Loreleipassage

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Hans Dotterich

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Loreleipassage

Elmar Winkler trat rhythmisch und beherzt in die Pedale, auch wenn ihm der leichte Stich, den er in seinem rechten Knie am oberen Scheitelpunkt jeder Umdrehung immer wieder wahrnahm, seine Aufmerksam fesselte, ja, ein wenig Sorge aufkommen ließ. Er hatte mit seinem Karbonfaser-Trackingfahrrad fast schon die Hälfte des Aufstiegs vom Rheinufer bei Sankt Goarshausen hinauf auf den Loreleifelsen geschafft. Er war mit gutem Tempo und nicht zu hastig unten losgefahren. Sein Puls ist am Anstieg nie über 140 gegangen, wie ihm das Ergometer an der Lenkstange versicherte. Atem- und Tretrhythmus waren in perfektem Einklang, und er würde dieses Tempo noch ziemlich lange durchhalten können. Sein Knie jedoch bettelte jetzt stetig um seine Aufmerksamkeit, wie wenn beim Auto ein Warnlämpchen auf dem Armaturenbrett plötzlich aufleuchtet. Wurde der Schmerz heftiger, sollte er beim Treten etwas Druck vom Bein nehmen, dabei den Gleichtakt von Tritt und Atemrhytmus verändern? Weiter oben würde die Straße flacher. Elmar versuchte seine Haltung auf dem Sattel etwas schmerzfreier zu gestalten.

Ein blauer Opel, der ihn vor einer halben Minute noch beim Überholen geschnitten hatte, stoppte ungefähr 50 Meter vor ihm am rechten Straßenrand, mitten in einer Kurve, und verlangte nun seine volle Aufmerksamkeit. Zwei Personen, offenbar ein mit den Jahre ergrautes Ehepaar, er am Lenkrad, sie auf dem Beifahrersitz, sah er durch die Heckscheibe heftig über einer großen, weit auseinandergefalteten Straßenkarte gestikulieren. Als er sich der Stelle näherte, musste er mit seinem Fahrrad langsam machen, denn auf der Gegenseite der schmalen Straße kam ihm in Höhe des haltenden Wagens ein Reisebus entgegen. Der Knieschmerz war für einige Pedalumdrehungen fast verschwunden. Der Stich überraschte Elmar allerdings sofort wieder, als er den Opel schließlich passiert hatte und beschleunigen wollte.

Abermals musste er langsamer machen, denn vor ihm fuhr eine Kolonne von fünf oder sechs Autos. An der Spitze der Kolonne befand sich eine Familie auf Fahrrädern, die vermutlich ebenfalls hinauf zur Lorelei wollten. Eltern mit drei Kindern im Alter zwischen wohl vier und zwölf Jahren waren es. Der Kleinste hatte ein knallig rotes Kinderfahrrad mit kleinen Rädern, sowie mit noch kleineren Stützrädern zu beiden Seiten des Hinterrades. Die Stützräder waren hochgestellt, und das pummelige Kindchen fuhr selbstbewusst wie ein Profi, ja, es machte das Tempo und führte die Kollone mit strammem Tritt an. Papa bildete das Schlusslicht der Familie. Der lange, ein wenig bauchbetonte Mann hatte schon lichten Haare und balancierte seinen Körper wie einen Kartoffelsack auf dem Sattel seines etwas überbelastet erscheinenden Aldi-Fahrrads. Strandsandalen, karierte Kniestrümpfe, bunte Nylonshorts und ein „I like New York“-T-Shirt bestimmten das Erscheinungsbild des in Schlangenlinie sein Frau hinterher strampelnden Fanilienoberhaupts. Die Frau trug ein enges Bikerkostüm, das quasi im Partnerlook zu den Shorts ihres Gatten blau-grün-violett gestreift war. Auf ihrem Gepäckträger waren prall gefüllte Satteltaschen und eine große Plastik-Kühlbox festgeschnallt. „Gott, Bierbauch mit karierten Kniestrümpfen“, dachte sich Elmar. Offensichtlich war auch bei den Autofahrern in der Kolonne dahinter der Mut zum Überholen längst entwichen. Da sein Knie Elmar immer noch unangenehme Stiche bereitete und er seinen gewohnten Tritt hier nicht halten konnte, entschloss er sich, an der nächsten Haltebucht, die gerade von einem Schild am Straßenrand 200 Meter voraus angekündigt wurde, eine kurze Pause zu machen, das Bein zu strecken und zu massieren, und einen Schluck isotonische Limonade zu trinken. Und ein paar Minuten zu warten, bis die Kolonne ausreichend Vorsprung gewonnen haben würde.

