Märchen-Welt 1

Vorwort

Diese Geschichte existiert seit ich denken kann in mir. Doch ich verstand sie erst vollständig, nachdem ich die Worte in mein Tablet eingab. Wie ein eigenständiges Wesen beeinflusste und formte sie meine Gedanken und schlich sich in meine Träume. Zu gewissen Zeiten gönnte sie mir keine Ruhe. Selten, wenn der Alltag meine komplette Aufmerksamkeit forderte, musste ich sie in stillen Stunden suchen gehen. In einem solchen Fall war ich gezwungen, all meine Überredungskünste anzuwenden, damit sie mir weiterhin ihre Geheimnisse verriet. Sie begleitete mich schlussendlich über Jahre und erklärte mir ausführlich in seltsamen Momenten und in dunklen Nächten ein Stückchen ihres Inhaltes. Mit Geduld und dem richtigen Blickwinkel fing ich die einzelnen, anfangs für mich unverständlichen Fragmente dieser Geschichte ein. Sobald ich die Zusammenhänge des Erzählten erkannte und verstand, schrieb ich Stück für Stück diese Geschichte nieder und es entstand die Märchen-Welt.

Märchen-Welt

Lernprogramm

Eine junge, zierliche Frau steht mit ihrem roten, körperbetonten Kleid und mit braunen, langen, gelockten Haaren zwischen dunklen Regenwolken. Trotz strömendem Regen trifft diese junge Frau kein einziger Wassertropfen. Der starke Regen versickert im Boden und fließt aus vielen kleinen Quellen über die Erdoberfläche. Das Wasser wird zu einem Bächlein und später zu einem breiten Fluss, der sich mit anderen Flüssen vereint, zu einem stetig größer werdenden Strom wird und schlussendlich das Meer erreicht. Die Sonne erhitzt das Wasser der Meeresoberfläche. Der Wasserdampf bildet Wolken. Diese ziehen übers Land und werden am Berghang, an dem die junge Frau alles genau beobachtet, aufgehalten. Die Wolken sind gezwungen, in die Höhe zu steigen und verlieren deshalb ihr Wasser. Der Kreislauf beginnt von neuem.

Die junge Frau heisst Jasmin und sie befindet sich in einer virtuellen, künstlichen, komplett in ihrem Kopf abspielenden Lernprogramm-Welt. Ihr Körper ist zu Hause, doch ihr Gehirn spielt ihr vor, sie stehe an einem Berghang und beobachte die Regenwolken mit dem kompletten Wasserkreislauf. Morgens betritt Jasmin mit ihren Gedanken eine interessante, virtuelle Lernprogramm-Welt, die vollkommen anders ist als ihre eintönige, dunkle und leere Realität. Heute lernte sie, wie vor dem 3. Weltkrieg Regen, Schnee, Hagel, Sturm und Wind entstand. In ihrer Realität gibt es keine unterschiedlichen Wetterverhältnisse mehr, was Jasmin sehr bedauert. In den virtuellen Lernprogrammen werden der jungen Frau die meisten Themen ohne einen menschlichen Lehrer, wie in einem dreidimensionalen Film vorgeführt. Sie lernt durch genaues Beobachten, durch das Erkennen von Zusammenhängen und durch ihre Fähigkeit, Problemlösungen auszudenken. Sie ist in diesem Programm, das sie alleine mit ihren Gedanken betritt, immer die einzige reale, anwesende Person. Alle anderen Wesen in den Lernprogramm-Welten sind programmiert, nicht real und bestehen ausschließlich aus einem riesigen Datenstrom. Jeden Tag am Ende ihres virtuellen Lernprogramms spricht eine unsichtbare, monotone Computerstimme, die allgegenwärtig ist, mit Jasmin und fragt die junge Schülerin über das Gelernte ab. Jasmin muss das Gesehene zusammenfassung, Schlussfolgerungen ziehen und themenbezogene Fragen beantworten. Dies alles spielt sich alleine in der virtuellen Gedankenwelt der jungen Frau ab, während Jasmins Körper meist tatenlos zu Hause in einer komplett anderen Welt bleibt. Die virtuellen, alleine in ihren Gedanken abspielenden Naturwissenschaften-Lektionen findet Jasmin meist spannend. Doch die junge Frau fragt sich nach jeder weiteren Lektion. Weshalb muss ich die Naturgesetze kennen? In der realen Welt, in unserer Stadt, ist kein Fleckchen Natur zu sehen. Außer den Menschen und den Mikroben lebt hier nichts. Alleine die virtuellen, künstlichen Welten, die man besucht, indem man einen Funkverbindungs-Stick in sein Gehirn steckt, sind noch echt natürlich.

Geschichte ist ihr Lieblings-Lernprogramm-Fach. Am liebsten hätte sie die Jahre um 1900 real miterlebt. Sie liebt es, mit ihren Gedanken das virtuelle Lernprogramm dieser Epoche zu betreten. Damals begann die Welt sich zu verändern. Mehr als 2000 Jahre vergingen seither. Dort liegt der Ursprung meiner realen, heutigen Welt, denkt Jasmin. So spannend Jasmin die meisten dreidimensionalen, virtuellen Lernfächer findet, sie versteht nicht, weshalb sie die längst vergessenen Ereignisse der untergegangenen Kulturen lernen muss. Heute gibt es andere Regeln und Gesetze als damals. Die Prioritäten der Menschen haben sich über die Jahre radikal verändert.

Nicht nur die Lernfächer Geschichte und vergangenes, kulturelles Wissen sehen ihre virtuellen Lernprogramm-Lektionen vor. In den Fächern gesprochene und gelesene Sprache, Sozialkunde ihrem Hauptfach, Mathematik und in den Naturwissenschaften-Fächer wird Jasmin ebenfalls unterrichtet. Nicht alle dreidimensionalen, virtuellen Lernprogramme mag sie. Mathematik langweilt sie, da sie in diesem Fach unterfordert ist und die Sozialkunden-Lektionen findet sie schrecklich eintönig.

