenkung ein Kaninchen zu kaufen. Das muss er pflegen und füttern.“ „Eine gute Idee“, freute sich Magda und wurde wieder ernst. „Willst du wirklich morgen schon nach Köln fahren? “, fragte sie Annette. Die nickte. „Ja, ich muss zurück. Es liegt noch viel Arbeit vor mir, bis ich Frau Walther die Kanzlei übergeben kann. Ich brauche einen Makler, der sich um die Wohnungsvermietung kümmert. Ich will auch Frau Maruhn treffen. Mir kommt das alles so unwirklich vor und ich muss einfach wissen, was passiert ist.“ Ihre Augen bekamen einen glänzenden Schimmer.
Am nächsten Morgen verabschiedete sich Annette von ihrer Mutter. Der Schmerz in ihrem Herzen war noch unverändert, aber ihr scharfer Verstand hatte sich inzwischen dazu geschaltet. Beim Halt an einer Raststätte rief sie Lisas Mutter an, um ihr zu erzählen, dass sie die Heimreise wegen ihres Schwächeanfalls verschieben musste. Die Frauen verabredeten sich für den nächsten Tag an Lisas Grab.

Früh morgens fuhr Annette als Mann gekleidet in ihre Kanzlei und bestellte ihre Mitarbeiterin zur Nachfolgerin. Die Firma konnte nun vollständig zu günstigen Konditionen an Frau Walther übergehen. Jürgen wollte in den nächsten Wochen alle Mandanten im persönlichen Gespräch von der Tüchtigkeit und Kompetenz der Anwältin überzeugen. Am Nachmittag fuhr er in Frauenkleidern zum Friedhof. Anna Maruhn empfing ihn am Hauptportal. Lisas Mutter trug trotz des trüben Winterwetters eine Sonnenbrille. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und über ihrer rechten Wange klebte ein großes Pflaster. Annette erschrak heftig. Als sie Anna auf die Verletzungen ansprach, reagierte diese abweisend. „Das ist nichts. Ich habe mich zu Hause an der Küchentür gestoßen.“ „ Frau Maruhn, was ist geschehen? Lisa läuft doch nicht so einfach auf Bahngleise!“ Während sie Anna Maruhn zum Grab der Freundin folgte, fing die verhärmte Frau schluchzend zu erzählen an. „Eine Woche vor dem Unglück hatte dieser Dr. Loran bei uns angerufen und wollte uns sprechen. Wir sollten zu ihm in die Praxis kommen. Carsten wäre auch da. Mein Mann sagte, dass er das zusammen mit Dirk macht und herrschte mich an, ich soll bloß zu Hause bleiben. Dann fuhren sie am Montagabend kurz vor sechs Uhr los. Ich war vor dem Fernseher zu Hause eingeschlafen und hatte deswegen weder Dirk noch meinen Mann heimkommen gehört. Um kurz nach zehn Uhr wachte ich durch die Türklingel auf. Die Polizei stand draußen. Eine junge Polizistin sagte, dass…“ Anna schüttelte sich in einem Weinkrampf. Annette hielt sie im Arm und streichelte ihre Hand. „Was hat die Polizei Ihnen erzählt, Anna? Ich muss alles wissen.“ Die Frau atmete schwer. „Carsten war nach dem Besuch bei Loran auf dem Weg zur S-Bahnstation gewesen. Da ist ein kleines Wäldchen und der Weg führt sehr nahe an den Gleisen vorbei. Der Zaun war kaputt und die Polizei vermutete, dass er über Drähte und Pfähle gestolpert ist, die nach dem letzten Sturm dort noch auf dem Pfad lagen. Er musste mit dem Kopf auf die Gleise gefallen sein und das Bewusstsein verloren haben. So konnte er die S-Bahn nicht hören und deren Bremsweg war natürlich viel zu lang, als dass der Zugführer noch rechtzeitig anhalten konnte. Dirk bestätigte die Meinung der Polizei. Er erzählte, er hatte Carsten zu dem Wäldchen gehen sehen und sich dann aber um Vater gekümmert, der betrunken im Auto saß. Es sei ein tragischer Unglücksfall gewesen, sagen alle. Ich kann das nicht hören. Warum musste Carsten sterben? Das Gespräch beim Doktor wird ihm schrecklich zugesetzt haben. Mein Mann meinte sogar, es täte ihm recht, dass er jetzt tot ist.“ Sie mussten stehen bleiben. Wieder und wieder wurde Anna Maruhn von Weinkrämpfen geschüttelt. Annette dachte nach. Es klang alles sehr plausibel nach Unfall. Aber auch wenn Lisa ohne Fremdeinwirkung gestürzt sein mochte, so musste sie durch das Gespräch bei Loran so abgelenkt worden sein, dass sie in den Gedanken völlig abwesend, an den Gleisen entlang gegangen war und nicht mehr auf den Weg vor sich geachtet hatte. Der wirklich Schuldige war also in jedem Fall Loran. Ihr juristischer Sachverstand sagte ihr allerdings, dass sie ihn rechtlich wohl niemals dafür belangen konnte. Selbst, wenn er die Familie eingeladen hatte, ohne Lisa darauf vorzubereiten, wie sollte sie einen Zusammenhang zu dem Unfallhergang beweisen? Kein Richter würde Loran deswegen verurteilen. Sie drückte Anna an sich. „Haben Sie einen guten Hausarzt, Frau Maruhn? Sie sollten sich etwas zur Beruhigung geben lassen. Ich werde Ihnen eine Selbsthilfegruppe suchen, die Trauerbewältigung anbietet. Dort finden Sie Betroffene, mit denen Sie sich austauschen können. Das ist wichtig. Wir müssen beide unsere Trauer verarbeiten. Ich werde jeden Schritt meiner Angleichung mit Lisa im Herzen gehen. Sie wird für immer meine beste Freundin bleiben und ich werde sie nie vergessen. Das verspreche ich Ihnen. Wenn Sie mal reden möchten, rufen Sie mich in Hamburg an. Ich bin immer für Sie da!“
Anna Maruhn zitterte und druckste. Sie versuchte allem Anschein nach etwas zu sagen, als beide vor Lisas Grab standen. Fassungslos blickte Annette auf die Blumen zu ihren Füßen. Dort sollte Lisa liegen? Lisa, mit der sie doch gerade erst gesprochen hatte? Das war noch nicht lange her gewesen. Annette begann zu weinen. „Das glaube ich nicht, Lisa, sag, dass das nicht wahr ist!“ stammelte sie und hing nun ihrerseits in Annas Armen. Die schüttelte sich immer wieder. „Anna, das glaube ich nicht. Das kann kein Unfall gewesen sein! Nein, das war kein Unfall, nie und nimmer“, rief Annette aus. „Anna, wer hat Sie so zugerichtet? Solche Verletzungen holt man sich nicht, wenn man gegen eine Tür läuft!“ Tränen überströmt brach es aus Anna heraus. Ihr Mann hatte sie verprügelt. „Dirk war es, er hat seinen eigenen Bruder umgebracht! Er hat ihn im Streit auf die Gleise geschubst. Heute Morgen hat er alles zugegeben. Mein Mann kam zu mir und sagte, wenn ich nur einen Ton davon erzähle, prügelt er mich tot. Dann fing er an mich zu schlagen. Ich will, dass er bestraft wird und auch Dirk muss für das gerade stehen, was er getan hat. Carsten war ein so lieber Junge!“ Annette hielt die schreiende Frau fest. In ihr Anwaltsgehirn kehrte abrupt Ruhe ein. Mord, Totschlag, alles, aber kein Unfall. Sie hatte recht gehabt. „Haben Sie noch mehr Familie, Anna? Ich möchte Sie jetzt sofort von Ihrem Mann und Ihrem Sohn wegholen. Sie dürfen ohne Begleitung nicht in Ihre Wohnung zurück.“ „Ich habe eine Schwester in Essen. Sie ist Witwe und hat mich schon oft eingeladen.“ Annette nahm ihr Handy und reichte es Anna. „Rufen Sie sie bitte an. Ich fahre mit Ihnen nach Hause und helfe Ihnen beim Packen. Wo sind Ihr Mann und Ihr Sohn im Augenblick?“ Anna zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich über die Augen. „In der Kneipe, sie sind immer dort.“ Zitternd wählte sie die Nummer ihrer Schwester. Annette konnte mithören. Die Schwester hieß Christa und kannte anscheinend die Familienverhältnisse gut. Sie beschwor Anna sogar, gleich die Polizei einzuschalten. „Kommen Sie, Anna, unsere Zeit ist knapp. Lassen Sie uns zu Ihrer Wohnung fahren. Wenn Sie in Sicherheit sind, werden wir uns gemeinsam von Ihrem Kind verabschieden.“ Sie sah auf das frische Grab. „Ich werde dafür sorgen, dass dein sinnloser Tod nicht ungesühnt bleibt, Lisa.“ Anna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ließ sich dankbar zum Auto bringen. Eine halbe Stunde später kamen die beiden in der Wohnung der Maruhns an. Wie von Anna vermutet, war niemand zu Hause. Annette half ihr, die wichtigsten Sachen und Kleidung zusammenzusuchen. Sie ließ die Türen ihres Wagens unverschlossen und trug immer wieder Taschen hinunter. Rasch lief sie nach oben und sammelte erneut Kleidungsstücke auf, die Anna aufs Bett legte. Den angetrunkenen Mann, der sich an ihrem Wagen zu schaffen machte, bemerkte sie nicht.

