Lola und die anderen

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Cleveland, Ohio, 30. Oktober 2023

„Kannst du dich noch an Lola erinnern?“, fragte Billy. „Sie ging mit uns zur Schule.“
„Lola?“ Jeff überlegte. In seiner Erinnerung tauchte etwas auf.
„Sie hieß nicht wirklich Lola“, erklärte Billy. „Wir nannten sie nur so. Mit zwölf war sie alles andere als eine Lola, du weißt schon, ein hübsches Ding, so wie man sich eine Lola vorstellt, war sie nicht. Wir machten uns oft über sie lustig, weißt du nicht mehr? Sie war dick und trug Brille und Zahnspange. Bis sie sich auf einmal veränderte, ich glaube, da war sie vierzehn oder fünfzehn. Ihre Zahnspange kam raus, sie wurde dünner, die Brille verschwand und ihr Haar wurde sehr lang, fast bis auf die Hüften, blond und glänzend. Wir haben sie dann ‚Rapunzel' genannt."
Jeff schüttelte den Kopf. „Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Weder an Lola noch an Rapunzel. Mit 16 ging ich für drei Jahre nach England. Ich weiß nicht mehr viel davon, was davor war."
„Sie ist früh gestorben.“ Billy betrachtete sein fast leeres Whiskeyglas auf dem Tisch und bekam nicht mit, wie Jeff zusammenzuckte. „Willst du auch noch einen?“
„Klar, gerne.“
Billy winkte dem Barmann hinter der Theke. „Bitte nochmal das Gleiche für uns!“
Der Barmann nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Die Bar war gut besucht, und es herrschte ziemlicher Lärm. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufschrift: „Am 31.10.2023 große Halloween-Party“ in Großbuchstaben. Darunter, etwas kleiner gedruckt, war zu lesen: „Eintritt 5 Dollar, im Kostüm 3 Dollar. Einlass ab 18.00 Uhr.“ Billy betrachtete das Plakat, bis Jeff ihn aus seinen Gedanken riss.
„An was ist sie gestorben?“
„Sie ist ertrunken. Ihre Leiche wurde im Eriesee gefunden. Einige sagten, es sei ein Unfall gewesen, andere, sie wäre aus Liebeskummer ins Wasser gegangen. Sie hatte sich kurz vorher verlobt.“
„Dann bringt man sich doch nicht um“, sagte Jeff verwundert.
„Es konnte nie geklärt werden, ob es Selbstmord war oder nicht. Über den Grund wurde viel spekuliert.“ Billy seufzte. „Ich wäre gern mit ihr ausgegangen, als sie hübsch wurde. Hab zu lange gewartet, Michael schnappte sie mir weg.“
Jeff horchte auf. „Michael? War er mit uns in der Schule? Was ist mit ihm passiert?“
„Ja, richtig, er war in unserer Klasse. Er wurde zu ihrem Tod befragt, wusste aber nichts. Er sagte, sie hatten keinen Streit, sie wollten im Jahr darauf heiraten. Und dann wollte er wegziehen, nach Minnesota. Sagte er mir jedenfalls.“
„Wann hast du mit ihm gesprochen?“
„Eine Woche nach ihrer Beerdigung traf ich ihn auf dem Friedhof. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das ist alles lange her. Ich muss nur um die Jahreszeit immer daran denken. Damals, als sie verschwand – ihre Leiche wurde erst drei Wochen später gefunden – war es auch kurz vor Halloween.“
„Apropos Halloween“, warf Jeff ein, „gehst du morgen zu der Party?“
„Ganz sicher, sonst lässt Mary mir keine Ruhe.“ Billy grinste. „Sie näht seit Wochen an ihrem Kostüm. Was machst du denn an Halloween?“
„Nichts Besonderes. Auf eine Halloween-Party habe ich keine Lust. Linda ist in England bei ihren Eltern zu Besuch und kommt erst in zwei Wochen zurück. Alleine macht mir das keinen Spaß. Wahrscheinlich bleibe ich zu Hause.“
„Dann kauf mal genug Süßigkeiten für die kleinen Monster, die bei dir klingeln werden. Falls du es dir anders überlegst, sag mir Bescheid, dann gehen wir zusammen.“ Billy deutete auf ihre inzwischen leeren Whiskygläser. „Noch einen?“
„Um Himmels willen, ich habe genug für heute.“ Jeff stand auf. „Zeit, dass ich heimkomme, ehe ich den Weg nicht mehr finde."
„Den kennst du doch im Schlaf. Immer geradeaus in dein altes Elternhaus. Ist schon toll, wenn man erwachsen wird und nie umziehen muss. Da könnte ich glatt neidisch werden, ich habe schon drei Umzüge hinter mir."
„Das war gar nicht so vorgesehen. Aber als Mom starb ... Linda hätte es schade gefunden, das Haus zu verkaufen. Danke für die Einladung.“ Jeff verabschiedete sich.