Gestern hörte sie in ihrer virtuellen Lernprogramm-Lektion „Geschichte“ zum ersten Mal in ihrem Leben zauberhafte Musik. Vor 1000 Jahren besass die Musik auf der ganzen Erde noch große Bedeutung. Alle Formen der Kunst waren nie entscheidend für unser Überleben. Weshalb war die Musik dennoch früher sehr beliebt? fragte sich Jasmin gestern. Alle Formen der Kunst verschwanden zu Jasmins Bedauern schon seit langem aus der realen Stadt, in der sie wohnt. Kunst ist dazu da, von anderen Menschen bewundert, kritisiert und beachtet zu werden, verstand Jasmin nach ihrem Besuch im virtuellen Lernprogramm. An einem beinahe menschenleeren Ort, wie Jasmin in ihrer Realität wohnt, kann also Kunst nicht existieren.

Was war Kunst? fragte sich die junge Frau gestern nach dem Besuch des virtuellen Lernprogramms. Auch wenn sie auf der Verstandesebene keine Antwort auf diese Frage fand, so wusste sie doch tief in ihrem Herzen, dass Kunst damals vor Tausenden von Jahren etwas Wertvolles war. Jasmin liebte die gehörten Musikstücke der Vergangenheit im virtuellen Lernprogramm von gestern. Sie fühlte sich nach dem Anhören dieser Töne eigenartig betroffen. Einige Lieder sprachen direkt mit ihrem Herzen. Sie weinte und war gleichzeitig überglücklich. Die Liedertexte hinterließen in ihrem Kopf wunderschöne, traurige, bunte und bewegende Bilder einer längst vergessenen Zeit. Weshalb gibt es in meinem realen Leben nichts Schönes?

Auch das virtuelle Lernprogramm-Fach „Religionen“ wurde angerissen, was Jasmin faszinierend fand. Gab es damals in der Vergangenheit tatsächlich eine höhere, gutmütige Macht, die über die ganze Menschheit wachte? wollte Jasmin unbedingt wissen. Vor einigen Tagen, nach dem sie mit ihren Gedanken aus dem virtuellen Lernprogramm mit dem Fachgebiet „Religionen“ austrat, verspürte sie in ihrer leeren, realen Welt eine große Sehnsucht. Zu welchem Zeitpunkt der Geschichte hat die Menschheit das Vertrauen, die Hingabe und die Hoffnung verloren? Weshalb fühle ich mich in meiner Realität derart einsam und leer? fragte sie sich dann ein weiteres Mal.

Jasmin wurde schnell bewusst, dass sie in letzter Zeit mit sich selbst kämpfte, da ihr ein Anhaltspunkt in ihrem Leben fehlte. Ihr erschien ihre Existenz sinnlos und überflüssig. Die toten Religionen der Vergangenheit gaben ihr den Eindruck, diese Lücke füllen zu können. Mit ihrer Hilfe glaubte sie, einen Sinn in ihrem Leben finden zu können. Jasmin wünschte sich sehnlichst, wie die religiösen Menschen der Vergangenheit bedingungslos vertrauen zu dürfen. Wie gerne würde sie sich beschützt und in Sicherheit wissen. Gott würde sie lieben und sie wäre nicht mehr einsam. Was würde sie dafür geben, wenn sie heutzutage diese bedingungslose Liebe, Zuversicht und Hoffnung dieser religiösen Menschen der Vergangenheit verspüren könnte?

Zu Hause nach dem Austreten aus der dreidimensionalen, virtuellen Lernprogramm-Welt hatte Jasmin einen ersten Versuch gestartet. Sie wollte gläubig werden. Sie sagte sich, dass alles gut sei, so wie es ist. Sie wollte sich in die vollkommene Dunkelheit stürzen und daran glauben, dass sie von einem Gott der Vergangenheit an der Hand genommen und hinaus ins Licht geführt wird. Doch als sie die virtuelle Programm-Welt mit ihren Gedanken verließ und in ihre düstere Realität eintrat, konnte sie leider nicht in den warmen Schleier einer Religion eintauchen. Sie musste sich eingestehen, dass ihr reales Leben nicht lebenswert ist. Sie empfand Trauer. Sie trauerte um die reale, vergangene Welt voller emotionsgeladener Menschen und bestückt mit vielseitigem Leben. Heute ist diese lebendige Welt verschwunden, wurde ihr mit voller Wucht bewusst. Sie fühlte eine große Leere daraufhin. Sie war einsam und vom Leben abgelöst. Ich kann kein gläubiger Mensch werden, wurde ihr dann klar. In meiner realen Welt ist Gott tot.

Der einzige Mensch, der in der Realität mit Jasmin spricht, ist ihr Vater. Die junge Frau darf ihren Vater jedoch nicht mit „Papa“ ansprechen. Sie muss ihn immer bei seinem Vornamen Leonardo nennen. Leider sind alle Gespräche zwischen Jasmin und Leonardo sehr eintönig und einseitig. Jasmins Papa ist ein extrem bedachter und Vernunft betonter Mensch. Emotionen, außer Wut, scheint er kaum zu verspüren. Er prüft jedes Wort auf seine möglichen Folgen, bevor er es ausspricht. All sein Handeln muss zweckmäßig sein, damit es von ihm ausgeführt wird. Mit diesen Voraussetzungen kann Jasmin nicht mit ihrem Vater über Kunst oder Religionen sprechen, denn Leonardo möchte sich nicht mit emotionalen, nicht überlebenswichtigen Gedankengut belasten. Manchmal wird ihr Vater wütend, wenn Jasmin ihn mit Fragen bewirft, die er nicht beantworten kann oder will. Trotzdem streiten die Zwei niemals miteinander. Jasmins Vater zieht sich immer zurück, bevor ein Streit entstehen könnte. Er ließ seine Tochter schon oft stehen, wenn er fürchtete, das Gespräch könnte zu Auseinandersetzungen führen.