Dirk Maruhn wollte das Portemonnaie seines Vaters holen. Die Männer hatten keinen Kredit in der Kneipe mehr. Während er auf die Haustür zu torkelte, nahm er diverse Taschen wahr, die in einem fremden vor dem Eingang geparkten Auto lagen. Er erkannte die Reisetaschen. Sie gehörten seinen Eltern. Zu Dirks Überraschung war die rechte hintere Tür nicht abgeschlossen. Wütend kletterte er auf den Rücksitz und begann in den Taschen zu wühlen. Kleidungsstücke und Fotos seiner Mutter kamen darin zum Vorschein. Als er auf den Boden des Wagens blickte, fiel ihm eine weiße Damenhandtasche auf, die zur Hälfte unter dem Sitz lag. Etwas umständlich zog er sie heraus, öffnete mit verschwitzten Händen den Verschluss und … fand eine Pistole darin. Da sieh mal einer an. Das ist doch was! Ohne lange nachzudenken nahm er die Waffe, steckte sie in seine Jackentasche und schlug gerade noch rechtzeitig die Autotür zu. Anna und Annette hatten die letzten beiden Koffer fertig gepackt. Anna zog sich schnell zwei Jacken übereinander an. Sorgfältig schloss sie danach die Wohnungstür ab. Als beide beim Auto ankamen versperrte ihnen Dirk den Weg. Während er sich Anna zuwandte, konnte Annette mit zwei Koffern durchschlüpfen. „Was soll das? Wo willst du hin?“ Dirk schrie seine Mutter an und Anna schrie weinend zurück. Sie wolle sich vom Vater scheiden lassen und auch ihren Sohn anzeigen. Annette zog die völlig aufgelöste Frau ins Auto und startete den Motor. Die Situation konnte jeden Moment eskalieren, fürchtete sie. Dirk stand erschrocken mit offenem Mund daneben. Annette fuhr an, konnte aber nicht verhindern, dass der kräftige Mann plötzlich mit der Faust aufs Autodach schlug. Sie atmete tief durch, als sie auf der Stadtautobahn angekommen war. Beide Frauen sahen sich erleichtert an. Das war knapp gewesen. Annas Schwester Christa, die nach dem Tod ihres Mannes in Essen ein kleines Einfamilienhaus bewohnte, machte aus ihrer Ablehnung dem Schwager gegenüber keinen Hehl und nahm Anna sofort auf. Sie bat Annette, mit Anna gleich weiter zur Polizei zu fahren, und beide Männer für ihre Delikte anzuzeigen.
Um fünf Uhr am Nachmittag konnte Annette Lisas Mutter wieder in Essen abliefern. Die Anzeige gegen den Ehemann wegen häuslicher Gewalt war von einer mitfühlenden Polizistin aufgenommen und Dirks mutmaßliches Geständnis protokolliert worden. Danach hatte die Beamtin beide Frauen zum Arzt geschickt, damit Annas Verletzungen dokumentiert wurden. Nach einem Kaffee verabschiedete sich Annette von Anna und deren Schwester und fuhr zum Umziehen in ihre eigene Wohnung. Sie war mit einem Mandanten zum Essen verabredet und wechselte wieder die Rolle. Als Jürgen gekleidet konnte sie trotz erheblicher Müdigkeit dafür sorgen, dass der langjährige Klient ihrer Kanzlei erhalten blieb. Gegen neun Uhr verließ sie den gut betuchten Geschäftsmann. Die Praxisräume von Dr. Klaus Loran lagen auf ihrem Heimweg. Sie zögerte einen Augenblick, als sie dort noch Licht brennen sah. Doch dann hielt sie an und parkte ihren Wagen am Straßenrand in einer schlecht beleuchteten Seitenstraße. Annette stieg aus. Sie fröstelte und atmete die kalte Abendluft ein. Augenblicklich war die Müdigkeit von ihr gewichen. Sie ging ein paar Schritte zurück zu einem modernen zweigeschossigen Praxisgebäude, welches allein stehend neben einem verlassenen Fabrikgelände errichtet worden war. Kurz betätigte sie den Klingelknopf und drückte die offene Haustür auf. Im Praxisflur brannte nur eine kleine Lampe. Sie ging bis ans Ende durch und klopfte an Lorans Sprechzimmer. Eine männliche Stimme antwortete mit: „Ja, bitte“. Jetzt oder nie! Die beste Freundin des letzten unschuldigen Opfers dieser Stimme trat selbstbewusst ein. Als Annette dem hageren glatzköpfigen Mittfünfziger gegenüberstand, überkam sie automatisch ein Würgereiz. Sie stellte sich als Rechtsanwalt Jürgen von Wichern vor und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr angeboten hatte. Er arbeitete weiter an seinem Computer und blickte sie mit ausdruckslosen Augen von der Seite an. Annette trug ihre Männerkleidung souverän. Nichts verriet die Frau in ihr. Sie kam gleich ohne Umschweife zur Sache. Dr. Loran zuckte mit keiner Wimper, als sie ihm vom tragischen Tod Lisas berichtete. Im Gegenteil. Aalglatt, ohne jegliche Gefühlsregung, unterstrich er seine Abneigung gegen die ganze Familie Maruhn. „Ich kann Sie juristisch nicht für den Tod von Frau Maruhn zur Verantwortung ziehen. Aber ich werde dafür sorgen, dass Sie die Moralische für den Rest Ihres Lebens nicht vergessen, Herr Dr. Loran!“ Er sah gelangweilt auf und grinste. „Wie wollen Sie das anstellen? Kein Gericht der Welt wird mich verurteilen! Das haben Sie eben selbst zugegeben.“ Annette sprach ruhig weiter. „Nein, aber die Ärztekammer wird es können. Es gibt Standesverfahren. Ob Jurist oder Arzt, wir haben Regeln in unserem Beruf einzuhalten. Recht und Gesetz zu beachten sind einige davon. Ein Arzt hat die Verpflichtung alles zu unternehmen, was dem Wohle seines Patienten dient. Was Sie mit der Familie Maruhn getan haben, ist an Abscheulichkeit nicht zu überbieten. Ich habe genügend Beweise aus unserer Selbsthilfegruppe für Ihr diskriminierendes Verhalten gegenüber Transsexuellen. Und die Frauen werden mit Freuden gegen Sie aussagen. Ihre Approbation sind Sie los. Am besten, Sie schauen sich schon mal nach einem neuen Job um.“ Annette stand auf. Der unnahbare überhebliche Dr. Klaus Loran sackte nach ihren Worten sichtlich geschockt an seinem Schreibtisch zusammen. Als Annette die Praxis verlassen hatte, starrte er auf seinen PC. Er musste sich etwas einfallen lassen. Der Anwalt meinte es ernst, das war ihm sofort klar gewesen. Zielstrebig ging er zu seinem Bücherschrank. Für Notfälle stand dort in der Bar immer eine Flasche Whiskey bereit.