„Mama, guck mal da! Der Mann da hat ein richtiges Pearlman-Karbonrad!“ wurde er von dem kleinen Bübchen mit den Stützrädern am Fahrrad in der Haltebucht begrüßt. Elmar musste grinsen, trotz des vehementen Stiches in seinem Knie, den ihm der letzte Tritt bereitete. Der Junge war mit seinem Rädchen zu seiner Mama gelaufen, die für ihn und seine beiden Brüder Orangenlimonade in Plastikbecher füllte. Beides hatte sie aus der Kühlbox geholt, und eine Dose Bier für ihren Mann, der aber gerade hinter einer Hecke auf dem Feld hinter den Straßengraben verschwunden war. Die Frau hob kaum den Kopf, sie war noch mit dem Eingießen beschäftigt. Elmar war hinter der Famile zum Halten gekommen und stieg, etwas steif in der Hüfte und mit einem schlappen Gefühl in seinen Armen, vom Rad. Er nickte freundlich, stellte sein Rad auf den Ständer und streckte seinen Rücken durch. Jetzt merkte er, dass er doch ein wenig außer Atem gekommen war. Wenig, aber doch zu sehr, um die Anwesenden mit einem freundlichen Wort zu begrüßen, wie es normalerweise seine Art gewesen wäre, wenn er auf seinen Touren andere Radfahrer antraf.

Aus dem Weidenbusch jenseits des Straßengrabens hörte man ein Rascheln.
„Ui, wenn Sie auch hierhin wollen, müssen Sie aufpassen, wo Sie hintreten.“
Der Papa staktste auf seinen langen, dünnen, milchweißen Beinen durch das hohe Gras und über den Graben, mit seinen ausgebreiteten Armen um Gleichgewicht rudernd, die Zehen in den breiten, offenen Sandalen hochziehend. Er nahm einen Schluck aus der Bierdose, die ihm seine Frau herüberreichte. „Wir fahren alle zwei Wochen hier hoch in die freie Natur, wenn es das Wetter erlaubt, und die Aussicht ins Rheintal schön ist. Wir kommen eigentlich aus Darmstadt, aber mit dem neuen Hessenticket sind wir alle fünf in kaum einer Stunde unten in Sankt Goarshausen, zusammen mit den Fahrrädern. Das ist wirklich eine tolle Sache.“ Elmar lächelte freundlich und nickte.
„Ist das Ihre erste Tour hier hoch auf die Lorelei?“, fragte der lange Dicke nebenbei.
„Ach, ich fahre überall, wo es schön ist“, entgegnete Elmar.
Mit dem Fingern prüfte er zum Schein den Reifendruck, ging um sein Fahrrad herum, klappte den Ständer ein und verabschiedete sich. Er spürte, dass das nicht die Art von Unterhaltung werden würde, die ihm angenehm werden konnte, und machte sich wieder auf die Straße.

Doch die Anfahrt fiel im schwerer als erwartet. Er hing wacklig im Sattel, als wäre er außer Gleichgewicht, oder als hätte er zu wenig Luft in den Reifen. Er musste hörbar keuchen und fuhr Schlangenlinien. Dann hob er sich aus dem Sattel und trat im gebückten Stand, um Geschwindigkeit und Abstand zu gewinnen. Sein Knie hatte Ruhe gegeben, so als ob nie etwas geschmerzt hätte. Aber seine Flucht musste er auf dem Ergometer teuer bezahlen. Sein Atemrhytmus wollte nie mit dem Tritt gleichziehen, ober besser, der Tritt nicht mit der Atemfrequenz. Und das Ergometer zeigte schon einen Puls von 142. Also sagte er sich: „Sachte! Gleich kommt die Abzweigung mit dem Wäldchen und dem schattigen Spaziergängerparkplatz, da halte ich nochmals an.“ Als sein Puls den Wert von 156 erreichte, hatte der den Kampf gewonnen. Für‘s Erste. Er bog in den Parkplatz ein und stoppte auf einer kleinen Lichtung hinter einer dicken, kühlen Eiche mit breiter, schattenspendender Krone.