Gestern stellte Jasmin Leonardo eine Frage, die ihr schon lange durch den Kopf schwirrte. Sie wollte wissen, weshalb sie so vieles lernen muss, das in der heutigen Realität keine Bedeutung mehr besitzt. Leonardo antwortete ihr langsam und in Gedanken versunken: Wir leben in ständigem Wandel. Jeden Tag treffen wir Entscheidungen, die über unseren Fortbestand bestimmen. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Mit dieser Antwort war Jasmin unzufrieden, was sie mit zusammengedrückten Augen offen zeigte. Sie hatte den Eindruck, dass ihr Papa eine vorgedruckte Standart Antwort verlas, als würde er Fernsehsprecher sein. Erneut fragte Jasmin ungeduldig: Und weshalb muss ich all dieses vergangene Wissen lernen? Ich habe noch nie lebenswichtige Entscheidungen treffen müssen. Leonardo fixiert Jasmin mit den Augen. Ein wenig enttäuscht meint er: Jasmin, sei dir bewusst, was du für eine große Verantwortung auf deinen Schultern trägst. Dir gehört unser aller Zukunft. Jasmin wollte keine Verantwortung. Sie wollte naiv und unbeschwert, wie bisher durch ihr Leben gehen und sich keine Gedanken machen müssen, was ihr Handeln für Folgen haben könnte. Sie fürchtete den Tag, an dem sie Entscheidungen treffen muss, die über Leben oder Tod bestimmen könnten. Sie fühlte sich unfähig, schwach und vor allem unsicher.

Provozierend und impulsiv fragte die junge Frau heute früh ihren Papa. Weshalb lassen wir nicht einen Gott über uns Menschen bestimmen und geben die Verantwortung für uns alle an diesen ab? Nachdem sie diese Frage ausgesprochen hatte, bedauerte sie bereits, diese gestellt zu haben. Sie wusste ganz genau, dass Leonardo jegliche Form von Religiosität nicht verstehen kann und zutiefst verabscheut. Was mit dem nackten Verstand nicht zu klären ist, hat für Jasmins Vater keine Bedeutung. Da Jasmin heute früh auf keinen Fall alleine sein wollte und sie nicht das Bedürfnis hatte, in einer virtuellen Parallelwelt Gesellschaft zu suchen, hätte sie ihrem Vater nicht diese Ärger erregende Frage stellen dürfen. So bestand die Gefahr, dass Leonardo davonläuft und nicht mehr mit ihr sprechen möchte. Mit wem sollte sich Jasmin dann in der realen Welt unterhalten? Mein Vater ist meine einzige, reale Bezugsperson. Jasmin klammerte sich heute früh an diesen gefühllosen, jedoch korrekten Menschen, wie ein Kleinkind, das ohne Hilfe zu Tode verurteilt ist. Um dem Gefühl zu entkommen, einsam und verlassen zu sein, schwächte Jasmin ihre impulsiv ausgesprochene Frage an ihren Papa ab und fügte schnell und leise hinzu. Du musst nicht auf meine Frage antworten, Leonardo. Es gibt keinen Gott. Ich bewundere dich dafür, dass du immer weißt, was die richtigen Entscheidungen sind und dass du nie an deinen Fähigkeiten zweifelst, so wie ich. Ich fühle mich unsicher. Werden wir überleben? Vaters gekrauste Stirn entspannte sich nach diesen Worten. Ihr Papa schien nicht mehr vor ihrer Frage fliehen zu wollen. Er bemerkte, dass Jasmin Ängste hatte und meinte daraufhin beruhigend. Mach dir keine Sorgen Jasmin. Ich verspreche dir, ich werde dich beschützen. Jasmin lehnte sich an Leonardos Schulter und schwieg. Es ist schön, wenigstens einen Menschen zu haben, dem ich am Herzen liege, dachte sie.

Zu Hause

Jasmin zieht den Funkverbindungs-Stick zum virtuellen Lernprogramm, in dem es regnet, aus ihrem Kopf. Ihr wurde eine kleine Steckdose mit Verbindung zu ihrem Gehirn über dem linken Ohr eingepflanzt. Dank dieser Dose ist das Eintreten in eine virtuelle, dreidimensionale Parallelwelt sehr einfach und an jedem Ort mit Funkverbindung möglich, weiss sie.