Loran


Dirk kehrte nach dem Streit mit seiner Mutter äußerst gereizt in die Stammkneipe zurück. Er zog den Vater rasch vom Tresen in eine Nische und bestellte zwei Bier.
Umständlich erzählte er, was er gesehen und gehört hatte. Heinz Maruhn lief rot an und rastete vor Wut aus. „Ich hätte das Weib erschlagen sollen. Die dreckigen Weiber sind alle gleich. Dieses Miststück. Totschlagen muss man sie, alle!!“ schrie er. Dirk sah sich ängstlich um. Die Kneipe war fast leer. Erst am Abend würde mehr los sein. „Ruhig, Vater. Du hast ja Recht. Wir müssen überlegen. Ich krieg das schon hin.“ Er rief den Wirt. „Noch zwei Doppelte und zwei Bier!“ Die Männer tranken in der Folge mehr, als gut für sie sein konnte, doch solange sie ihre Zeche bezahlten, schenkte der Wirt ihnen weiter ein und kümmerte sich nicht um die Gespräche an seinen Tischen.
Am frühen Abend war Heinz Maruhn so voll, dass er nicht mehr aufrecht stand. Sein Sohn rief ein Taxi und brachte ihn nach Hause. Dirk musste während des Nachmittags immer wieder an die Situation in der Praxis denken.
Der Alkohol half ihm, die Angelegenheit so zu sehen, wie er sie sehen wollte. Dieser Loran war schuld an allem. Dirk hatte noch keinen Plan, aber eine innere Stimme drängte ihn dazu, dem Arzt einen Besuch abzustatten.
Nachdem er seinem betrunkenen Vater ins Bett geholfen hatte, schaute er noch einmal auf die Anschrift der Praxis. Zwischenzeitlich untersuchte er die gestohlene Waffe genauer. So ein Fabrikat hatte er noch nie gesehen, geschweige denn in den Händen gehalten. Dirk interessierte sich schon als Junge für Waffen. Aber er konnte sich keine eigene leisten. Bei dieser Pistole war sogar Munition dabei gewesen und neugierig versuchte Dirk sie zu laden, was ihm zu seiner Zufriedenheit auf Anhieb gelang. Sie fühlte sich gut in seiner Hand an. Sie verlieh ihm Kraft und Stärke. Er steckte die Tokarew mit einem Gefühl absoluter Überlegenheit ein, und sah noch eine Weile seine Lieblingsfernsehsendung.
Als der Abspann über den Bildschirm flimmerte, war es bereits dunkel. Jetzt oder nie, dachte Dirk, zog sich entschlossen seine Jacke an und machte sich auf den Weg zu Loran. Am S- Bahnhof kaufte er ein paar Flachmänner. Den Alkohol schüttete er im Vorbeigehen in sich hinein, bevor er sich von der Rolltreppe nach unten zu den Zügen tragen ließ. An der sechsten Haltestelle stieg er aus.
Dirk nahm denselben einsamen Weg, den auch Lisa genommen hatte. Er wusste durch die Gespräche bei Loran, dass dieser selten vor elf Uhr abends nach Hause fuhr. In der Praxis brannte erwartungsgemäß noch Licht. Es war kurz nach halb elf Uhr. Niemand sah Dirk, als dieser zielstrebig das Gebäude betrat.
Kurze Zeit später stand er vor Loran, der sich gerade auf den Schrecken, den ihm Annette eine gute halbe Stunde zuvor bereitet hatte, einen zweiten Whiskey einschenkte. Dirk war ohne anzuklopfen eingetreten. Wie ein wilder Stier baute er sich zornig schnaufend vor Loran auf.
„Was wollen Sie hier?“, herrschte ihn der Arzt an. „Machen Sie sofort, dass Sie rauskommen oder ich rufe die Polizei!“ Loran ging wütend auf seinen ungebetenen Besucher los, um ihn zur Tür hinauszuwerfen. Dirk fühlte sich augenblicklich angegriffen. Er trat ebenfalls näher an den verhassten Arzt heran. Dirks Alkoholpegel war hoch, zu hoch. „Sie sind an allem schuld!“ Er schrie seine Wut heraus und drohte Loran mit der Faust, versuchte ihn am Kragen zu packen. Als ihn dieser abwehren wollte, um den fürchterlich nach Alkohol stinkenden Mann loszuwerden, zog Dirk mit einem Mal die Pistole aus der Jackentasche. Loran starrte entsetzt darauf, griff nach der Waffe, um sie Dirk zu entreißen und sackte im nächsten Moment tödlich getroffen zusammen.
Dirk wusste nicht mehr, wie sich ein Schuss hatte lösen können, er begriff gar nichts. Seine Augen blickten leer und starrten nach unten auf den Toten. Neben der Leiche lag das Projektil. Dirk steckte es wie automatisiert ein und verließ fluchtartig die Praxis. Draußen wehte ein kalter Wind, der ihn wieder etwas klarer werden ließ.
Er lief bis zur nächsten U-Bahn Haltestelle und nahm einen anderen Weg nach Hause. Unterwegs wechselte er die Bahn wieder. Die Waffe musste weg, war ihm zwischenzeitlich in Panik eingefallen, aber er konnte sie nicht einfach so fortwerfen. Mist! Wohin damit? In seinem vernebelten Geist formte sich plötzlich ein Bild. Die Idee war gut. Das er darauf nicht eher gekommen war! Er grinste auf seinem Platz und freute sich über seinen tollen Einfall.
Der betrunkene Mann, der soeben einen zweiten Menschen getötet hatte, fuhr weiter zum Schrebergarten der Familie, schlich sich in den Geräteschuppen und legte die gestohlene Pistole dort unter eine lockere Holzbohle. Anschließend nahm er die S-Bahn in die elterliche Wohnung.

Am nächsten Morgen klingelte es um halb neun an der Haustür der Maruhns. Zwei uniformierte Polizisten verschafften sich Einlass und stellten Dirk ohne Umschweife zur Rede. Seine Mutter hatte ihn angezeigt. Er stand im Verdacht, seinen Bruder Carsten getötet zu haben. Widerstandslos ließ sich Dirk vor den Augen seines gerade aufgewachten Vaters zum Verhör mitnehmen. Heinz Maruhn stank genau wie sein Sohn erbärmlich nach Alkohol und verstand nicht, was die Bullen bei ihm wollten.
Dirk versuchte sich herauszureden, log, verwickelte sich auf der Wache aber schnell in Widersprüche und knickte während der gezielten Befragung ein. Es dauerte nicht lange, bis Dirk Maruhn das erste Mal in seinem Leben eine Gefängniszelle betreten musste. Er stand immer noch stark unter Alkoholeinfluss. Die Polizei ließ ihn seinen Rausch ausschlafen.

