Lückenbüßer

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rubber sole

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Es fühlt sich nicht gut an. Ich verschweige meine ausgeübte Berufstätigkeit. Weil es peinlich klingt. Muss ich nur selten nennen. Zum Glück. Bei Visaanträgen. Bei Hotelanmeldungen. Bei Nachbarn und Bekannten nie. Da weiche ich aus. Dabei gehe ich keiner unanständigen Arbeit nach. Im Gegenteil. Ich bin Dienstleister. Und zwar ein spezieller. Meine Berufsbezeichnung: Stopgap. Klingt auf Englisch unverfänglich. Viel interessanter als der deutsche Begriff: Lückenbüßer. Der ist negativ besetzt. Bringt keine Anerkennung. Ist auch kein gelisteter Lehrberuf. Als Fort- oder Weiterbildungsberuf ebenso wenig. Und doch kann ich davon leben. Sehr gut sogar. Inzwischen.

Am Anfang stand eine Beerdigung. Ich war zufällig in der Nähe. Wirkte offenbar seriös. Wurde als Ergänzung dazu gebeten. Anlässlich einer Trauerfeier. Mein Typ passte in diese Gesellschaft. Zur Vervollständigung. An einem Vierer-Tisch. Beim Leichenschmaus. Eine Lücke war zu füllen. Dort kamen meine Stärken zum Tragen. Ich kann gut zuhören. Passende Kurzkommentare abgeben. Gezielt und relevant. Das kam gut an. Ich hatte Erfolg. Und das mit Folgen. Unvorhergesehen. Meine Fähigkeiten sprachen sich herum. Ich wurde weiterempfohlen. Für verschiedene Anlässe. Immer auf Zuruf. Häufig als Begleiter. Für Alleinstehende auf Reisen. Bei Theaterbesuchen. Meine Spezialität: Platzhalter in Menschenschlangen. Oft in Zahnarztpraxen. Oder an Konzertkassen. Anfragen mit erotischem Anliegen lehne ich ab. Aus Prinzip. Gern bin ich dritter Mann beim Skat. Das kann ich gut. Honorar stundenweise. Getränke frei.

Dann der Aufstieg. Interessante Buchung. Für Filmaufnahmen. Eine Part war zu besetzen. Extrem kurzfristig. Als Komparse. Tragende Rolle. Jedoch ohne Text. Änderung des Drehbuchs nicht mehr möglich. Zu kurz vor Drehende. Ich wurde kostümiert. Sehr gekonnt. Perfekt geschminkt. Ein präsenter Auftritt. Bemerkenswert. Als Statist. So hieß es später. Viel Lob aus Fachkreisen. Ich wurde weiterempfohlen. Wieder einmal. Bei Film und Fernsehen. War bald sehr häufig zu sehen. Als sehr geschätzter Komparse. Kein Lückenbüßer mehr. Stumme Prominenz. So lautete die Wertschätzung. Auch beim Publikum. Ich war äußerst beliebt. Und dann wurde es mir zu viel. Der ewig Schweigende. Tagelang. Wechselnde Drehorte. Viele Reisen. Und irgendwann Anfragen für Homestories. Allein schon! Auch für Interviews. Ich lehnte ab. Alles dieser Art. Ich stieg aus.

Heute bin ich wieder Lückenbüßer. Ausschließlich. Das bringt mir Freude. Und ist einträglich. Dabei sehr abwechslungsreich. Nur selten kommen noch Fragen zur Filmtätigkeit. Meist von Nachbarn. Oder von anderen Bekannten. Die mochten mich in meinen Auftritten. In zahlreichen Filmrollen. Ich rede mich dann heraus. Verweise auf meine eigentliche Tätigkeit. Stopgap. Klingt wieder so vertraut. Übersetzen müssen die es selber. Das Wort Lückenbüßer kommt mir nicht über die Lippen. Immer noch nicht.
 
Hallo rubber Sole,

das ist ein interessanter Text!