In der Realität verwandelt sich das leuchtende Rot von Jasmins Kleid, das in der virtuellen, dreidimensionalen Lernprogramm-Welt mit dem aufgezeigten Wasserkreislauf prächtig glänzte, zurück in ein mattes Anthrazit. Zurück in ihrer Realität ändert sich die Umgebung der jungen Frau radikal. Hier existieren kaum Farben, wie in der hellen, bunten Lernprogramm-Welt, die sie soeben besuchte. Auf der Terrasse eines riesigen Wolkenkratzers erscheint die reale Umgebung fast ausschließlich in schwarz-grau. Die matte, farblose Umwelt hier in der Realität ist, obwohl Jasmins neuartige Armbanduhr beinahe Mittagszeit anzeigt, sehr düster und dunkel. Das stark gedämpfte, feine, kaum vorhandene Sonnenlicht kann die Mauern um Jasmin herum nicht prächtig und hell erscheinen lassen. Die Luft ist schmutzig und staubig und Licht dringt kaum bis auf die Steinmauern des Gebäudes durch. Beinahe ausschließlich auf dieser hohen Terrasse kann man den kaum vom Sonnenlicht erhellten Tag von der künstlich beleuchteten Nacht unterscheiden. In Jasmins Realität sind keine Fenster notwendig, denn in den Wohnräumen reicht das wenige Sonnenlicht ohnehin nicht aus für die alltäglichen Beschäftigungen. Fensteröffnungen würden kaum mehr Tageslicht spenden. Dunkle Staubwirbel dringen immer wieder durch jede schlecht verschlossene Öffnung in die Wohnung hinter der Terrasse ein. Die einst vorhandenen Fensteröffnungen ohne Glasscheiben verschloss der Vorbesitzer dieser Wohnung. Es war bestimmt die einfachste Lösung, um den Staub aus der Wohnung zu verbannen. Alleine den Durchgang vom Wohnzimmer zur Terrasse ließ der Vorbesitzer bestehen, damit weiterhin die hochgelegene Terrasse besucht werden kann. Keine Tür trennt die Terrasse vom Wohnzimmer. Über der Türöffnung hängt lediglich ein feiner, Staub undurchlässiger, synthetischer Stoff. Die schmutzige, dunkle Luft auf der Terrasse hinterlässt stetig eine dicke Staubschicht auf dem Boden im Wohnzimmer. Eine von Jasmins Aufgaben ist das Wegwischen des dunklen Staubes im Wohnraum hinter der Öffnung.

Hier in der realen Welt steht die junge Frau alleine zwischen dunklen Staubwirbeln auf der zweitobersten Terrasse eines extrem hohen, riesigen Wolkenkratzers. Ausser einem leisen Hintergrundgeräusch von ratternden Maschinen, herrscht hier oben Stille. Kein Vogelgezwitscher ist zu hören. Keine Ameise klettert auf dem Terrassengeländer herum und kein Falter fliegt durch die dunklen Staubwolken. Keine Grashalme und keine Flechten wachsen zwischen den kahlen Mauern des hohen, toten Gebäudes. Nirgends ist Holz oder braune Erde sichtbar. Alles erscheint Jasmin hier oben steril und tod. Das extrem hohe Gebäude, auf dem die junge Frau steht, wurde fast ausschließlich aus kalten, niemals lebendig gewesenen Materialien aufbaut. Der Wolkenkratzer besteht hauptsächlich aus Metallplatten und aus Steinen. Vereinzelte kleinere Gegenstände aus brüchigen und verblichenen Plastikteilen geben dem Gebäude ein unordentliches und verfallenes Erscheinungsbild.

Die Terrasse, auf der Jasmin steht, ist 10 Meter breit, etwa 20 Meter lang und ihr Grundriss ist leicht gerundet. Ein metallenes, instabiles Geländer säumt diese Terrasse. Links endet diese Plattform aus Metallplatten an einer Backsteinmauer, die nach dem Fertigstellen dieses Wolkenkratzers aufgestellt wurde. Die schlampig hergestellte, instabile Mauer steht als Unterteilung auf den Metallplatten des Terrassenbodens und versperrt nun der jungen Frau die Aussicht nach links. Rechts führt das metallene Terrassengeländer um einen Ecken und verbindet sich mit der Mauer, die das Wohnzimmer von der Terrasse trennt. Die junge Frau steht in diesem Ecken der zweit obersten Terrasse eines extrem hohen Bauwerkes, hält sich am gierenden, metallenen Geländer fest und schaut an der senkrechten, hohen Mauer hinunter, die rechts unter der Terrasse beginnt. Hier oben spürt sie, dass der Wolkenkratzer leicht schwankt. Sie blickt zwischen den Staub-Wirbeln hindurch nach rechts und erkennt vage mehrere Meter entfernt eine gerade Außenmauer eines weiteren, exakt gleich hohen Wolkenkratzers. Wie ein Spiegelbild der geraden Mauer des Gebäudes, über der die junge Frau steht, ragt diese entfernte, riesige Außenwand des rechten Wolkenkratzers hinter den Staub-Wirbeln in die Höhe. Zwischen diesen zwei riesigen Bauwerken befindet sich ein großer, leerer Hohlraum, der sich gegen unten vergrößert. Die zwei freistehenden, riesigen Hochhäuser, von diesen Jasmin alleine die letzten, höchsten Stockwerke betrachten kann, stützen sich zuoberst gegenseitig ab. Der Boden über ihrer Wohnung bildet das letzte Stockwerk beider Wolkenkratzer. Er ist verlängert und deckt teilweise freihängend die gemeinsame Spitze der zwei riesigen, terrassierten Bauwerke.

Jasmin verlässt den Ecke der Terrasse und läuft gedankenabwesend über den ächzenden Metallboden dieser Terrasse. Sie folgt dem frontalen, langen, metallenen Geländer nach links Richtung absperrende Backsteinmauer. Einige untere Terrassen liegen nun wie große, runde Treppenstufen, die sich gegen den Himmel verschmälern, unter ihr. Von hier oben auf dem Wolkenkratzer sieht Jasmin unscharf auf eine schmutzige, dunkle Staubwolke hinunter, die wie ein schwarzes Meer mit hohen, runden Wellen einige Stockwerke unter ihr schwebt. Große Fetzen dieser dichten Staubwolke lösen sich ab und steigen langsam vorbei an der jungen Frau in die Höhe. Dieses dichte Staub Meer versperrt ihr meistens die Sicht auf die weiter unten liegenden Terrassen des Bauwerkes. Bis hinunter auf den Erdboden sah Jasmin noch nie. Jetzt sind etwa 100 weitere, breiter werdende Terrassen teilweise zwischen den schwebenden Staubwirbeln undeutlich zu erkennen. Die junge Frau schleicht unruhig und ziellos umher. Der Boden der Terrasse ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt, so dass ihre Fußabdrücke kurz sichtbar bleiben. Nicht lange, denn der Staub setzt sich gleich wieder ab und lässt die Abdrücke schnell verschwinden.