Kaum hatte er das Fahrrad gegen den Baum gelehnt und sich im hohen Gras niedergelassen, um sich ein wenig Entspannung zu gönnen, hörte er den blauen Opel mit heulendem Motor nahen, den der vorhin überholt hatte. Der Wagen stoppte etwa 10 Meter vor ihm mit heftigem Bremsen, die Beifahrertür flog auf. Die Frau sprang heraus und kreischte
„Such dir doch deine Scheißsonntagstouren selber aus! Dir kann ich nie etwas recht machen. Was willst Du eigentlich hier in dieser stinklangweiligen Pampa?“
„Du hättest mir doch nur die Landstraße sagen sollen, hier, da steht die Nummer ganz groß“, tönte es etwas kleinlaut aus dem Wageninnern. „Siehst Du, da fließt der Rhein, hier liegt Sankt Goarshausen, und wir sind hier an dieser Kreuzung abgebogen, hätten aber dahin gemusst“.
„Ist doch alles Wurscht,“ blaffte die Frau, „es geht ja doch immer nur nach deinem Willen.“
Schweigen. Dann murmelte der Mann etwas aus dem Wagen heraus, in einem ganz anderen, sanften Tonfall. Elmar konnte die Worte nicht verstehen, aber es erinnerte ihn an eine Zirkusvorstellung, die er in seiner Kindheit einmal besucht hatte. August, der ewige Clown mit dem weiß geschminkten Gesicht und der roten Knollennase versuchte seine klebrige rosa Zuckerwatte von der hoch aufgesteckten Frisur einer zickigen Diva wortreich und unter johlendem Gelächter des Publikums mit seinem viel zu großen Kamm abzukratzen. Die pikierte Dame fauchte mit erhobenem Kinn etwas hochnäsig klingendes zu August hinunter, aber durch seine lautmalerischen Worten, untermalt von Gesten mit Kopf und Hand, konnte August sie wieder mild und wohlwollend stimmen. Sie kicherte und stieg wieder in den Opel ein. Dann zog sie die Tür zu, und es war es eine Weile ganz still. Mit einem lauten, schmatzenden Kuss sprang der Motor an, und die Reifen versprühten kraftvoll den aufgewirbelten Split durch die Luft, und bereits der zweite Gang, den August einlegte, verriet sportlichen Ehrgeiz.

Elmars Puls war wieder herunter auf 82. Er glaubte ein wenig Erschöpfung bei sich einzuziehen zu fühlen. Da das Gras unter ihm ziemlich feucht war, entschloss er sich, sich wieder auf sein Fahrrad zu setzen und die Fahrt auf den Felsen fortzusetzen. Er atmete noch einmal tief durch und sah sich auf dem schattigen Parkplatz um. Es war unter den Bäumen nun ziemlich dunkel, aber draußen auf der Straße stand unversehens die klare Sonne hoch an einem vollkommen blauen Himmel und schien auf saftig grüne Wiesen. Elmar musste die Augen zusammenkneifen, als er den Parkplatz verließ. Auf dem Acker gegenüber, an dem die Straße nun entlang führte, konnte man das Getreide von Minute zu Minute förmlich in den Samen gehen und reifen sehen. Es sog die Sonne geradezu in sich auf. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Hinter dem Acker befand sich ein Apfelbungert, der aus einer Reihe von eigenwillig posierenden, kautzigen Bäumen bestand, von denen verheißungsvoll kleine goldgrüne, noch vom Morgentau bedeckte Äpfelchen herüber glitzerten. Sie verströmten den Duft von frisch geerntetem Apfelblütennektar. Das geschäftig brummende Geräusch von Hummeln drang an Elmars Ohr, die eifrig von Apfelblüte zu Apfelblüte flogen. Sein Kopf begann von Schwärmen dieser dicken, fleißigen Insekten zu träumen, die wie eine Helikopter-Eskorte nun auch seine Fahrt zu begleiten schienen, so als wäre er die Königin ihres Volkes. Keine Revue mit Nummerngirls hätte reizender und charmanter sein können. Elmar sah lächeln zum Rheintal hinüber. Wie weiße Luftballons stiegen im Nordwesten feine Wölkchen aus dem weißen Dunst über dem Horizont, als ob sie jemand extra hat aufsteigen lassen, um seinen Blick über Wiesen und Felder auf die Berggipfel mit ihren Burgen zu beiden Seiten des Rheintals noch eindrucksvoller zu machen.
„Treten Sie ein, werter Herr, hier in unserem Theater zeigen wir Ihnen die ganze Welt!“ rief eine angenehme, kernige Herrenstimme in Elmars Hirnschale.
Elmar war überwältigt und lächelte, den Blick fest auf den Horizont gebannt. Schon glaubte er, dem Rhein bis hinunter nach Koblenz folgen und den fahlen Dunst durch seine Blicke auflösen zu können.

