Märchen-Welt 2

Nächsten Morgen in einem virtuellen Lernprogramm mit dem Titel „Freizeitbeschäftigungen unserer Stadt“ werden Jasmin die vergangenen Freizeit-Programm-Welten der Halle NB4 vorgestellt. Dieses heutige, virtuelle Lernprogramm ist anders als die bisher besuchten, denn keine künstliche Computerstimme begleitet die Schülerin und diese wird am Ende ihres Besuchs nicht über das Gelernte abgefragt. Ein weiterer Unterschied zu den bisher besuchten virtuellen Lernprogrammen ist, dass die heutige Lernlektion ein realer Bericht dieser Stadt ist. Das gezeigte dreidimensionale Bildmaterial wurde vor ein paar Jahren, viele Stockwerke unter Jasmins Wohnung, aufgenommen. Eine blonde, stark geschminkte Reporterin, die in der realen Vergangenheit gelebt hatte und von dieser Jasmin heute eine dreidimensionale Aufnahme bewundert, berichtet von einer Zeit, in der noch kaum ein Bürger dieser Stadt mit Hilfe eines im Kopf implantierten Empfängers mit dem Computer-Gehirn auf dem Dach des Wolkenkratzers verbunden war. Die junge Frau erfährt in diesem virtuellen, dreidimensionalen Bericht, dass sich früher in der realen Halle NB4, 111 Stockwerke unter ihr, acht virtuelle Freizeit-Welten befanden.

Jasmin, die mit ihren Gedanken in diese vergangene Welt eintrat, steht in dieser virtuellen Reportagen-Welt inmitten einer großen unruhigen Menschenmasse, die gespannt darauf wartet, dass sich das Tor zur Halle NB4 öffnet. Die zahlreichen, flüsternden Menschen, mit ihren bunten Kleidern, werden von hellem Sonnenlicht aus einem riesigen Fenster beschienen. Dieses vergangene dreidimensionale Bildmaterial kann Jasmin nicht beeinflussen. Es nützt nichts, wenn sie die Menschen um sie herum anspricht, denn niemand beachtet sie. Sie bleibt während des ganzen dreidimensionalen, virtuellen Besuchs in diesem vergangenen Bericht in der Reportagen-Parallelwelt eine teilnahmslose Zuschauerin. Als wäre sie ein unsichtbares Gespenst, lauscht Jasmin den Worten der blonden Reporterin, die nun inmitten der Menschenmassen nervös mit ihren Händen fuchtelt. Es wird Jasmin bewusst, dass diese zahlreichen Menschen vor langer Zeit tatsächlich in dieser Stadt gelebt haben. Damals war die Stadt noch belebt und nicht beinahe menschenleer wie heute. Diese Stadtbevölkerung in der Vergangenheit dachte noch selbständig und traf Entscheidungen, ohne die Hilfe einer künstlichen Existenz zu gebrauchen. Jasmin erfährt, dass Egoismus und Gewalttaten damals noch nicht vollkommen aus der Stadt ausgemerzt worden waren, so wie es heute mit Hilfe des Computer-Gehirns auf dem Dach des Wolkenkratzers der Fall ist. Eigensinn, Unberechenbarkeiten und Ungerechtigkeiten waren an der Tagesordnung und die Menschen dachten zuerst an sich selbst, bevor sie dem Gemeinwohl dienten. Die junge Frau ist sehr achtsam in dieser virtuellen Parallelwelt. Ein vergleichbares, reales Ereignis aus der realen Vergangenheit in der Nähe ihres Wohnortes hat sie bisher noch nie gesehen. Es wird ihr in dieser dreidimensionalen Reportage berichtet, dass es damals, um in diese veralteten Programm-Welten einzutreten, nicht genügte, einen Funkstick in den Kopf eines Besuchers zu stecken. Diese virtuellen Parallelwelten wurden programmiert, bevor viele Bürger dieser Stadt eine Steckdose über dem linken Ohr eingesetzt bekamen. Ein schnelles, einfaches Eintreten mit einem Funkempfänger war bei den Parallelwelten der Halle NB4 unmöglich. Man betrat die Freizeit-Welten der Halle NB4 alleine, indem man durch eine echte Tür schritt.

Die dreidimensionale, auffallende Reportage in Jasmins virtuellem Lernprogramm erzählt, dass die Menschen dieser Zeit die virtuellen Programm-Freizeit-Welten der Halle NB4 liebten und diese oft gegen Bezahlung besuchten. Jasmin steht im virtuellen Lernprogramm in ihren Gedanken immer noch vor dem großen Tor der Halle NB4. Nun sind die 2 Türflügel weit aufgeschlagen und die bunte Menschenmasse hat sich verteilt. Die dreidimensional aufgenommene blonde Reporterin steht vor dem linken Türflügel und interviewt die lächelnden austretenden Menschen, die bereits eine virtuelle Welt der Halle NB4 besucht haben. Die glücklichen Menschen in der veralteten Reportage berichten begeistert, dass sie in diesen Freizeit-Parallelwelten spannende und bereichernde Abenteuer erlebt haben. Sie erzählen euphorisch, dass sie als Parallelwelten-Besucher lustige, traurige und teilweise schmerzhafte Erfahrungen sammeln durften. Interessante, schwierige und scheinbar unlösbare Prüfungen hatte sie zu bestehen. Jeder Besucher musste riskante Heldentaten vollbringen und war trotzdem niemals in Lebensgefahr. Schließlich spielten sich all diese Abenteuer ausschließlich in den Gedanken der Welten-Besucher ab und niemals verließ ihr Körper die Sicherheit dieser Stadt. Es stand fest: Diese dreidimensionalen Parallelwelten der Halle NB4 fand damals in der Vergangenheit niemand langweilig und alle großartig. Alle schwärmende Besucher fühlten sich damals in den virtuellen Freizeitprogrammen der Halle NB4 sehr wohl.