Die junge Frau wünscht sich heiße Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie wünscht sich Schneeflocken, die langsam in der Luft schweben. Sie wünscht sich einen runden Mond und viele leuchtende Sterne in die Nacht. Doch all ihre Wünsche können sich nicht in ihrer Realität an ihrem Wohnort verwirklichen. Hier in Jasmins Realität ist es nie zu heiß, nie zu kalt, nie weht ein Wind und niemals treffen Regentropfen oder Schneeflocken diese Terrasse. Alleine in den virtuellen, dreidimensionalen Parallelwelten, die Jasmin oft mit ihren Gedanken betritt und die ihr natürlicher, realistischer und heller vorkommen als ihre dunkle, hoffnungslose Realität, existieren noch verschiedene Wetterverhältnisse und unterschiedliche Jahreszeiten.

Den realen Himmel sah die junge Frau noch nie, denn eine leicht durchsichtige, verblichene, gerundete Wand versperrt ihr die Sicht nach oben. Die schwach durchsichtige Kuppel über der Stadt, in der du lebst, beschützt alle Bewohner vor gefährlichen, äußeren Einflüssen, wie zum Beispiel den Naturkatastrophen oder der Luftverschmutzung durch Giftgase. Dank dieser riesigen, verblichenen Kuppel, die deinen Wohnort, diese Stadt von der Außenwelt komplett isoliert, leben alle Menschen darunter in Sicherheit, erzählte Leonardo einst euphorisch. Die Kuppel-Wand scheint sich heute näher denn je zu befinden. Jasmin stellt sich hinter dieser undurchsichtigen Kuppel-Wand eine entfernte, unbekannte, fremde Welt vor. Leider fand sie bisher keinen Beweis für die Existenz einer lebendigen, anderen Welt außerhalb der Kuppel. Kein Wunder, denn sie lebt fast ausschließlich in ihrer Wohnung mit der großen Terrasse und darf ohne die Begleitung ihres Vaters keine Erkundungstouren unternehmen. Leider verlässt Leonardo nur selten diese Wohnung oben im Wolkenkratzer. In dieser Wohnung und in ihrer Nähe ist Jasmin Vater kerngesund und total fit. Doch sobald er sich für längere Zeit von seinem Wohnort entfernt, scheint er krank zu werden und bekommt Schwächeanfälle. Leonardo rechtfertigt seinen Unwillen, die Wohnung zu verlassen mit den Worten: Wir wohnen am wunderbarsten Ort, den es hier gibt. Weshalb sollten wir unsere schöne Wohnung verlassen? Nirgends ist die Luft weniger verstaubt als hier oben. Es nützt der jungen Frau nichts, sich zu beklagen, dass sie gerne mehr von der realen Welt sehen möchte. Sie muss fast immer zu Hause bleiben. Sie unterdrückt ihr Verlangen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, indem sie sich selbst sagt: Leonardo hat nicht unrecht. Wir wohnen tatsächlich an einem besonderen Ort, denn hier oben auf der Terrasse dieses Wolkenkratzers ereignen sich ganz selten Wunder. Jasmin wartet angelehnt am Terrassengeländer geduldig auf eines. Und dann, ein dünner Sonnenstrahl trifft ihr altes Kleid und für kurze Zeit erkennt Jasmin die Farbe Rot. Es beruhigt die junge Frau sehr zu wissen, dass die Sonne in der realen Welt noch existiert. Leider sieht sie diesen hellen Stern in ihrer Realität nie im Himmel. Dank den virtuellen Parallelwelten weiss sie aber, dass die Sonne rund, sehr heiß und extrem hell sein sollte.

In einem Alter von fast 16 Jahren schwirren tausend Fragen in Jasmins Gedanken umher. Wenn Leonardo ansprechbar ist, beantwortet er einige dieser Fragen. Meist versteht ihr Vater aber nicht, weshalb Jasmin sich den Kopf zerbricht und weshalb sie so viel lernen möchte. Wenn er eine Frage beantwortet hat, dann entstehen in Jasmins Kopf weitere Fragen und dann ist sie noch mehr verwirrt als zuvor. Leonardo vertraut Jasmin selten seine Gedanken und Ideen an. Manchmal fragt sich Jasmin, ob er eigene Ziele und Wünsche für sein kurzes Leben besitzt, denn er denkt nie an sich selbst. Die ganze Stadtbevölkerung und vor allem die Bedürfnisse von Jasmin liegen ihm am Herzen. Für sich selbst hat er nie etwas gefordert. Mit Ausnahme einiger seltener Wutanfälle ist Leonardo immer ausgeglichen, ruhig und beinahe teilnahmslos. Er versucht alle Fragen seiner Tochter zu beantworten, trifft jedoch auf Hindernisse, sobald Emotionen ins Spiel kommen. Er kann nur logische und rationale Antworten abliefern und hat kaum Fantasie. Jasmin ist deshalb oft enttäuscht von ihrem Gesprächspartner.