Die Welt da draußen erschien Elmar plötzlich freundliche und harmonisch, ganz anders, als er sie bisher wahrgenommen hatte. Er fühlte sich auf einmal glücklich und zufrieden, im Hier und Jetzt. In kleinem Gang stiegt er auf den nunmehr nur noch moderat ansteigenden Straße wie in Trance seinem Ziel entgegen. Der drängende Zwang zu Rhythmus und Geschwindigkeit hatte ihn entlassen. Den Fahrtwind fühlte er nicht, sondern genoss das warme Licht der Sonne. Sein Kopf war frei von allen Gedanken, ein wenig dumpf vielleicht von einer aufkommenden Müdigkeit, aber gespannt auf das Kommende. Er merkte, dass er sich selbst so nah war wie nie zuvor. Hatte er sich der Welt entzogen, hatte sein Geist eine andere Ebene erreicht ?

Ein Fernsehbericht über Reinhold Messner kam ihm in den Sinn, über den Mann, der ohne Sauerstoffgerät den höchsten Berg der Welt erklommen hatte, der seine Erfahrungen mitteilte, dass im Menschen, in jedem Menschen vielleicht, ein inneres Wesen existierte, dass erst dann zum Vorschien komme, wenn der Mensch an seine Grenzen geht. Dann sinnierte er über den griechischen Helden Odysseus, der einst unter großen Mühen und in vielen gefährlichen Abenteuern über das weite Meer irrte, nur um am Ende zwar wieder nach Hause zurückzukehren, nach Ithaka, von wo er einst in den Trojanischen Krieg ausgezogen war. Doch war er bei seiner Rückkehr ein ganz Anderer als derjenige, der einst ausgezogen war. Die Zauberin Circe, die betörenden Sirenen, der einäugige Zyklop Polyphem, gegen die er bestehen musste, waren sie nicht im Grunde seine wohlwollenden Gönner, die ihm, dem störrischen und eigenwilligen Krieger und Seefahrer, über viele Hürden mit beharrlicher Geduld den Weg zur Erkenntnis seines innersten Wesens zu ebnen versuchten ?

Elmar fiel jäh aus seinen Gedanken, als ihn von hinten eine nervös bimmelnde Kinderfahrradklingel aufschreckte. Elmar wendete seinen Kopf. Der kleine Junge setzte an, Elmar auf seinem Rädchen zu überholen. Seine Stirn war entschlossen gespannt, der Nacken einzogen, die kleinen Händchen schienen die Handgriffe am Lenker schier ausquetschen zu wollen. Die kleinen Beine strampelten wie die gut geölten Kolben und Pleuelstangen in einem Dieselmotor. Hinter ihm nach folgte die ganze Familie Fahrrad an Fahrrad wie die Eisenbahnwaggons der vorwärts stampfenden Lokomotive. Am Schluss hing der gut gelaunte Papa, in seinen karierten Kniestrümpfen locker mittretend, und prostete Elmar mit der Bierdose zu.
„Hallo, Herr Sportskollege, wie lange brauchen Sie noch ? Wir bestellen Ihnen oben in der Schänke an der Aussichtsplattform schon mal ein Bier.“
Ein gutes Dutzend PKWs, einige Radfahrer, darunter auch eine junge Familie, der Mann hatte ein Kinderwägelchen mit einem lustigen roten Wimpel auf einer hohen, schwankenden Stange, nutzten das lange gerade Stück voraus, um Elmar ebenfalls zu überholen. Aus dem Kinderwägelchen beäugte ein Kindchen mit Schnuller durch die Folienfenster beim Überholen Elmar ungläubig mit weit aufgerissenen Augen.

Elmar wusste nicht, was er geträumt und was tatsächlich geschehen war. Seine Beine fuhren wie automatisch, als ob eine fremde Macht sie steuerte. Die fremde Macht hatte ihm, Elmar, nun die Rolle eines Bummelzuges zugewiesen. Aber auch Bummelzüge kommen an, auch sie haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. In kleinen Schritten kommt man auch zum Ziel. Es kann nicht jeder der Erste sein, dabei sein ist alles. So muss jeder an seinem Platz kämpfen, jeder nach seinen Fähigkeiten. Elmar erschrak über diese so abgeklärte wie einleuchtende Logik, die sich in seinem Kopf eingenistet hatte, die mit einigen platten Allerweltsweisheiten seine sorgsam gepflegten, sportlichen Ambitionen im Handstreich auszuhebeln vermochte.