Am nächsten Tag, drei Minuten nach dem Aufwachen, fiel Jeff die Geschichte über Lola wieder ein. Er hatte sich bei Billy gut aus der Affäre gezogen, indem er vorgab, nichts zu wissen. Aber er wusste eine ganze Menge, vor allen Dingen erinnerte er sich, wie Michael und er Lola damals zugesetzt hatten. Es waren, aus seiner Sicht, Dumme-Jungen-Streiche gewesen: ihr nach der Schule zu zweit den Weg versperren, einer von vorne, einer von hinten, sie nicht durchlassen, bis sie zu weinen anfing, und ihr „dicke dumme Lola“ hinterherzurufen. Einmal, vor der Schule, hatte Michael ihr den Schulranzen abgenommen und irgendwo ins Gebüsch geworfen. Sie war in das unwegsame Gebüsch gekrochen, um ihn zu holen, wofür sie lange brauchte und deswegen zu spät zur Schule kam, zerkratzt, verheult und mit verschmutzten Klamotten obendrein. Der Lehrer hatte sie wegen ihrer Unpünktlichkeit gerügt, und Michael und er hatten sich angestoßen und gelacht. Lola hatte sich nicht getraut, dem Lehrer oder jemand anderem zu sagen, was passiert war. Denn sie hatten ihr gedroht: „Wenn du uns verpetzt, passiert was!“ Damals waren sie 13.

Auf einmal wurde sie hübsch, quasi über Nacht. Nach den Sommerferien erkannten sie Lola nicht wieder. Sie war nicht nur hübsch, sie hatte auf einmal auch Freunde und Freundinnen. Jeff und Michael ging sie geflissentlich aus dem Weg, was nun einfacher war. Ihre Freunde waren ständig um sie.
Und nach alldem hatte sie ausgerechnet Michael heiraten wollen? Seltsam, dass sie überhaupt mit ihm zusammengekommen war. Daran konnte Jeff sich wirklich nicht erinnern, genau so wenig wie an „Rapunzel". Es musste wohl zu der Zeit gewesen sein, als er bereits in England war.
Wie auch immer, an der Vergangenheit konnte er nichts mehr ändern. Er beschloss, noch ein paar Süßigkeiten einzukaufen, um für die Kinder abends genug im Haus zu haben. Er würde zu Hause bleiben.

Die Kleinsten klingelten schon um 18.00 Uhr, in Begleitung von Erwachsenen, gefolgt von Älteren ohne Begleitung, alle schön kostümiert, als Hexe, Vampir oder Skelett. Jeff verteilte großzügig die Süßigkeiten. Um 20.00 Uhr hatte er bereits keine mehr. Jetzt würde er die Tür nicht mehr öffnen, aber seine Rechnung schien aufzugehen: Es kam niemand mehr.