Bevor Dirk verhaftet wurde, war um sieben Uhr morgens die Sprechstundenhilfe in die Praxisräume Doktor Lorans gekommen und hatte ihren Chef tot auf dem Boden liegend vorgefunden. Die junge Frau verständigte mit letzter Kraft die Polizei und musste danach mit einem schweren Schock zum Arzt gebracht werden.
Die Kripo begann routinemäßig mit ihren Ermittlungen. Der Körper Lorans wurde in der Rechtsmedizin obduziert. Auffällig für die mit dem Fall betrauten Beamten war die Kugel, die den Arzt durch einen aufgesetzten Schuss direkt ins Herz getroffen hatte. Weder der Gerichtsmediziner noch die Ballistiker konnten zunächst etwas mit dem Geschoss anfangen. Es dauerte einen ganzen Tag, bis die wichtige Nachricht nach Art und Kaliber der Waffe Kriminalkommissar Uwe Marquard erreichte. Die Kollegen vermuteten eine russische Kriegswaffe aus dem zweiten Weltkrieg vom Typ Tokarew TT30 oder 33.
Äußerst selten im Westen zu erhalten, wenn überhaupt. In Sammlerkreisen hoch begehrt und wahrscheinlich ein kleines Vermögen wert. Marquard war platt. Er ließ sofort in den einschlägigen Gruppen herumfragen. Ohne Erfolg. Eine solche Waffe war in ganz Deutschland weder angemeldet, noch wusste irgendein Sammler und Waffenhändler von jemandem, der so etwas Exklusives besitzen könnte. Von der TT30 waren nur 1000 Stück hergestellt worden, erfuhr der Kommissar. Man müsste vielleicht mal bei den russischen Behörden nachfragen.
Marquard setzte sämtliche Hebel in Bewegung und schaltete das Bundeskriminalamt ein. Die notwendigen Gespräche mit Lorans Frau brachten ebenfalls keinen Hinweis auf einen möglichen Täter oder die seltene Waffe.
In den folgenden Tagen lud die Polizei alle Patienten und Patientinnen aus Lorans Kartei vor. Die Transsexuellen bestätigten ausnahmslos Lorans unprofessionelles Verhalten. Marquard ließ die Alibis überprüfen. Diejenigen, die für die fragliche Zeit keines besaßen, kamen nach weiteren Recherchen aber nicht als Täter in Frage.
Von den russischen Behörden erfuhr die Duisburger Kripo, dass die Waffe nur an russische Offiziere ausgegeben worden war und noch heute als russisches Staatseigentum angesehen wurde. Man verlangte deshalb die sofortige Rückgabe an Russland. Der Fall beschäftigte dort höchste Regierungskreise, welche bei der Bundesregierung vorstellig wurden.
Marquard fühlte sich langsam der Verzweiflung nah. Dann half ihm die professionelle Polizeiarbeit seines Mitarbeiters. Dieser war inzwischen auf vier weitere Todesfälle aus Lorans Praxis gestoßen.
Als Lisas Tod untersucht wurde, kam es zur Vernehmung der Familie Maruhn. Somit wurde Dirk, der zwischenzeitlich in U-Haft saß und auf seinen Prozess wartete, in Verbindung mit Dr. Loran gebracht.
Aber während der Verhöre schwieg Dirk eisern. Heinz Maruhn hatte seinem Sohn bereits einen Anwalt besorgt, welcher ihm Hoffnung auf eine recht milde Strafe machen konnte. Der Alkoholgenuss an diesem Abend war erheblich und Dirk hatte nie vor, seinen Bruder zu töten. Der Streit der Brüder war eskaliert. Dirk würde wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge und allenfalls unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Er war nicht vorbestraft und könnte somit wohl mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.
Dirk hatte sich beruhigt und sah dem Prozess ausgenüchtert sehr gelassen entgegen. Er dachte nicht im Geringsten daran, der Polizei etwas über den Tod Lorans zu erzählen. Zumal er überzeugt davon war, die Waffe so gut versteckt zu haben, dass sie niemand finden würde. Die wissen gar nichts und können mich mal, dachte er siegessicher, als er am Abend nach dem Verhör in seiner Zelle einschlief.

Annette fuhr nach dem abendlichen Besuch bei Loran befriedigt in ihre Kölner Wohnung zurück. Sie wollte ihn auf ihre Weise fertigmachen. Schließlich bin ich Anwältin, dachte sie. Loran würde nie wieder ein Gerichtsgutachten für Transsexuelle schreiben. Wahrscheinlich dürfte er nicht einmal mehr als praktischer Arzt jemand ein Pflaster auf eine Wunde kleben. Sie konnte wenigstens auf diese Weise ihre Freundin rächen und gleich noch ein gutes Werk für die Nachwelt tun. Die nächsten Tage verbrachte sie damit, ihre Sachen zu sortieren und einzupacken. Eine Maklerin war von ihr bereits mit der möblierten Vermietung ihrer Wohnung beauftragt worden. Die exklusive Immobilie würde sehr schnell einen Interessenten finden, hatte ihr die Frau erklärt und Annette gebeten, ihren Auszug möglichst rasch vorzubereiten.
Sie dachte daran, einen Teil ihrer Möbel kurzzeitig in einem Container einzulagern und eventuell einige Wochen in ein Hotel zu ziehen. Sie hatte Ines angerufen und ihr von der Wende in Lisas Tod berichtet. Ines zeigte sich erleichtert und erschüttert zugleich, als sie hörte, dass es kein Unfall war. Dass der eigene Bruder die Schuld am furchtbaren Tod ihrer Freundin Lisa trug, konnte sie überhaupt nicht verstehen.
Diskriminierungen in der Familie kannte sie selbst, aber sie war sich sicher, dass wohl niemand von ihren eigenen Leuten so weit gehen würde. Ein paar Tage später kam Ines nach Hause. Die Zeitung vom Vortag erregte ihre Aufmerksamkeit. Genauer gesagt ein Foto auf der Titelseite. Den Mann auf dem Bild kannte sie. Es war Doktor Loran. Sie überflog den Artikel, griff völlig geschockt zum Telefon und wählte Annettes Nummer. „Hier ist Ines, hast du die Zeitung gelesen, Annette?“, rief sie aufgeregt in den Hörer. „Nein, ich bin schwer mit Packen beschäftigt. Dazu fehlt mir im Augenblick die Zeit. Was gibt es denn?“
Atemlos berichtete Ines von Lorans Tod. Oh mein Gott! Annette erschrak sehr, als sie den mutmaßlichen Todeszeitpunkt hörte. Das musste passiert sein, kurz nachdem sie selbst Loran verlassen hatte! Sie dachte nach. Aber ihr war niemand aufgefallen, als sie zum Auto zurückging. Da lebte Loran noch. Die Straßen waren menschenleer gewesen.
Sie hörte mit halbem Ohr Ines zu. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Loran zurück. Sie war die letzte Person, die ihn lebend gesehen hatte. Sie wusste, dass sie für die Polizei die wichtigste Zeugin sein würde und erstarrte.
Möglicherweise kam sie für diese als Täterin in Frage?
Die Waffe? Sie fragte Ines danach. Annette erfuhr, dass es sich dabei um eine sehr seltene aus Russland stammende handelte. Geschockt saß sie auf der Couch. „Danke, Ines.“ Annette überlegte fieberhaft. Die polizeilichen Ermittlungen würden alle Patienten und die Familie Maruhn treffen.
Himmel, nein! Somit wäre es eine Frage der Zeit, wann sie zur Befragung vorgeladen wurde! Sie stand auf, lief in den Fahrstuhl und riss in der Tiefgarage die Tür ihres Mercedes auf. Die Tokarew hatte sie in den letzten Tagen völlig vergessen.