Jedoch ohne Text. Änderung des Drehbuchs nicht mehr möglich. Zu kurz vor Drehende. Ich wurde kostümiert. Sehr gekonnt. Perfekt geschminkt. Ein präsenter Auftritt. Bemerkenswert. Als Statist. So hieß es später. Viel Lob aus Fachkreisen. Ich wurde weiterempfohlen. Wieder einmal. Bei Film und Fernsehen. War bald sehr häufig zu sehen. Als sehr geschätzter Komparse. Kein Lückenbüßer mehr. Stumme Prominenz.
Erinnert mich an einige andere stumme Prominenz :cool:

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Hallo Rubber sole,

Deinen Text habe ich sofort aufgerufen, schon, weil ich ein Gedicht gleichen Namens hier irgendwo gepostet habe. Aber Dein Text beleuchtet gänzlich andere Aspekte, und er gefällt mir von der Idee und dem Inhalt her sehr gut. Stilistisch erschließt sich mir allerdings nicht, warum Hack-Stil mit den ganz kurzen Sätzen sein muss. Die Lücken, für deren Ausfüllung Dein Protagonist engagiert wird, sind doch nicht alle gleich groß und auch nicht alle superkurz? Wozu dieser durchgängig gehetzte Stil, wo doch der Erfolg Deiner Figur gesichtert erscheint und er sich - inhaltlich - halbwegs saturiert zurücklehnt? Hier würden eine Variation m.M. viel bringen

MfG
Binsenbrecher
 

petrasmiles

Mitglied
Ich habe diesen Stakkato-Stil als eine Entsprechung von innen und außen betrachtet.
Großartig umgesetzt.

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

Mitglied
@SilberneDelfine:

freut mich, dass dich die Geschichte anspricht. Eine Nähe zu anderer stummer Prominenz ist mir selbst erst im Nachhinein aufgefallen. Danke für den Kommentar, SilberneDelfine.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

Mitglied
@Binsenbrecher:

den Schreibstil 'Staccato' benutze ich gelegentlich als Fingerübung - soll mich in der Weitschweifigkeit bremsen. Inhaltlich würde sich durch ein 'normales' Tempo für mich nichts ändern. Danke für dein Interesse, Binsenbrecher.

Gruß von rubber sole
 

Tonmaler

Mitglied
Ausgezeichnete Idee, das. Hat mich gleich gefesselt. Jetzt kommt leider ein 'leider'; nach meinem Geschmack wär da mehr drin gewesen, mit dieser Idee. Sozusagen mehr Pfeffer. Du erzählst zwar, was der LB so tut, aber nach der genial erzählten Einstiegsstory -- Beerdigung -- hörst du auf mit der Tragikomik und erzählst es recht profan runter. Damit wird der Text nicht schlecht, aber die Würze fehlt mir.


Eine Kleinigkeit:
ausgeübte Berufstätigkeit
Ausgeübte Berufstätigkeit, das klingt nach deutschem Amtsjargon. Und was ist das? "Ich besitze eine ausgeübte Berufstätigkeit." Oder habe ich die? Oder sage ich nicht, welchen Beruf ich ausübe.


Das Wort Lückenbüßer kommt mir nicht über die Lippen. Immer noch nicht.
Schön absurd. Mir hat mal einer dreißig Minuten lang erklärt, warum er nicht über sich selbst sprechen kann.

Ansonsten passen die kurzen Stückchen ganz gut überall rein.

Beste Wünsche
tm
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Tonmaler,
danke für dein aufmerksames Lesen und für die wohlwollenden Anregungen. Es liegt an meiner Art, eine Geschichte so voranzutreiben, dass z.B. Tragikomik, wie in diesem Fall, nicht weitergeführt wird - möglicherweise wirkt dies an dieser Stelle tatsächlich profan, wobei ich hoffe, nicht in einen Wikipedia-Stil zu verfallen. Ja, Ausgeübte Berufstätigkeit ist Amtsdeutsch, in welchem diese in Formularen oft abgefragt wird.

Gruß von rubber sole
 



 
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