Sie liebt und bewundert ihren 52 Jahre alten strikten, intelligenten und bedachten Papa trotzdem. Er ist ein schlanker, großer, gepflegter und gesunder Mann. Mit seiner geraden Haltung, den grauen, dichten Haaren, der bleichen, straffen Haut und den funkelnden, blauen, aufmerksamen Augen vermittelt er Sicherheit. Früher war er einmal ein wichtiges Mitglied der Regierung dieser Stadt, weiss Jasmin

Auf Leonardos straffen Gesicht mit Bartstoppeln befinden sich einige unschöne Narben, die ihm eine gewisse Strenge vermitteln. Seine rechte Hand ist vernarbt und ihm fehlt die Bewegungsfreiheit einiger Finger. Anstelle der linken Ohrmuschel befindet sich dort eine unschöne, vernarbte Hautfläche. Sein linkes Ohr verlor Leonardo vor langer Zeit. Ein Computer-Stick steckt in seiner linken, verstümmelten Ohröffnung. Dank diesem Stick kann er auf der linken Seite seines Kopfes trotz Verletzung hören. Leonardo besitzt keine Steckdose mit Verbindung zu seinem Gehirn wie Jasmin, um in eine virtuelle Parallelwelt einzutreten. Jasmin nimmt an, dass ein Steckdosenanschluss für die virtuellen Welten bei einer Kopfverletzung nicht möglich ist. Da Leonardo bereits einen Stick zum Hören in seine linke Kopfhälfte implantieren ließ, ist bestimmt kein Platz mehr vorhanden, um einen Steckdosenanschluss für virtuelle Vergnügungs Welten einzusetzen, glaubt Jasmin zu verstehen. Niemals hat Jasmin beobachtet, dass Leonardo in eine virtuelle Welt eintrat. Er lebt vollständig in seiner Realität und scheint die virtuellen Vergnügungs-Welten nicht zu missen.

Jasmin verlässt die Terrasse und tritt in ein großes, kaum möbliertes Wohnzimmer ein. In der Raummitte befindet sich ein tonloses, dreidimensionales Hologramm, das Berge zeigt und beinahe den ganzen Raum ausfüllt. Die junge Frau läuft durch das flimmernde Hologramm hindurch und setzt sich abwesend auf das graue Liegesofa in der rechten Ecke. Die Steinwände sind übersät von neuzeitlichen Steckdosen und dicke Kabel verdecken die kleinen Wandlichter, so dass der Wohnraum unheimlich und düster wirkt. Die Metallplatten der Decke verschwinden hinter vielen verschiedenen Kabelkanälen. Drei Haken besetzt mit zwei Westen sind am einzigen kabellosen Fleckchen Wand neben der Treppe befestigt. Links führt diese breite Treppe aus Blech auf das Dach des Hochhauses. Dort oben ist der Arbeitsplatz von Jasmins Vater. Noch nie hat sie diesen geheimnisvollen Ort besucht. Weshalb die junge Frau nie die Treppe hinaufsteigt, ist ihr heute ein Rätsel. Sie nimmt sich vor, diesen Ort auf dem Dach der Wolkenkratzer möglichst schnell zu betreten. Denn sie erfuhr vor kurzem, dass sich dort oben das Computer-Gehirn befindet. Die Bürger der Stadt, in der du lebst, besitzen in ihrem Kopf einen Empfänger und sind dank diesem ständig mit dem Computer-Gehirn verbunden. Das künstliche Gehirn verhindert jegliche Straftaten der Einwohner dieser Stadt. Alle gewalttätigen und egoistischen Gedanken der Menschen mit Empfänger existieren dank dem künstlichen, kontrollierenden Gehirn nicht mehr. Jegliche Ungerechtigkeiten verunmöglicht diese künstliche Intelligenz. Dank dem kontrollierenden Gehirn leben alle Bürger in dieser Stadt friedlich zusammen und jeder einzelne ist glücklich, bekam Jasmin von Leonardo zu hören. Sie steht auf und läuft durch einen winzigen, schwarzen Gang, vorbei an Leonardos Schlafzimmer in ihr eigenes, kleines Zimmer. Ihr Raum hat ein zugemauertes Fenster und eine Wand ist leicht gerundet. Im Zimmer hängt ihre Hängematte, ihr Laufband liegt auf dem Boden, ein Plastikstuhl steht in der Ecke und über ihrer Plastik-Kommode hat früher einmal ein Bild oder ein Spiegel gehangen. Dass ihre Zimmereinrichtung nicht mehr vollständig ist, verrät der helle Abdruck an der Wand über der Kommode. Gerne hätte sich Jasmin in einem Spiegel angeschaut. Leider fehlen die Spiegel in der ganzen Wohnung und die junge Frau kann nur ahnen, wie sie aussieht. Bin ich hübsch? fragt sie sich nun. Sie ist sich nicht sicher. Sie traf in dieser Welt kaum andere Menschen und weiss nur von den virtuellen Welten, wie ein hübscher Mensch auszusehen hat.

Hier in der Realität in dieser Wohnung lebt Jasmin mit Leonardo und mit einem jungen Mitbewohner namens Laszlo zusammen. Dieses 11-jährige Kind ist anders als sie, denn es spricht nicht die gleiche Sprache und verhält sich eigenartig. Der Junge Laszlo geht seiner Mitbewohnerin meist aus dem Weg. Jasmin belauscht ab und zu dieses einzigartige Wesen und hört ihn mit ihrem Vater sprechen, der anscheinend diese fremde Sprache beherrscht. Die beiden machen beim Sprechen Grunzgeräusche, Piepen und Zirpen einander an. Da Jasmin sich nicht am Gespräch beteiligen kann, weil sie diese bizarre Sprache nicht versteht, fühlt sie sich von den beiden ausgeschlossen. Die Situation erscheint der jungen Frau erniedrigend, da Leonardo nach dem Gespräch mit Laszlo nie den Übersetzer für sie spielen möchte. Ihr Vater verhält sich sehr geheimnisvoll, wenn es um dieses besondere Kind geht.

Morgens, nachdem die junge Frau ihren Wissensdrang teilweise mit dem Besuch einer virtuellen Lernprogramm-Welt befriedigte, und abends, trainiert Jasmin ihren Körper. Bewegung ist die beste Prävention gegen Vergesslichkeit, meint Leonardo. Er befahl ihr, jeden Tag, während mindestens 45 Minuten, ihre Muskeln zu stärken. Eigenartigerweise trainiert Ihr Papa seinen Körper niemals. Er scheint auch kaum Schlaf zu benötigen und behält trotzdem immer das gleiche Energieniveau bei. Jasmin hat Leonardo nie schlafend in seinem Bett liegen sehen, denn dieser verbringt die meiste Zeit, so auch die Nächte auf der obersten Terrasse bei dem steuernden Computer-Gehirn. Weshalb ihr Vater nachts nicht in seinem Bett schläft, bleibt für Jasmin ein Geheimnis.