Hatte er bisher über solche Sprichwörter nur gelacht, so dämmerte ihm jetzt, dass darin doch vielleicht ein tiefer Sinn stecken könnte, dass es, was für die meisten Menschen bloß dahergesagt erschien, für den Einen oder Anderen, für ihn selbst, doch ein magischer Spruch war, mit einem ganz persönlich zu verstehenden Sinn. Hatte er je darüber nachgedacht ? Dabei-Sein-Ist-Alles. Er ließ sich den Spruch Wort für Wort mehrmals durch den Kopf gehen und sprach die einzelnen Worte dabei leise vor sich hin.

Ein kurzer Hupton hinter ihm lies Ihn zusammenfahren. Ein Lieferwagen näherte sich mit bedächtigem Tempo von hinten und fuhr dann langsam neben ihn. Die Seitenscheibe wurde heruntergekurbelt.
„Kann ich Ihnen helfen? Geht es Ihnen gut?“
„Danke für die Nachfrage“, sagte Elmar „Danke, aber es ist alles o.k.“
„Ich habe letztens schon einen älteren Herrn gesehen, genau hier auf dieser Straße, dem auf dem Fahrrad schwindelig geworden ist. Das kann bei der stechenden Sonne wie heute schnell passieren, wenn man das nicht gewohnt ist.“ Die Stimme aus dem Lieferwagen klang etwas besorgt. „Ich nehme Sie auch gern das letzte Stück mit hoch ins Besucherzentrum am Loreleifelsen, das ist nicht mehr weit. Dort können Sie sich dann etwas ausruhen, und etwas essen und trinken.“

Elmar war deprimiert über den Eindruck, den er offenbar bei dem Fremden hinterließ. Sein Knie schmerzte nun zwar nicht mehr, kein schmerzhafter Stich mehr beim Beugen des Kniegelenks, aber es fühlte sich matt und schlapp an. Unmöglich schien es ihm, seine Beine straff anzuspannen. Das Knie hatte die Sache entschieden. Die Hummeln hatten seinen Kopf wieder verlassen wie sie die Apfelblüten verlassen, wenn aller Nektar daraus aufgesogen ist. Er blieb stehen und stütze sich auf dem Rad mit dem rechten Bein am Boden ab.

Der Lieferwagen fuhr kurz entschlossen vor ihn und hielt an. Der Fahrer, ein junger Mann mit schmalem Gesicht, tiefschwarzen, kurzen, streng nach hinten gekämmten Haaren und ganz kurz rasiertem schwarzen Vollbart sprang heraus und kam auf ihn zu.
„Mein Herr, das ist doch gar kein Problem. Gerne bin ich Ihnen behilflich,“ sagte der junge Mann freundlich.
Er trug eine weinrote Uniform, passend zur Farbe seines Lieferwagens. „Pizza Blitz“ stand in goldener Schrift quer über der Hecktür, die der junge Mann nun flink aufklappte. Er führte Elmar zu Beifahrertür und öffnete sie. Elmar griff nach dem Rahmen und setzte den linken Fuß hinein. Noch ehe der sich drin gesetzt hatte, war der Junge Mann schon hinter den Wagen gelaufen, hatte Elmars Tourenrad im Laderaum verstaut und die Hecktür geschlossen. Dann sah er wieder nach Elmar, lächelte ihm freundlich zu.

Elmar merke aber an seinem Blick, dass sein Kopf von der Sonne und der Anstrengung wohl doch etwas rot angelaufen sein musste. Seine Backen, die Nase und die Stirn pochten heiß. Der junge Mann schloß aufmerksam die Tür und sprang mit wenigen Schritten hinüber zur Fahrerseite, wo es einstieg und in Nullkommanichts den Lieferwagen wieder in Schwung brachte. Der Motor gurgelte, der Wagen navigierte geschickt über enge, holprige Nebensträßchen zum Felsen. Eine scharfe Kurve noch, und sie stoppten direkt vor dem Lieferanteneingang auf der Rückseite der Besucherschänke. Der junge Mann stieg aus, half auch Elmar aus dem Wagen, und brachte ihm sein Tourenrad.
„Ich kann wirklich nichts mehr für Sie tun? Sehen Sie hier, auf diesem Weg kommen Sie direkt zur Terrasse.“
Sie verabschiedeten sich.

