Marc Hecht1
Mitglied
Stein war damals der Erste, der mich in meiner neuen Wohnung besucht hatte. Aristokratisch, hager und großgewachsen – so stand er vor der Tür, unangemeldet. Mit Hut und Regenschirm.
Und ob er die Schuhe ausziehen solle, hatte er gleich zu Beginn gefragt, offenbar mit schlechtem Gewissen: „Ich weiß, ich weiß, ich hätte vorher anrufen sollen, hab' ich aber nicht gemacht.“
„Nein, schon gut!“ Ich bat ihn herein.
Behutsam trat er auf, als wolle er die schöne Wohnung nicht mit seinen Schritten ruinieren. „Mein lieber Mann“, sagte er, „und wie viel zahlst du?“
„700 Mark.“
„Ah!“, er stutzte, sah sich um: „Und der Vermieter? Der wohnt direkt unter dir?“
„Ja. Aber ich kriege ihn kaum zu Gesicht.“
„So.“
Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Er sah sich weiter um, und ich betrachtete ihn, meinen alten Freund Enno von Brandenstein. Wir hatten zusammen volontiert und es waren tolle Tage gewesen, damals, auf der Journalistenschule. Stein sah schon damals aus wie ein künftiger Botschafter der Bundesrepublik Deutschland. Aristokratisch, groß, schlank und einnehmend.
Ich ging zum Kühlschrank, holte zwei Flaschen Bier.
„Hast du kein Glas?“, fragte er, etwas pikiert.
„Nein“, erklärte ich, fläzte mich aufs Sofa und sah ihn an. Der gute, alte Stein. Er war längst raus, aus dem Journalismus und war in die Politik gewechselt. Angefangen hatte er dort im Bildungsministerium, als Unter-unter-Pressesprecher, oder so, jedenfalls ziemlich weit unten. Trotzdem war das offenbar sein Ding.
Natürlich, wir waren alte Freunde. Doch Stein war nicht nur wegen mir hier. Es war auch der Dunstkreis von Lisi, der ihn angezogen hatte. Schon immer war das so, seit damals, vor jetzt schon sieben Jahren.
Ein Deutsch-Ungarischer Empfang war es damals, Steins Minister hatte geladen, zu einer kleinen Soiree. Lisi war an diesem Abend gebucht worden. Mit Orchester. Sie sang die Julischka und dann noch etwas aus dem Zigeunerbaron und nach dem Konzert fühlten sich gleich mehrere Herren für sie verantwortlich, aus Deutschland und aus Ungarn. Alle scharwenzelten um sie herum und ganz besonders Stein, der offenbar ebenfalls hin und weg war von ihrer Schönheit und Anmut. Jedenfalls ließ er mächtig den Aristokraten heraushängen, an diesem Abend, war gleichzeitig vornehm, weltmännisch und fürsorglich, stellte Lisi bei den Gästen vor, legte ihr dabei immer wieder vorsichtig einen Arm um die Schulter, rückte ihr den Stuhl zurecht, schenkte für sie ein, stand auf, wenn sie aufstand – kurzum, Stein war formvollendet. Und irgendwann landete er mit ihr dann am Pressetisch, an dem auch ich saß.
Sie trug ein schwarzes Ballkleid und hatte sich eine Stola umgelegt. Und ich war von einer Sekunde auf die andere fasziniert. Als sie sang, hatte ich sie kaum beachtet, mich vielmehr mit Kollegen am Pressetisch unterhalten. Jetzt jedoch sah ich sie vor unserem Tisch. Stein hatte Lisi damals vorgestellt, als die entzückendste junge Hoffnung der klassischen Musik in Deutschland, hatte ihr wieder einen Stuhl zurechtgerückt, sich wieder fürsorglich neben sie gesetzt, zu ihr hinüber gebeugt und erklärt: „Tja, und das sind also die Damen und Herren Journalisten. Mit denen müssen Sie sich immer gut stellen.“ Und dann, mit unvergleichlich leichtem Spott: „Manchmal sind sie natürlich auch nur einfache Wegelagerer.“
Ja, Stein war geistreich und witzig an diesem Abend. Aber ich hörte das damals alles kaum. Eigentlich hörte ich es gar nicht. Saß am Tisch, mit ihr, starrte sie an, beteiligte mich nicht an der Plauderei, wirkte vermutlich etwas unterbelichtet. Und als Stein sich schon wieder erheben wollte, um Lisi dem nächsten Tisch vorzustellen, rückte ich, ziemlich abrupt, mit meinem Stuhl an sie heran, fragte uncharmant, wie ein Schalterbeamter: „Wo geben Sie Ihr nächstes Konzert?“
Lisi sah zu mit herüber, ihre Augen schimmerten, und ich wusste, dass sie mein Mädchen wird, meine Frau.
„Morgen früh“, erklärte sie, amüsiert, „in einer Grundschule; vor Acht- und Neunjährigen, um ihnen klassische Musik näherzubringen. Allerdings ist es ohne Gage.“
„Als ich acht war, habe ich Bücher gelesen“, erklärte ich, sinnfrei, hölzern, wie ein Idiot.