Laszlo, ihr andersartiger Mitbewohner, trainiert seinen Körper auch ab und zu. Er führt seine Übungen jedoch sehr ungenau und ungeschickt aus und hat große Mühe, seine Sport Minuten konsequent durchzuziehen. Jasmin bewegt gerne ihren Körper. Sie steigt auf das flache, kreisrunde Laufband in ihrem Zimmer. Sie rennt bedächtig nach vorne, hüpft zur Seite und bewegt sich rückwärts, ohne das Laufband zu verlassen. Auf diesem kreisrunden Band kann man sich frei in alle Himmelsrichtungen bewegen, ohne herunterzufallen. Die junge Frau steigt vom Laufband ab und trainiert als nächstes ihre Muskeln auf dem Boden sitzend oder liegend weiter. Armbeugen, Dehnungen und Übungen, die ihre Rücken- und Bauchmuskulatur stärken, gehören ebenfalls zu ihrem Programm. Sie beendet ihre Sport-Minuten mit 5 Klimmzügen an einer Stange an der Wand. Jasmin ist durchaus sportlich, wenn auch ihre Bewegungen manchmal träge und eingerostet wirken. Auch wenn Jasmin einen Funkverbindungs-Stick der virtuellen Sport-Welt besitzt, den sie jederzeit in die Steckdose über ihrem Ohr einstecken darf, bevorzugt sie in der Realität zu trainieren. Sie will ihre realen Muskeln unter ihrer Haut sich anspannen und erschlaffen sehen. In der virtuellen Sportwelt erscheint mir mein Körper zu perfekt. Dort in dieser künstlichen Welt wird mein Ebenbild übertrieben muskulös, zu groß und unnatürlich verbessert dargestellt, denkt sie. Die junge Frau mag diese künstliche, dreidimensionale Sport-Parallelwelt nicht.

Nach dem virtuellen Besuch in der Lernprogramm-Welt und dem Trainieren ihres Körpers in ihrem Zimmer kann sie bis zum Abendessen tun, was sie Lust hat. Da sie ihre Wohnung nicht alleine verlassen darf, nutzt sie diese Zeit, um virtuelle Freizeit-Welten zu betreten und in ihnen zu verweilen. Eine andere sinnvolle Beschäftigung findet sie nicht, denn sie ist in dieser Wohnung eingeschlossen. Nur zusammen mit ihrem Vaters darf Jasmin durch die Wohnungstür treten. Sie möchte jedoch ganz alleine diese reale Stadt erforschen. Ein Ausflug im Alleingang ist zu gefährlich. Du kennst diese Stadt nicht! Du könntest dich verirren und Hindernissen begegnen, die für dich tödlich sein könnten. Du bleibst zu Hause, erklärte Leonardo vor kurzem streng seiner Tochter, als sie sich beklagte, dass sie zu wenige Freiheiten habe.

Damit sie sich heute nicht einsam und eingesperrt vorkommt, verbringt Jasmin die langen, stillen Stunden zwischen den zwei Essenszeiten in virtuellen Freizeit-Welten. In Form von kleinen Sticks liegen diese Freizeitbeschäftigungen auf ihrer Plastik-Kommode bereit. Welche virtuelle Parallelwelt soll ich zuerst besuchen? fragt sich die junge Frau. In allen dreidimensionalen virtuellen Welten ist sie, im Vergleich zu ihrer Realität, selten alleine und kaum eingeengt. Jede dieser künstlichen Welten ist riesig und tausende von virtuellen, fliegenden, schwimmenden, laufenden oder grabenden Lebewesen bevölkern jedes einzelne dieser Programme. Diese künstlichen Freizeit-Parallelwelten sind hell, bunt und alle virtuelle Lebewesen in ihnen scheinen glücklich zu sein. Jasmin ist sich bewusst, dass sie diese künstlichen Welten nur mit ihren Gedanken betritt. Ihr Körper bleibt meist tatenlos zu Hause.

Sie liegt auf ihrer Hängematte und hat sich für eine künstliche, virtuelle Freizeitwelt entschieden. Sie tritt in die Parallelwelt ein, indem sie den entsprechenden Funkstick in die Steckdose über ihrem linken Ohr einsteckt. All ihre Handlungen und alles was Jasmin wahrnimmt in den Programm-Welten spielt sich zu hundert Prozent in ihrem Kopf ab. In diesen dreidimensionalen, riesigen Programmen ist in den Gedanken für die Eingetretenen beinahe alles möglich. Die virtuellen Programme spielen den Besuchern vor, sie würden sich auf einem echten Erdboden befinden, sie würden ihre Umgebung sehen, riechen, hören und fühlen. Die meisten physikalischen Gesetze der Realität treffen auch auf die künstlich hergestellten Freizeit-Welten zu.