Elmar schob sein Rad über den von Lorbeerbüschen, Buchsbaum und Rhododendronstauden gesäumten Betonweg. Unter einem Lindenbaum sah er drei holzbeplankte Sitzbänke mit gußeisernem Rahmen, mit gelben und blauen Stiefmütterchen und kleinen Statuetten von tönernen, Harfe spielenden Engelchen eingerahmt. Der Lack war an einigen Stellen von den Sitzplanken abgeblättert. Auf der mittleren Bank saß ein alter Mann mit dünnem weißen Haarkranz, eingefallenen Backen, in einem beigen Leinenanzug und schwarzer Krawatte. Er blickte still vor sich hin. In der rechten Hand hielt er eine Gehhilfe aus Aluminiumrohr, mit blauem Plastikgriff und blauer Armklammer, Standard-Kassenmodell.

„So, lieber Herr Müller, ich bin sofort bei Ihnen. Möchten Sie sich nicht auch die Burgen drüben von der Terrasse aus ansehen? Es ist jetzt wunderschön dort.“
Leben kam in die grauen Augen von Herrn Müller, als die junge Pflegerin zu ihm trat und ihm auf die Beine half. Sie stützte ihm beim Gang ein wenig, doch mit der Gehhilfe konnte er sich auch trotz seines steifen rechten Knies recht eigenständig auf den Beinen halten. Er sah die beiden um die Ecke verschwinden und folgte ihnen einen kurzen Augenblick später.

Der Wirt hatte vor seiner Schänke ein ganzes Spalier von Holzbänken und -tischen aufgestellt, wo sich ein buntes Völkchen von Tagestouristen amüsierte und von der Tour über den Felsen erholte. Bei Kaffee, Kuchen, Bier, Softeis oder auch bei einem rheinhessischen Riesling, ausgeschänkt in dem berühmten bauchigen Weinglas mit dickem, geriffeltem Stiel, als „Römer“ bekannt, war die Stimmung der Gäste blendend. Die Älteren führten lebhafte Gespräche, während die Jüngeren ganz oft in ihr Smartphone vertieft waren. Kindergeschrei übertönte immer wieder das Stimmengewirr, und Gläser und Tassen klapperten auf den Holztischen.

„Hallo, der Herr“, eine Hand mitten aus der Menge winkte Elmar zu, „möchten Sie sich nicht zu uns setzen? Wir haben extra für Sie einen Platz freigehalten“.
Ein paar Gesichter auf den vorderen Bänken drehten sich zu Elmar hin um und nahmen einen nach neugierigem Bedauern aussehenden Ausdruck an. Elmar hatte unter den Blicken das Gefühl, dass seine Beine zusammengeschrumpft, sein Fahradfahrer-Outfit zwei Nummern zu groß, seine Füße platt, seine Nase rot und dick geworden seien, und dass man ihm die Tour hier hoch, die sein sportliches Tracking-Fahrrad dem ersten Eindruck nach nahezulegen schien, nicht recht zutraute. Als hielte er das Fahrrad für jemanden, der mal kurz in der Schänke austreten war.

Elmar stellte sein Fahrrad an Ort und Stelle ab und tappte langsam zu dem Tisch, von dem aus man ihn begrüßt hatte. Dort saßen die Familie aus Darmstadt mit den drei Kindern bei Bier, Orangensaft und Eiskrem, sowie ein etwas ergrautes Ehepaar bei einem Stück Kuchen, das eine entfaltete Straßenkarte vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Elmar hatte die Frau aus dem blauen Opel sofort wiedererkannt. Gut gelaunt erzählten alle von dem wunderbaren Ausflug, den sie heute erlebt hatten. Man rutschte zueinander und faltete die Karte zusammen. Elmar bestellte ein Mineralwasser. Abwesend folgte er dem Gespräch der beiden Paare.

„An der Lorelei istl schon mancher Schiffer abgesoffen“, sagte der lange Dicke, „Da ist bestimmt etwas Wahres dran. Sicher wird nicht jeder gleich von den Fischen gebissen worden sein. Vielleicht will uns die alte Sage nur daran erinnern, dass es hier für jeden das passende Verkehrsmittel gibt. Wir zum Beispiel nehmen immer die Regionalbahn. Das neue Hessenticket ist klasse. Und wer ganz müde Beine hat, der kann sich vom Linienbus ganz bequem hier hoch schaukeln lassen.“
 

Matula

Mitglied
Hallo Hans Dotterich,
eine hübsche Geschichte, bei deren Lektüre man sich vom Anfang bis zum Ende Sorgen um den Helden macht. Die Beschreibung der Nebenfiguren ist aus meiner Sicht ein bisschen zu ausführlich. In den Absätzen 3, 8 und 14 wären Tippfehler auszubessern.