Unter dem Sitz lag die Handtasche, ohne Waffe. Wer? Annette ließ den Nachmittag vor dem Besuch bei Loran vor ihren Augen ablaufen. Da waren der Friedhof und Anna gewesen. Anna schloss sie gleich aus. Die würde so etwas nie anfassen. Dirk? Er stand neben dem Auto, als sie mit Anna zur Tür herauskam, und sie hatte die Autotüren die ganze Zeit nicht abgeschlossen. Sie schalt sich. Dass hätte ihr als Anwältin niemals passieren dürfen! Aber der Fehler war nicht mehr gut zu machen. Dirk hätte ungehindert unter den Beifahrersitz greifen und die Waffe aus der Handtasche entwenden können.
Bleib ruhig! hämmerte sie sich ein. Schmauchspuren würde man bei ihr keine finden, zudem trug sie wegen der eisigen Kälte während des Besuchs bei Loran Handschuhe. An der Tasche müssten die Fingerabdrücke des Diebes sein, sofern er oder sie keine Handschuhe getragen hatte. Wenn die mit Dirks übereinstimmten, würde die Polizei den Täter schnell überführen.
Da war noch etwas sehr Wichtiges. Sie musste sich bei der Polizei melden, alles andere würde nur ein schlechtes Licht auf sie werfen und sie verdächtig aussehen lassen. Scharfsinnig schaltete sie ihren PC ein und schrieb. Nach einigen Minuten hatte sie die ausgedruckten Seiten gelesen und unterzeichnet. Die Schriftstücke kamen in ihre Aktenmappe.
Nach einer Tasse Kaffee fuhr Annette ohne Umwege zum Polizeipräsidium. Es dauerte nicht lange, bis sie den zuständigen Kommissar fand. Er war ein alter Bekannter.
„So eine Überraschung!“ Uwe Marquard stand erfreut auf, als Annette, die er allerdings als Anwalt Jürgen von Wichern aus seinen Strafprozessen kannte, eintrat. „Hast du Zeit, Uwe? Ich muss dir etwas erzählen und das könnte länger dauern. Es hat mit dem Fall des getöteten Arztes zu tun.“ „Dann hole ich uns einen Kaffee. Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“ Marquard ging ins Nebenzimmer und kam wenig später mit zwei Bechern Kaffee zurück. „So, schieß los. Du machst mich neugierig.“ „Also, zunächst einmal, ich bin Mann zu Frau transsexuell und habe begonnen in weiblicher Rolle zu leben. Dabei bin ich in Dortmund auf eine Selbsthilfegruppe gestoßen und habe dort Lisa Maruhn kennen gelernt. Sie ist…“ Annette hielt inne, schluckte. „Sie war meine Freundin. Wir wollten die Geschlechtsanpassung gemeinsam in Hamburg durchführen.“ Marquard starrte sie an und hob irritiert die Hand. „Stopp, Jürgen. Das geht mir zu schnell. Ich kenne dich seit Jahren als Mann. Seit wann hast du diese Anwandlungen?“ Annette atmete aus. „Das tut nichts zur Sache, Uwe. Ich erzähle dir später von mir. Bitte höre mir zu. Carsten Maruhn nannte sich Lisa und sie war bei Loran wegen ihres Gutachtens in Behandlung. Loran war in der Gruppe als Fiesling bekannt. Er zögerte die Gutachten heraus und verhielt sich den Patienten gegenüber diskriminierend. Er hatte ohne Lisas Wissen ein Familientreffen der Familie Maruhn anberaumt. Zu dem Treffen kamen Dirk Maruhn und sein Vater. Beide bereits angetrunken. Es kam zum Eklat. Lisa lief völlig verstört durch das Wäldchen zur S- Bahnstation. Unterwegs wurde sie mutmaßlich von Dirk abgefangen, niedergeschlagen und den Rest kennst du.“ Der Kommissar nickte mit dem Kopf. „Wir haben sein Geständnis. Der Richter hat Untersuchungshaft angeordnet. Was hat das mit dem Tod Dr. Lorans zu tun?“ Annette nahm einen Schluck Kaffee. „Ich war am Abend kurz vor seinem Tod bei ihm gewesen. Und als ich ging, lebte er noch. Wenngleich etwas geschockt. Ich hatte ihm nämlich erzählt, dass ich die Ärztekammer über sein widerliches Verhalten informieren werde. Als Anwältin verfüge ich über nachhaltige Methoden jemand das Handwerk zu legen. Ich habe die Praxis gegen zehn Uhr am Abend wieder verlassen. Irgendjemand muss nach mir gekommen sein und den Mord verübt haben.“ Uwe Marquard sah Jürgen an. Er war ziemlich lange im Geschäft und verfügte über einige Erfahrung im Polizeidienst. Der Fall wurde interessant. Jürgen kannte er als Anwalt aus den Strafprozessen. Zwischen den beiden Männern hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Marquard erfuhr plötzlich, dass auch er in seiner Menschenkenntnis nicht vor Überraschungen gefeit war. Aber er glaubte nicht an Jürgens Schuld. Einen Mord würde dieser nicht begehen. Zumindest nicht in der Form eines vorsätzlichen Kapitalverbrechens. Mit einem Brief an die Ärztekammer hätte er Lorans Leben ruiniert. Die Kammer kannte bei Standesvergehen keine Gnade. Man hätte dem Arzt die Approbation entzogen. Der Ruf eines ganzen Berufsstandes stand auf dem Spiel. „Ich habe deine Aussage jetzt nicht auf Band. Du musst gleich alles noch einmal dem Kollegen erzählen, der das Protokoll aufnimmt.“ Annette lächelte, öffnete ihre Aktenmappe und gab dem Kommissar zwei bedruckte Seiten. „Ich hab es schon unterschrieben. Das Datum ist von heute.“ Marquard nahm den Bericht überrascht in die Hand. Natürlich, er hätte es wissen müssen. Jürgen war Rechtsanwalt und Formalitäten gehörten in seinem Beruf dazu. Aber wenn Jürgen es nicht getan hatte, wer hätte ein Interesse daran gehabt, den Arzt zu töten? „Lies bitte meine Stellungname“, forderte Annette den Freund auf. Nach einem Schluck Kaffee begann Uwe Marquard mit dem Bericht. Er hatte wirklich in seinem Berufsleben schon einiges erlebt, aber was er jetzt las, verblüffte ihn vollends. Entgeistert blickte er zu Jürgen. „Boar, so etwas ist mir in meiner gesamten Laufbahn noch nicht untergekommen. Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, wärst du jetzt mein Hauptverdächtiger. Jürgen, das kann man sich nicht ausdenken. Aber unsere Bekanntschaft steht uns im Weg. Ich muss den Staatsanwalt informieren. Das ist alles so ungeheuerlich. Wir brauchen für jeden unserer nächsten Schritte seinen Segen, sonst kann die Sache für uns beide böse enden.“ Annette war mehr als einverstanden. Sie dachte darüber genauso wie ihr Freund Uwe. Nur der Staatsanwalt und das Geständnis des wahren Täters konnte sie reinwaschen. Auf jeden Fall mussten sie dem wirklichen Mörder die Tat nachweisen können. Und da lag der Haken. „Ich bin dabei. Wenn er anwesend ist, lass uns gleich zu ihm gehen“, sagte sie zustimmend. Sie trank ihren Kaffee aus. Der Kommissar nahm den Hörer seines Diensttelefons ab und wählte. Staatsanwalt Röder hatte Zeit. Es waren nur wenige Schritte bis zu seinen Räumen, doch sie kamen Annette wie eine Ewigkeit vor. Trotz ihrer juristischen Fachkompetenz hatte sie ein komisches Gefühl. Der Staatsanwalt war in den vergangenen Fällen nicht immer ihr Freund gewesen. Sie hatte ihm mehrfach im Gerichtssaal widersprochen und geringere Strafen, sogar Freisprüche für ihre Mandanten herausgeholt. Annette hoffte darauf, dass sich Röder professionell verhielt. Uwe klopfte an dessen Zimmertür und wurde sofort hereingebeten. Nach einer kurzen Einführung händigte ihm der Kommissar Annettes Schriftsatz aus. Röders Stirn legte sich beim Lesen in tiefe Falten.