In der eingetretenen virtuellen Farm-Welt leben sprechende, virtuelle Tiere und farbige Pflanzen wachsen auf einem echten Erdboden. Die Sonne scheint mit einer angenehmen Wärme und Jasmins Haut prickelt. Die junge Frau streichelt Kühe auf einer weiten, bunten Blumenwiese. Eine der Kühe hebt den Kopf und sagt eintönig: Hole mir bitte Wasser! Wenn ich mehr trinke, kann ich mehr Milch produzieren. Jasmin nimmt einen sauberen, glänzenden Kessel mit und läuft auf einem gut gepflegten Fussweg hinunter an einen nahe gelegenen, rauschenden Fluss. Auf einem hölzernen Steg bückt sie sich und füllt den Kessel bis zuoberst mit dem angenehm kühlen, durchsichtigen und frischem Flusswasser. Mit dem gefüllten Kessel kehrt Jasmin zur sprechenden Kuh zurück. Diese bedankt sich freundlich und trinkt das kühle Nass ohne einen Tropfen zu verschwenden mit drei Schlucken aus. Schon nach den ersten zehn vergangenen Minuten in dieser virtuellen Farm-Welt langweilt sich die junge Frau. Sprechende Kühe, laute Hühner und anspruchslose Schweine zu pflegen und zu versorgen, ist keine spannende Herausforderung nach ihrem Geschmack. In einem virtuellen Lernprogramm wurde Jasmin beigebracht, dass alle Farmtiere stinkenden Mist produzieren, den die Farmer in mühseliger Arbeit wegräumen müssen. Doch diese sprechenden Tiere neben ihr in der Farmwelt stinken nie, produzieren keine Misthaufen, sind ausnahmslos nett, geduldig und zutiefst hilfsbereit. Diese virtuellen Wesen mit ihren einfältigen, keineswegs interessanten Charakteren und ihrem perfekten, kaum glaubwürdigen Erscheinungsbild fordern Jasmin nicht heraus. Die Gespräche mit den Farmtieren verlaufen bei jedem neuen, virtuellen Welten-Besuch exakt gleich und alle Wesen in dieser künstlichen Welt, vom Marienkäfer bis zum Grizzlybär, widersprechen Jasmin nie.

An der Stelle wechselt die junge Frau in eine andere bunte, laute und lebendige Parallelwelt. Sie betritt die Meer-Welt. In ihren Gedanken ist sie einige Meter unter Wasser. Die von unten betrachtete Meeresoberfläche flimmert weiss im hellen Sonnenlicht. Jasmin besitzt hier im Meerwasser Kiemen und schwimmt, als würde sie über ein buntes Korallenriff fliegen. Schwärme von rosaroten, kleinen Fischen trifft sie auf ihrer Erkundungstour. Jeder einzelne Fisch begrüßt die junge Frau freundlich und ihre hellen Stimmen dröhnen unangenehm laut in Jasmins Ohren. Bunte Korallen und grelle Anemonen bedecken den Meeresgrund. Ein laut sprechender, freundlicher Hai fordert Jasmin auf, sich an seinem Rücken festzuhalten und zusammen mit ihm weitere, unbekannte Meer-Orte zu besuchen. Kurz hält sich Jasmin an dem warmen Hai-Rücken fest. Zusammen mit dem Hai und umringt von kleinen, unruhigen Crevetten trifft sie eine große, grüne, freundliche Meeresschildkröte. Mit dieser wechselt sie einige nette Worte. Doch sie vermisst in dieser Welt die Gefahr, die natürliche Brutalität, wenn ein Raubtier seine Beute jagt, tötet und voller Stolz zerstückelt und frisst. In dieser Welt gibt es keine Gewalt, niemand stirbt und alle virtuellen Lebewesen hier im Meer sind ausnahmslos nett und freundlich zueinander. Auch in dieser Programm-Welt verweilt Jasmin nicht lange. Sie fühlt sich unter diesen lauten, sprechenden Meerestieren fehl am Platz und missverstanden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in der realen Vergangenheit diese Lebewesen tatsächlich sehr friedlich und ohne Angst zusammenlebten, denkt sie.

In der nächsten eingetretenen, ruhigen Programm-Welt, in der Bauwelt, steht Jasmin ruhelos auf einer perfekt geschnittenen, grünen und geraden Grasfläche. Sie gräbt in unnatürlich schneller Geschwindigkeit mit einer hergezauberten Schaufel ein Loch in den Erdboden und baut mühelos eine exakt gerade Backsteinmauer mit Mörtel auf. Die Materialien für die Mauer stellt das virtuelle Freizeitprogramm ihr nach Wunsch zur Verfügung. Sie schwebt in der Luft und kann in Sekundenschnelle jeden beliebigen Ort in der Bauwelt fliegend aufsuchen. In diesem Programm verbrachte sie bisher viele Stunden und baute sich verschiedene Landschaften und Bauwerke nach ihren Vorstellungen auf. Sie kam sich bis heute in dieser beinahe grenzenlosen Freizeit-Welt vor wie eine Göttin, denn alles erschien ihr hier möglich zu sein. Viele bunte Blumen pflanzte Jasmin in die grünen Rasenflächen und geschnittene Fruchtbäume ließ sie an warmen Steinmauern wachsen. Himmelhohe Berge mit Schnee auf ihren Spitzen und tiefe, dunkle Täler erstellte sie in stundenlanger Arbeit. Sie baute riesige Burgen und wunderschöne Villen mit vielen, kleinen Details. Auch wenn ihre gebaute Welt hübsch anzuschauen ist, so erscheint sie ihr in diesem Augenblick leblos. Heute schaut sie ihr Werk mit Skepsis an, denn auch die Bauwelt kann ihr aktuelles Bedürfnis nach menschlicher, realer Nähe nicht befriedigen. Alleine stille Pflanzen, lautlose Regenwürmer und bunte Pilze leben hier und diese sind keineswegs interessante, herausfordernde Gesprächspartner. Sie spürt in diesen einfachen, kindlichen, dreidimensionalen Parallelwelten nicht, dass sie lebt. Jasmin ist ruhelos und unausgeglichen. Ihr fehlt etwas Wichtiges in ihrem Leben. Sowohl in ihrer Realität, wie auch in diesen virtuellen, künstlichen, freundlichen und hellen Welten fühlt sich Jasmin nicht zu Hause und nicht geborgen.
 



 
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