Schöne Grüße,
Matula
 
Hallo Hans,

ich hab ein paar stilistische Anmerkungen. Nimm davon, was du gebrauchen kannst.

der leichte Stich, den er in seinem rechten Knie am oberen Scheitelpunkt
Ist das für die Geschichte so wichtig mit dem oberen Scheitelpunkt?

wie ihm das Ergometer an der Lenkstange versicherte.
"an der Lenkstange" kannst du streichen. Nur wenn das Ergometer an einer Stelle angebracht ist, die außergewöhnlich ist, wäre es bemerkenswert.

Ein blauer Opel, der ihn vor einer halben Minute noch beim Überholen geschnitten hatte, stoppte ungefähr 50 Meter vor ihm am rechten Straßenrand
blau, halbe Minute, ungefähr 50 Meter, rechter Straßenrand
Klingt detailliert wie ein Unfallbericht.

offenbar ein mit den Jahre ergrautes Ehepaar,
den Jahren

, er am Lenkrad, sie auf dem Beifahrersitz, sah er durch die Heckscheibe heftig über einer großen, weit auseinandergefalteten Straßenkarte gestikulieren.
Viel zu viele Details

von dem kleinen Bübchen mit den Stützrädern am Fahrrad
Gibt es auch große Bübchen?

Er nickte freundlich,
Hm, ich kann heftig nicken, langsam, schnell usw. Aber "nett"?

Der Papa staktste auf seinen langen, dünnen, milchweißen Beinen durch das hohe Gras und über den Graben, mit seinen ausgebreiteten Armen um Gleichgewicht rudernd, die Zehen in den breiten, offenen Sandalen hochziehend.
lang, dünn, milchweiß, hoch, über den, ausgebreitet, breiten, offenen
Viel zu sehr beschreibend und nicht unbedingt alles wichtig.
Gibt es auch geschlossene Sandalen?

Der Kleinste hatte ein knallig rotes Kinderfahrrad mit kleinen Rädern
Gibt es auch ein Kinderrad für Kleinste mit großen Rädern?

Der lange, ein wenig bauchbetonte Mann hatte schon lichten Haare und balancierte seinen Körper wie einen Kartoffelsack auf dem Sattel seines etwas überbelastet erscheinenden Aldi-Fahrrads. Strandsandalen, karierte Kniestrümpfe, bunte Nylonshorts und ein „I like New York“-T-Shirt bestimmten das Erscheinungsbild des in Schlangenlinie sein Frau hinterher strampelnden Fanilienoberhaupts. Die Frau trug ein enges Bikerkostüm, das quasi im Partnerlook zu den Shorts ihres Gatten blau-grün-violett gestreift war. Auf ihrem Gepäckträger waren prall gefüllte Satteltaschen und eine große Plastik-Kühlbox festgeschnallt.
Wozu die ganzen Beschreibungen?
Ich mal hier mal Schluss, das zieht sich durch den ganzen Text, macht es mir anstrengend, zu folgen. Denke immer, muss ich mir das alles merken, ist es wichtig?
Kürzen, den Text dadurch knackiger machen.

Und ein paar Minuten zu warten, bis die Kolonne ausreichend Vorsprung gewonnen haben würde.
einfacher: ausreichend Vorsprung gewonnen hatte.

Hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen etwas anfangen.

Liebe Grüße,
Franklyn
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Franklyn,

Danke für deine ausführlichen Kommentare. Super! Ich mag die Textarbeit sehr gern und versuche nun jeweils zu erläutern, was mein Gedanke bei dieser oder jener Textstelle war. Die Änderungen am Text mache ich aber erst nach Abschluss der Diskussion, sonst gibt das eine endlose Texthistorie.


...
Ist das für die Geschichte so wichtig mit dem oberen Scheitelpunkt?
Ich denke, der Scheitelpunkt gehört zur Wahrnehmung Elmars. Ein kleines Detail, das seine Aufmerksamkeit erregt hat.

"an der Lenkstange" kannst du streichen. Nur wenn das Ergometer an einer Stelle angebracht ist, die außergewöhnlich ist, wäre es bemerkenswert.
Ja, das stimmt! Die Lenkstange ist hier unnötig.

blau, halbe Minute, ungefähr 50 Meter, rechter Straßenrand
Klingt detailliert wie ein Unfallbericht.
In gewisser Weise ist ja zwischen den beiden tatsächlich ein Unfall passiert, ein Allerweltsunfall.

den Jahren


Viel zu viele Details

Gibt es auch große Bübchen?
Eine gute Frage. Große Bübchen mag es tatsächlich geben, aber das ist bestimmt eine ganz andere Kategorie von Leuten.