Als er fertig war, sah er Annette mit durchdringendem Blick an. „Das ist stark. Wenn ich Sie nicht aus meinen Strafprozessen als brillanten Anwalt in Erinnerung hätte, würde ich mit Ihnen auf der Stelle zum Haftrichter gehen. So viele Zufälle kann es im Leben gar nicht geben. Aber gut, ich habe schon Pferde kotzen sehen. Was gedenken Sie beide jetzt zu tun?“ Uff. Annette atmete auf. Die Geschichte war tatsächlich einem bösen Märchen entnommen. Sie mussten den wahren Täter fassen. Und das, so schnell wie möglich, bevor die Presse dem Fall zu viel Bedeutung beimaß. Das sagte sie frei heraus. Uwe pflichtete ihr bei. „Finden Sie die Tatwaffe, möglichst mit den Fingerabdrücken des mutmaßlichen Täters, dann kann ich Ihnen helfen. Ich hoffe, Sie wollen in diesem Fall nicht auch noch die Verteidigung übernehmen, oder?“ meinte Röder, zu Annette gewandt. Daran hatte die noch gar nicht gedacht. Nein, das wollte und konnte sie nicht. Obwohl, wenn sich ihr Verdacht als wahr herausstellte? Nein, sie fühlte sich befangen. Das sollte machen, wer Lust dazu hatte. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Staatsanwalt, dass hatte ich in der Tat nicht vor. Aber ich habe die Handtasche dabei, in der ich die Waffe aufbewahrt hatte. Sie liegt draußen im Büro von Herrn Marquard. Es können nur meine Fingerabdrücke und die des Diebes darauf zu finden sein. Ich hatte die Tasche vor langer Zeit gekauft und sie sauber abgewischt im Auto verstaut, bevor ich die Pistole hineinlegte. „Worauf warten Sie noch, Marquard, ab in die KTU damit. Und, Herr von Wichern, ich hoffe, Sie haben Ihre Waffenbesitzkarte noch. Ihr Verhalten, die Pistole unter den Autositz zu legen und nur in der Handtasche aufzubewahren, war grob fahrlässig! Und die Munition daneben, die perfekte Einladung für jeden Dieb. Ich werde abwarten, wann Sie mir beide den Täter präsentieren und danach entscheide ich, ob ich Ihnen ein Bußgeld aufdrücke oder es bei dieser Verwarnung belasse“, sagte Röder ernst. Leise schmunzelte er in sich hinein. Trotz beruflicher Quengelei mochte er Jürgen von Wichern. Der Anwalt legte wie er sehr viel Wert auf Professionalität. Das gefiel Röder. Er dachte geradlinig. Er verabschiedete seinen Besuch. „Setzen Sie alle Hebel in Bewegung, Herr Marquard. Ich möchte mich nicht noch lange mit unangenehmen Fragen der Presseleute herumschlagen müssen. Wir brauchen Ergebnisse. Sie kriegen von mir, was Sie benötigen um diesen Fall schnellstens aufzuklären.“
Jürgen übergab Uwe in dessen Büro die Handtasche, die er mit einem Kochlöffel in eine Plastiktüte bugsiert hatte, um die Fingerabdrücke des möglichen Pistolendiebes nicht zu verwischen. Die Tüte kam sofort zur Kriminaltechnik und kurze Zeit später erfuhren beide, dass die Fingerabdrücke darauf einerseits zu Jürgen und andererseits zu Dirk Maruhn gehörten. Jürgen hatte also die Wahrheit gesagt.
Sichtlich zufrieden nahm dieser das Ergebnis zur Kenntnis. Uwe Marquard nutzte die Gelegenheit, um seinen Freund zu ärgern. „Wir haben noch kein Geständnis und die Waffe muss erst noch gefunden werden. Solange sind Sie mein Hauptverdächtiger, Herr Anwalt. Aber das müssten Sie eigentlich wissen“, sagte er mit strengem Tonfall und konnte sich dabei ein Lachen nicht verkneifen. „Ich hoffe, du beantragst auf der Stelle eine Hausdurchsuchung bei den Maruhns und ich würde mich freuen, wenn ich bei Dirks Vernehmung dabei sein kann.“
Uwe hatte während des Gesprächs mit der JVA telefoniert und seinen Besuch angekündigt. Er lachte siegessicher. „Komm, wir fahren rüber“, sagte er, stand auf und schob Jürgen den Gang weiter zum Büro des Staatsanwaltes. Der hatte schon vorgearbeitet und händigte seinem Kommissar wortlos das begehrte Stück Papier aus, ohne aufzuschauen.
Eine Viertelstunde später saßen die beiden im Auto. Uwe ließ sich die Herkunft der seltenen Waffe erklären und erzählte von seinen Bemühungen, Näheres darüber zu erfahren. Falls es sich um die Mordwaffe handelte, würde sie nach der Gerichtsverhandlung gegen Dirk wohl in der Asservatenkammer verschwinden. Jürgen grinste. Ihm war eine Möglichkeit eingefallen, sich für die Worte Uwes zu revanchieren.
„Das wird dir Sibirien einbringen, mein Guter. Die Russen verstehen keinen Spaß mit ihrem Staatseigentum.“ Aber Marquard konterte geschickt: „Und was ist mit dir? Du wolltest sie für viel Geld verhökern! Da werden wir wohl beide die nächsten Winter in der Tundra verbringen! Wobei, wir sind da. Schau dich schon mal um und suche dir eine hübsche Zelle aus.“ Beide sahen sich schmunzelnd an. Sie waren ein gutes Team.

Polizei? Schon wieder? Dirk ahnte nicht, was sie noch von ihm wollten. Widerwillig folgte er dem Vollzugsbeamten ins Sprechzimmer der Anstalt. Er hatte die Schläge auf Lisa zugegeben und ihnen über alle Umstände, die dabei eine Rolle spielten, berichtet. Sein Anwalt riet ihm, sich gut im Knast zu führen, damit würde der Prozess schon nicht so schlimm für ihn werden.
Die Gerichte waren allerdings überlastet und so musste er sich noch etwas gedulden.
Dirk war guten Mutes. Sein Vater besuchte ihn regelmäßig. Einzig die Weigerung Annas, ihn zu sehen, bedrückte ihn.
Als er plötzlich Annette gegenüberstand, die er trotz ihrer Männerkleidung sofort erkannte, war Dirk beunruhigt und dachte gleich an Loran und die Waffe, die er gestohlen hatte. Eine innere Stimme riet ihm allerdings zu schweigen. Er kannte den Kommissar nicht. Sein Anwalt fiel ihm ein. Der würde wissen, was zu tun war. Und wirklich: Uwe Marquard konfrontierte seinen Hauptverdächtigen sogleich mit den Fingerabdrücken an der Handtasche.
Dirk überlegte kurz und gab zu, diese angefasst zu haben, als er in den Taschen seiner Mutter wühlte. Die Waffe hätte er aber nie an sich genommen. Und bei Loran war er am Mordabend nicht gewesen, sagte er. Er erschrak sehr, als ihm Marquard von der geplanten Hausdurchsuchung erzählte.