Um 22.00 Uhr läutete es Sturm.
Als er nicht öffnete, wurde heftig gegen die Tür geklopft. „Machen Sie bitte auf!", rief eine Frauenstimme. „Helfen Sie mir! Ich hatte einen Unfall!! Bitte, ich brauche einen Arzt! Ich muss telefonieren ... bitte ... bitte ..." Das Rufen ging in ein Wimmern und schließlich in ein Heulen über.
Jeff zögerte. Kinderstimmen waren nicht zu hören. War das ein blöder Scherz? Er hätte die Stimme am liebsten ignoriert. Hatte die Frau kein Handy? Andererseits: Wenn sie nun wirklich Hilfe brauchte und womöglich vor seiner Haustür tot zu Boden fiel? Er hätte sicher Schwierigkeiten, das der Polizei zu erklären.
Seufzend öffnete er die Tür. Kaum war sie einen Spalt breit offen, waberte Nebel ins Haus, der ihm die Sicht nahm, und er wurde von etwas Undefinierbarem zu Boden gedrückt. Die Tür schlug krachend zu, und ein lautes Kichern ertönte. Entsetzt sah er, wie sich aus dem Nebel eine riesige, aufgedunsene Gestalt mit grausamem Gesicht formte. Es hatte eingesunkene Höhlen anstelle der Augen, eine lange Nase und einen übergroßen, grellroten Mund. Gelbe, strohige Haare wallten an der Gestalt herab, aus denen unablässig Wasser rann, das den Boden seines Hauses bedeckte. In kurzer Zeit bildeten sich Pfützen, die immer größer wurden. Jeff versuchte, aufzustehen, aber die Gestalt hielt ihn mit einer großen, überlangen, kalkweißen Hand am Boden fest, und wieder ertönte das hässliche Kichern, noch lauter als vorhin. Jeff sah, dass auch die Füße der Gestalt riesengroß und kalkweiß waren. „Du willst wohl gerne weg, wie?", flüsterte die Gestalt. „Nicht wahr, Michael?"
Jeff erstarrte. „Ich bin nicht Michael", flüsterte er zurück. „Ich bin nicht Michael. Ich bin Jeff."
„Ob Michael oder Jeff - spielt keine Rolle. Ihr habt beide nichts Besseres verdient." Die Gestalt hob blitzschnell die Hand, mit der sie Jeff niedergedrückt hatte und ließ mit der anderen Hand einen großen schweren Sack auf ihn fallen. Jeff konnte ihn nicht beiseite drücken. Und immer noch rann das Wasser aus den schrecklichen gelben Haaren. Die Pfützen auf dem Boden wurden größer. „Nun, Jeff", kicherte die Gestalt, „du weißt, wer ich bin?"
„Nein", flüsterte Jeff. „Ich kenne dich nicht."
„Du verdammter Lügner. Kannst genau so lügen wie Michael. Nein, Detective, ich habe meine Freundin nicht umgebracht!" Die Gestalt fing an, schauerlich zu lachen. Es ging Jeff durch Mark und Bein. Er konnte sich unter dem schweren Sack immer noch nicht bewegen. Und er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich darin befinden mochte.
Unvermutet fing die Gestalt zu singen und zu tanzen an. ‚,Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison ..." Unter anderen Umständen hätte Jeff diese Vorstellung saukomisch gefunden. Jetzt war ihm schlecht vor Angst, er zitterte und schwitzte gleichzeitig.
„Ich hab ein Pianolo zu Haus' in mein' Salon.
Ich bin die fesche Lola, mich liebt ein jeder Mann ..." Die Gestalt hörte auf zu singen, schlurfte mit Riesenschritten zur Haustür und öffnete sie. „Kommt rein, ihr Geister!", rief sie triumphierend. Im Nu füllte sich der Raum wieder mit Nebel, und aus diesem Nebel formten sich zwei neue Gestalten, etwas kleiner als die erste, aber nicht weniger abscheulich. Auch ihnen rann unablässig Wasser aus langen, strohgelben Haaren. Und beide kicherten auf die gleiche hässliche Weise wie die erste.
„Was machen wir mit ihm?", fragte eine der beiden.
„Frag doch nicht so blöd! Dasselbe wie mit Michael natürlich."
„Hast du ihn gesagt, wer du bist?"
Die erste Gestalt stieß ein triumphierendes Geheul aus. „Lola, Lola – jeder weiß, wer ich bin!" Dann kicherte sie wieder.
„Dann holen wir ihn mit!"
Alle drei kamen auf ihn zu. Schrecklich verzerrte Fratzen sahen ihn an und stießen Triumphgeheul aus.
Jeff verlor das Bewusstsein.

Drei Wochen nach Halloween wurde seine Leiche im See gefunden. Gerüchte besagten, dass er sich das Leben nehmen wollte.
Aber niemand wusste den Grund.
 
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petrasmiles

Mitglied
Liebe SilberneDelfne,

ich finde Deine Gruselgeschichte auch sehr spannend.
Ich habe nur ein kleines Problem damit, dass sich Jeff nicht erinnern kann - und sehr wahrscheinlich 'unschuldig' war - bis auf das Mobbing mit dreizehn. Haben böse Geister in Cleveland ein schlechtes Gedächtnis? Oder holen sie auch böse 'Buben'?
Also muss man damit rechnen, auch wegen kleinerer Verfehlungen geholt zu werden?
Au Backe! Dann bleibe ich 31.10.besser nicht allein zu Hause ...

Gruselige Grüße
Petra
 



 
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