Hm, ich kann heftig nicken, langsam, schnell usw. Aber "nett"?
Ich denke, man kann "nett nicken". Das bedeutet, dass man den Blickkontakt zum Gegenüber wahrt, wie zum Gruß. Wenn man zur Antwort nickt und woanders hinsieht, kann das je nach Situation auch eine abweisende Wirkung haben.


lang, dünn, milchweiß, hoch, über den, ausgebreitet, breiten, offenen
Viel zu sehr beschreibend und nicht unbedingt alles wichtig.
Gibt es auch geschlossene Sandalen?

Gibt es auch ein Kinderrad für Kleinste mit großen Rädern?

Wozu die ganzen Beschreibungen?
Ich mal hier mal Schluss, das zieht sich durch den ganzen Text, macht es mir anstrengend, zu folgen. Denke immer, muss ich mir das alles merken, ist es wichtig?
Kürzen, den Text dadurch knackiger machen.
Das ist tatsächlich sehr redundant. Die Attribute sind aus Bildern entstanden, die ich beim Schreiben im Kopf hatte. In der Tat, dem Leser hilft das wenig.

einfacher: ausreichend Vorsprung gewonnen hatte.
Da bin ich nicht sicher. aus der Sicht vn Elmar liegt der Zeitpunkt, wo der Vorsprung ausreichend ist, in der Zukunft. Entsprechend habe ich statt "hatte" hier "haben würde" geschrieben. Die reine Vergangheitsform wäre meines Erachtens hier ein Fehler.

Danke nochmals für die schöne Diskussion. Man lernt nie aus.

Liebe Grüße

Hans
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Petra,

So sind sie halt, die Darmstädter. Das Hessenticket endet rechtsrheinisch in Lorchhausen, wenige Kilometer vor St. Goarshausen.:oops:
Nun ja, wir sind ja keine Kontrolleure.

Grüße

Hans
 

petrasmiles

Mitglied
Wenn ich über soetwas stolpere, denke ich immer an Krimiautoren - die ja nun wirklich anderes um die Ohren haben, als die Geographie. Und doch. Wenn einem Leser auffällt, dass A-Street nicht in B-Street übergeht, dann ist er soooo enttäuscht, dann sagt er sich, der kannix. Aber vielleicht sieht man das auch anders, wenn man fürs Lesen bezahlt hat :)
Aber die Recherche, um solche Fehler zu vermeiden, und den Zeitaufwand, den bekommt keiner mit.
LyrIs können ja gar nicht kontrolliert werden :)
LG Petra
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Petra,

Ja, das tut mir jetzt sehr leid, dass Sankt Goarshausen in Rheinland-Pfalz liegt, und dass es mit der Bahn aus Richtung Frankfurt doch ein paar Euro mehr kostet.

Ich habe mich vor vielen Jahren einmal bei der Deutschen Bundesbahn beworben. Umsonst, man hat mich nicht genommen. Du siehst weshalb.

Aber das macht nichts. Meine Heldinnen und Helden wie zum Beispiel Elmar Winkler tun ganz oft unüberlegte Dinge, verhalten sich nicht immer logisch und korrekt, geraten in prekäre Situationen. Nun, dafür sind sie ja meine Helden und es sind nur recht selten die Leser (gottseidank) , die das ausbaden müssen.

Liebe Grüße

Hans
 
Hallo Hans,

schön, dass du Textarbeit magst.
Dann bin ich mal gespannt, wie sich der Text noch entwickelt.

Etwas habe ich noch gefunden:

Der Wagen stoppte etwa 10 Meter vor ihm
In lit. Texten schreibt man Zahlen bis 12 i.d.R. aus.

Die Frau sprang heraus und kreischte
„Such dir
und kreischte: "Such

Aus dem Kinderwägelchen beäugte ein Kindchen mit Schnuller durch die Folienfenster beim Überholen Elmar ungläubig mit weit aufgerissenen Augen.
Sehr umständlicher Textaufbau. aus ... mit... durch ... beim ... mit ...
Ich würde mit "Beim Überholen" anfangen oder zwei Sätze draus machen.

Liebe Grüße,
Franklyn
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Franklyn,

Danke für die weiteren Vorschläge.

Ich finde, dieser eine lange Satz hat eine Funktion im Text. Tatsächlich würde ich ihn nur umstellen, aber nicht teilen. Etwa so:
"Ein Kindchen mit weit aufgerissenen Augen und Schnuller beäugte Elmar beim Überholen ungläubig durch das Folienfenster des Wägelchens".
Die Subjekt-Prädikat-Objekt-Masche geht eigentlich immer.

Grüße

Hans
 



 
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