Ich muss Vater anrufen, schoss ihm durch den Kopf. Ich muss einen Weg finden, Vater zum Schrebergarten zu schicken, damit er die Waffe entsorgt, bevor die Bullen sie finden, dachte er und war froh, als die beiden ungebetenen Besucher wieder verschwanden. Wie bekomme ich das nur hin? Verzweifelt überlegte Dirk in seiner Zelle, bis ihm eine Idee kam. Schließlich durfte er jederzeit seinen Anwalt kontaktieren.
Marquard und Jürgen hatten nicht mit einem Geständnis gerechnet und verließen die Anstalt nach dem Gespräch mit Dirk. Die Anstaltsleitung bekam allerdings den Auftrag, jedes Telefonat mitzuschneiden und jedes Besuchergespräch genauestens zu verfolgen.
Sie fuhren im Anschluss zu Maruhns Wohnung. Die Mitarbeiter des Kommissars warteten dort schon vor der Haustür auf ihren Chef. Heinz Maruhn öffnete ahnungslos. Er verstand nicht, worum es ging. Einige Minuten später klingelte sein Handy. Dirks Anwalt war dran und faselte etwas von einer Jacke, die im Schrebergarten läge. Trotz seiner Alkoholkrankheit begriff Heinz instinktiv, dass der Anruf im Zusammenhang mit der Polizei stand, die gerade seine Wohnung auf den Kopf stellte. Beunruhigt wartete er auf das Ende der Aktion, um selbst in den Schrebergarten zu fahren.

Jürgen war im Grunde über das negative Ergebnis der Hausdurchsuchung nicht enttäuscht, er hatte nicht damit gerechnet, die Waffe in der elterlichen Wohnung Dirks zu finden. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er telefonierte vor der Tür mit Anna. Ob Dirk vielleicht als Kind ein besonderes Versteck gehabt hatte? Anna erzählte vom Schrebergarten der Familie, der sich nicht weit von der Wohnung befand. Jürgen bedankte sich und versprach, sie noch am selben Tag zu besuchen. Er zog Uwe beiseite. Die Anschrift des Gartens flüsterte er ihm ins Ohr. Uwe nahm sofort zwei uniformierte Beamte mit und fuhr los.
Die Männer begannen mit der Durchsuchung der Laube. Sie sahen sich gründlich um. Auch der angrenzende Geräteschuppen erregte ihre Aufmerksamkeit. So sehr sie sich aber abmühten, es war keine Waffe zu finden! Polizeimeister Georg Mahler schüttelte bedauernd den Kopf und wandte sich Uwe Marquard zu. „Hier ist nichts, Herr Kommissar. Sollen wir abrücken?“, fragte er ihn. Uwe dachte nach und kratzte sich etwas enttäuscht am Kopf. Nein, aufgeben, wollte er noch nicht. Seine Nase sagte ihm, dass er sich auf der richtigen Spur befand. Nase? Er schmunzelte. „Nein, Herr Mahler, wir fangen jetzt erst richtig an. Aber keine Angst, Sie brauchen nicht den ganzen Garten selbst umzugraben. Das Problem lösen wir auf andere Weise. Ich bin nicht der einzige Kommissar mit einer guten Nase.“ Er nahm sein Handy und bereits während er telefonierte, lachte auch Georg Mahler. Nach einer guten Stunde trafen zwei Kollegen mit insgesamt sechs Beinen ein. Hundeführer Dieter Korb ließ seinen Diensthund aus dem Auto springen. Der Schäferhund hob den Kopf, blickte zu seinem Herrn und zog bereits aufgeregt an der Leine. Freudig, dass er nun einen Einsatz haben durfte, wedelte er mit dem Schwanz. Das kluge Tier war auf Waffenöl spezialisiert und machte seinen Job, wo immer nach Waffen gesucht werden musste, außerordentlich gut. „Na, dann wollen wir mal sehen, was unser vierbeiniger Kollege drauf hat“, meinte Uwe. Die Abstimmung zwischen Hundeführer und Diensthund fand statt, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Der Hund stand im nächsten Moment vor dem Geräteschuppen, den die Beamten bereits erfolglos durchsucht hatten. Drinnen legte er sich vor dem Versteck der Pistole nieder. Sein Herr fuhr mit der Hand abtastend über die Holzbohlen. Eine davon ließ sich anheben. Dieter Korb konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als er darunter die gesuchte Waffe fand. Sein Hund freute sich sichtlich über das Lob, das ihm nun von allen Seiten zuteilwurde. „Jürgen?“ Der nickte. Das war sie, seine Tokarew. „Ab in die KTU damit.“ Zufrieden übergab Uwe Marquard die Pistole einem Kollegen vom Streifendienst. Gespannt fuhren die Männer zum Polizeirevier zurück. Sie konnten es kaum erwarten. Zwei Stunden später lagen sie sich in den Armen und beglückwünschten sich. Es war die Tatwaffe, daran bestand kein Zweifel. Und es befanden sich nicht nur Annettes Fingerabdrücke darauf. Jetzt mussten sie den Täter nur noch dazu bringen, ein Geständnis abzulegen.

Im Gefängnis saß der Hauptverdächtige nicht allein im Verhörraum. Er hatte seinen Anwalt bei sich. Uwe Marquard legte eine durchsichtige Plastikhülle auf den Tisch. Darin befand sich die Pistole. Anwalt und Klient sahen sich an. „Ihre Fingerabdrücke sind drauf und wir untersuchen gerade auch ihre Kleidung auf Schmauchspuren. Da lag eine Menge Schmutzwäsche neben Ihrer Waschmaschine. Hat sich sicher angesammelt, weil Ihre Mutter nicht mehr zu Hause ist. Ich bin sicher, wir finden, was wir suchen. Außerdem haben wir einen Fingerabdruck von Ihnen im Flur des Ärztehauses gefunden.“ „Mein Mandant bestreitet nicht, in der Praxis gewesen zu sein.“, warf der Anwalt ein. Der Verdächtige wollte etwas sagen, schwieg aber abrupt. Er hatte gelernt, wie man sich im Polizeigewahrsam zu verhalten hatte. Annette saß hinter Uwe Marquard und verfolgte das Verhör nur. Der Todeszeitpunkt, fiel ihr ein. Der Täter muss den Diebstahl der Waffe am Todestag gestehen. Marquard war noch nicht am Ziel. Aber er gehörte zu der Sorte Polizist, die nie aufgaben. „Wie kommen Ihre Fingerabdrücke auf die Waffe?“ „Mein Mandant bestreitet nicht, sie im Auto gefunden und angefasst zu haben.“ „Wir haben die Pistole in der Gartenlaube Ihres Mandanten gefunden. Erklären Sie mir, Herr Rechtsanwalt, wie sie da hingekommen ist!“ „Ich möchte mich mit meinem Mandanten beraten.“ Marquard atmete tief ein. „Okay, wir lassen Sie allein.“ Er nickte dem aufsichtführenden Justizbeamten zu und verließ zusammen mit diesem und Annette den Verhörraum. Es dauerte einige Minuten.
Der Anwalt klopfte von innen an die Tür. „Mein Mandant möchte etwas sagen.“

Annette fuhr wie in ihrem Telefonat mit Anna versprochen, im Anschluss zu dieser nach Essen. Behutsam wollte sie ihr die traurige Nachricht überbringen. Dirk hatte also nicht nur Lisa auf dem Gewissen, er war auch für den Tod Lorans verantwortlich. Anna brach erneut in Tränen aus und wurde von ihrer Schwester und Annette getröstet. Sie entschloss sich endlich dazu, sich nun wirklich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Ihre Schwester hatte ihr zwei Zimmer in ihrem Haus angeboten. Wenigstens gab es so für Anna die Hoffnung auf ein neues Leben.