Sie sah ironisch auf: „Aah, Bücher? Vermutlich Krieg und Frieden?“
„Ja, hatte ich erklärt, „auf russisch.“ Aber da war sie schon mit Stein verschwunden.
Und ob er die Schuhe ausziehen solle, hatte er gleich zu Beginn gefragt, offenbar mit schlechtem Gewissen: „Ich weiß, ich weiß, ich hätte vorher anrufen sollen, hab' ich aber nicht gemacht.“
„Nein, schon gut!“ Ich bat ihn herein.
Behutsam trat er auf, als wolle er die schöne Wohnung nicht mit seinen Schritten ruinieren. „Mein lieber Mann“, sagte er, „und wie viel zahlst du?“
„700 Mark.“
„Ah!“, er stutzte, sah sich um: „Und der Vermieter? Der wohnt direkt unter dir?“
„Ja. Aber ich kriege ihn kaum zu Gesicht.“
„So.“
Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Er sah sich weiter um, und ich betrachtete ihn, meinen alten Freund Enno von Brandenstein. Wir hatten zusammen volontiert und es waren tolle Tage gewesen, damals, auf der Journalistenschule. Stein sah schon damals aus wie ein künftiger Botschafter der Bundesrepublik Deutschland. Aristokratisch, groß, schlank und einnehmend.
Ich ging zum Kühlschrank, holte zwei Flaschen Bier.
„Hast du kein Glas?“, fragte er, etwas pikiert.
„Nein“, erklärte ich, fläzte mich aufs Sofa und sah ihn an. Der gute, alte Stein. Er war längst raus, aus dem Journalismus und war in die Politik gewechselt. Angefangen hatte er dort im Bildungsministerium, als Unter-unter-Pressesprecher, oder so, jedenfalls ziemlich weit unten. Trotzdem war das offenbar sein Ding.
Natürlich, wir waren alte Freunde. Doch Stein war nicht nur wegen mir hier. Es war auch der Dunstkreis von Lisi, der ihn angezogen hatte. Schon immer war das so, seit damals, vor jetzt schon sieben Jahren.
Ein Deutsch-Ungarischer Empfang war es damals, Steins Minister hatte geladen, zu einer kleinen Soiree. Lisi war an diesem Abend gebucht worden. Mit Orchester. Sie sang die Julischka und dann noch etwas aus dem Zigeunerbaron und nach dem Konzert fühlten sich gleich mehrere Herren für sie verantwortlich, aus Deutschland und aus Ungarn. Alle scharwenzelten um sie herum und ganz besonders Stein, der offenbar ebenfalls hin und weg war von ihrer Schönheit und Anmut. Jedenfalls ließ er mächtig den Aristokraten heraushängen, an diesem Abend, war gleichzeitig vornehm, weltmännisch und fürsorglich, stellte Lisi bei den Gästen vor, legte ihr dabei immer wieder vorsichtig einen Arm um die Schulter, rückte ihr den Stuhl zurecht, schenkte für sie ein, stand auf, wenn sie aufstand – kurzum, Stein war formvollendet. Und irgendwann landete er mit ihr dann am Pressetisch, an dem auch ich saß.
Sie trug ein schwarzes Ballkleid und hatte sich eine Stola umgelegt. Und ich war von einer Sekunde auf die andere fasziniert. Als sie sang, hatte ich sie kaum beachtet, mich vielmehr mit Kollegen am Pressetisch unterhalten. Jetzt jedoch sah ich sie vor unserem Tisch. Stein hatte Lisi damals vorgestellt, als die entzückendste junge Hoffnung der klassischen Musik in Deutschland, hatte ihr wieder einen Stuhl zurechtgerückt, sich wieder fürsorglich neben sie gesetzt, zu ihr hinüber gebeugt und erklärt: „Tja, und das sind also die Damen und Herren Journalisten. Mit denen müssen Sie sich immer gut stellen.“ Und dann, mit unvergleichlich leichtem Spott: „Manchmal sind sie natürlich auch nur einfache Wegelagerer.“
Ja, Stein war geistreich und witzig an diesem Abend. Aber ich hörte das damals alles kaum. Eigentlich hörte ich es gar nicht. Saß am Tisch, mit ihr, starrte sie an, beteiligte mich nicht an der Plauderei, wirkte vermutlich etwas unterbelichtet. Und als Stein sich schon wieder erheben wollte, um Lisi dem nächsten Tisch vorzustellen, rückte ich, ziemlich abrupt, mit meinem Stuhl an sie heran, fragte uncharmant, wie ein Schalterbeamter: „Wo geben Sie Ihr nächstes Konzert?“
Lisi sah zu mit herüber, ihre Augen schimmerten, und ich wusste, dass sie mein Mädchen wird, meine Frau.
„Morgen früh“, erklärte sie, amüsiert, „in einer Grundschule; vor Acht- und Neunjährigen, um ihnen klassische Musik näherzubringen. Allerdings ist es ohne Gage.“
„Als ich acht war, habe ich Bücher gelesen“, erklärte ich, sinnfrei, hölzern, wie ein Idiot.
Sie sah ironisch auf: „Aah, Bücher? Vermutlich Krieg und Frieden?“
„Ja, hatte ich erklärt, „auf russisch.“ Aber da war sie schon mit Stein verschwunden.
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