Annette traf sich am späteren Abend mit Ines. Die meinte hinsichtlich der Wohnsituation ihrer Freundin, ein Hotelzimmer käme gar nicht in Frage. Sie könnte, falls ihre Wohnung zu schnell vermietet werden würde, gerne die letzten Monate bei ihr in Duisburg bleiben, sofern ihr die Fahrerei nach Köln in die Kanzlei nichts ausmachte.
Annette sagte dankbar zu. Es stand noch nichts fest. Sie musste erst einmal weiter packen. Eventuell bräuchte sie einen kleinen Möbeltransporter, mit dem sie die größeren Stücke nach Hamburg bringen konnte.

Zwei Wochen später sollte das nächste Gruppentreffen stattfinden. Sie dachte daran, noch einmal teilzunehmen. Das würde wohl gleichzeitig der Abschied werden, denn Annettes Maklerin hatte sich zwischenzeitlich gemeldet und einen Mietinteressenten mitgebracht, welcher sich die Option zum Kauf vorbehielt. Der junge Mann war Pilot und machte gleich einen sehr netten Eindruck auf Annette. Er suchte eine Immobilie in Köln, möglichst in Flughafennähe, und wollte die Wohnung gern möbliert übernehmen. Annette war mit dieser Lösung mehr als zufrieden.
Anfang März siedelte sie nach Hamburg um. Im Stadtpalais gab es nicht viel zu verändern. Annette und ihre Mutter richteten sich dort häuslich ein. Annette hatte ihre Männerkleidung nun endgültig abgelegt und in Kisten verpackt auf den Speicher gebracht. In Hamburg lebte sie nur noch als Frau.
Ihre Schwägerin Renate wollte den kleinen Neffen Julian spielerisch auf die neue Situation vorbereiten und erzählte ihm, dass der Onkel Jürgen sich, etwas verspätet, extra für ihn zum Fasching als Frau verkleidet hätte. Julian fand die Idee großartig und bestand seinerseits auf einer Verkleidung. Er war ein Cowboy, als er mit seiner Mutter ins Stadtpalais zum Kaffee kam. Der aufgeweckte Junge staunte, denn Onkel Jürgen sah wirklich wie eine Frau aus. Nur die Stimme klang etwas tief. Aber das behielt er für sich.
Magda erklärte ihm, dass Onkel Jürgen eigentlich nicht zu einer Dame passen würde und fragte ihn, ob er Tante Annette als Anrede nicht schöner fände. Julian überlegte einen Augenblick. Dann war das Eis gebrochen. Er sah Annette auch außerhalb der Faschingszeit in Frauenkleidern und fand nach einer Weile nichts mehr dabei. Hilfe bekam er von seinem Vater, der seine Schwester nun auch mit dem neuen Vornamen ansprach.
Annette verbrachte viel Zeit mit ihrem Neffen und ihrer kleinen Nichte, sehr zur Freude ihrer Schwägerin, die durch die unerwartete Babysitterin einiges an Freitraum mehr für sich und ihren Mann bekam. Am liebsten fuhren sie den Zoo. Julian liebte die Elefanten dort und konnte ihnen stundenlang zusehen. Annette hielt die gemeinsamen Besuche mit ihrer Kamera fest. Julian wollte auch filmen und bettelte immer wieder, die Kamera einmal halten zu dürfen. Annette zeigte ihm die Bedienung. Der kleine Bursche konnte in kurzer Zeit so gut damit umgehen, dass er die Filmarbeit in seine eigenen Hände nahm. Annette wurde ständig mit den Elefanten abgelichtet. Ein neugeborenes Elefantenbaby war Julians Favorit. Er dokumentierte die Entwicklung des Elefantenkindes und erntete viel Applaus, als er zusammen mit Tante Annette seine „Arbeit“ den Eltern und Großeltern vorführte.

Im Betrieb lernte Annette Fabienne Kramer kennen. Die Frau arbeitete als Kapitänin der Reederei im Innendienst. Sie war als Mann zur See gefahren und hatte sich erst im Alter von knapp fünfzig Jahren dazu entschieden, künftig im gefühlten Geschlecht als Frau zu leben.
Fabienne, die einst Fabian hieß, war die Freude anzusehen, als Martin ihr die Einstellung in die Firma zusagte. Nach eigenen Worten hatte sie nicht damit gerechnet, jemals wieder Arbeit zu bekommen und sich darauf eingestellt, bis zur Rente von Hartz IV leben zu müssen, wenn ihre Ersparnisse nicht mehr zum Leben reichen würden. Martin erkannte das gute berufliche Potenzial seiner neuen Mitarbeiterin bereits beim Vorstellungsgespräch. Frau Kramer wurde, ohne dass irgendjemand Anstoß nahm, in den Innendienst der Reederei eingegliedert und setzte sich auch bei den männlichen fahrenden Kollegen sofort durch, was sie in erster Linie ihrer langjährigen beruflichen Erfahrung verdankte. Sie dachte viel an die Zeit auf See. Eines Abends traf sie mit Annette in der Selbsthilfegruppe zusammen. Es gab eine freudige Begrüßung. „Fabienne, was für eine Überraschung. Du fehlst uns hier mit deiner Erfahrung.“ Annette wandte sich den anwesenden Frauen zu. „Darf ich euch Fabienne Kramer vorstellen, sie arbeitet in der Reederei und ist früher zur See gefahren. Sie ist mit allem durch und kann einiges an Tipps geben.“ Fabienne wehrte bescheiden ab. „Ach, ich wollte schon längst mal kommen, schaffte es aber nie. Ich habe mir ein kleines Motorboot gekauft. Da verbringe ich jede freie Minute. Wer einmal Meeresluft geschnuppert hat, kommt vom Wasser nicht mehr los.“ Mit ihren Worten machte sie die Frauen neugierig. „Erzähl, wo bist du überall gewesen?“, forderten sie den Gast auf. Sie lachte. „Eigentlich überall. Nur am Nordpol und in der Antarktis war ich noch nie.“ Ihre Augen begannen zu leuchten, als sie von ihren Reisen berichtete. Sehnsucht schwang in der Erzählung mit. Das blieb Annette nicht verborgen. „Und wie fühlst du dich, hier an Land? Ich kann mir gut vorstellen, dass es dich oft hinauszieht. Möchtest du nicht wieder fahren?“, fragte sie. Fabienne senkte betroffen den Blick. Daran hatte sie schon gedacht. Aber welche Reederei würde ihr erlauben, nach dem Geschlechtswechsel als Kapitänin die Verantwortung für ein Schiff, Ladung und Besatzung zu übernehmen?
Annette ahnte, was ihre Freundin dachte. „Soll ich mal mit meinem Bruder sprechen? Wir brauchen immer Leute für die Schiffe, vor allem als Urlaubs-oder Krankheitsvertretungen. Da kannst du wieder reinschnuppern. Und vielleicht bietet sich danach eine Möglichkeit für ein eigenes Kommando. Ich muss mich auch als Frau ins Berufsleben eingliedern. Es ist nicht so einfach, weil ich unsicher bin und nicht weiß, wie ich rüberkomme. Die Angst vor Mobbing begleitet mich jeden Tag. Obwohl ich im Betrieb akzeptiert bin, habe ich ständig Berührung mit Geschäftspartnern und Kunden, wenn ich als Firmenanwalt tätig werde. Fabienne, das wäre großartig, wenn es dir gelingt als Frau in diese Männerdomäne zurückzukehren. Du bist nicht allein. Ich weiß, dass schon einige Frauen den Beruf gelernt haben.“ Die Anwesenden pflichteten Annette bei. Alle meinten, dass es sich lohnt, für die Weiterarbeit im Beruf zu kämpfen. Annette beschloss, Martin bei nächster Gelegenheit zu fragen.
 



 
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