Für die damaligen Stadtbewohner war jede dieser virtuellen Welten ein prachtvolles, liebevoll erschaffenes, extrem großes Kunstwerk. Die Haupt-Programmiererin dieser virtuellen Welten wurde hoch gepriesen. Als in Jasmins Lernprogramm jede der 8 virtuellen Welten mit einem Werbetrailer vorgestellt wird, findet Jasmin ihre veraltete, virtuelle Lieblings-Welt der Halle NB4. Ihr gefällt die kindliche, bunte, virtuelle Märchen-Welt am besten. Die Umwelt im Programm „Märchen-Welt“ scheint wunderschön und sehr spannend zu sein. In diesem dreidimensionalen Freizeit-Programm „Märchen-Welt“, das alleine mit seinen Gedanken besucht werden konnte, lebten goldene Prinzessinnen, glänzende Ritter, bizarre Gnome, sowie auch gefährliche Drachen. Es wurde erzählt, dass eintretende Besucher menschenfressende Pflanzen, dunkle Räuberhöhlen, diebische, riesige Greifvögel und eine Unzahl weitere interessante Wesen bestaunen und erleben durften. Bestimmt gab es in dieser virtuellen Welt noch vieles mehr, was Jasmin nicht im Werbetrailer der Märchen-Welt gezeigt wurde. Nach dem Gesehenen wünscht sich Jasmin, sie hätte einen Stick „Märchen-Welt", den sie in die Steckdose über ihrem linken Ohr stecken könnte, und mit dessen Hilfe sie diese zauberhafte, virtuelle, veraltete Märchen-Welt der Halle NB4 besuchen könnte. Es wird Jasmin bewusst, dass sie leider, wenn sie diese veraltete Märchen-Welt tatsächlich besuchen möchte, 111 Stockwerke nach unten steigen muss, denn sie muss auf jeden Fall durch eine reale Tür in die Märchen-Welt eintreten. Existiert die Halle NB4 mit der Märchen-Welt heutzutage noch? fragt sich Jasmin ein wenig besorgt, nachdem sie ihr interessantes Lernprogramm von heute Morgen fertig angeschaut hat.

Jasmin verlässt von den vielen Eindrücken verwirrt, aber auch glücklich, ihr virtuelles Lernprogramm mit der dreidimensionalen Reportage der Freizeit-Welten der Halle NB4, in dem sie den Stick aus ihrer Steckdose über dem linken Ohr zieht. Nach den 45 Minuten Muskeltraining geht sie aus ihrem Zimmer und schleicht den Gang entlang zu ihrem Mitbewohner Laszlo. Er ist 11 Jahre alt, hat hellbraune Haare und blaue Augen. Seine Haut ist ein wenig gerötet Jasmin beobachtet Laszlo heimlich, wie er in der Mitte seines schlicht eingerichteten Schlafzimmers steht und wild mit den Händen und Füssen herum fuchtelt. Er bewegt sich auf seinem runden, erhöhten Laufband und schaut in die Leere. Ab und zu entflieht ihm ein Schrei und ein Funkverbindungs-Stick steckt in seinem Kopf. Jasmins Mitbewohner spielt ein virtuelles Kampfspiel und ein Kampf-Stick steckt in seiner Steckdose über seinem linken Ohr. Jasmin versteckt sich nicht mehr. Sie weiß, dass Laszlo sie nicht bemerken wird. Sein Gehirn ist momentan in einer anderen, dreidimensionalen, virtuellen Parallelwelt. Jasmin versucht, ihn in die Realität zurückzuholen, indem sie Laszlo wiederholt auf die rechte Schulter klopft. Sie sucht die Nähe zu ihrem Mitbewohner, da dieser ihr nie Beachtung schenkt. Laszlo zuckt bei jeder ihrer Berührungen zusammen und fällt aus dem Rhythmus der Kampfbewegungen. Nach einer Minute zieht er den Stick aus seinem Kopf, erblickt Jasmin und schreit ihr ins Gesicht: Brriiiooi! Jasmin möchte ihm lachend nochmals auf die Schulter klopfen, als Laszlo ihre Hand packt und ihr einen harten Stoss verpasst. Dieser schmerzt fürchterlich. Offenbar sieht Laszlo seine Mitbewohnerin als seine Feindin an. Vermutlich behandelt er sie genauso schlecht, wie seine im Spiel gerade getöteten Monster. Erst als Laszlo komplett in seiner Realität angekommen ist, merkt Jasmin, dass er ein Gesicht voller Reue zeigt. Offenbar tut es ihm doch leid, dass er Jasmin Schmerzen zugefügt hatte. Die geschockte Jasmin reagiert trotzdem voller Wut, indem sie ihrem Gegenüber eine Ohrfeige verpassen möchte. Schließlich ist Laszlo noch ein Kind und soll ihr gegenüber gefälligst Respekt zeigen. Unverhofft bleibt auf halbem Weg Jasmins schlagfähige Hand in der Luft hängen und die junge Frau kann sich nicht mehr bewegen. Laszlo äußert piepsende Laute und fuchtelt wild mit seinen Händen umher. Da Jasmin Laszlos Sprache nicht versteht, weiss sie nicht, was er ihr mitteilen möchte. Plötzlich geschieht etwas merkwürdiges. Ihr Körper gehorcht ihr nicht mehr. Sie sieht sich wie in einem Traum Richtung Tür laufen, ohne dass sie ihre Bewegungen kontrolliert. Sie fühlt sich, als wäre sie in Trance. Sie gewinnt die Kontrolle über ihre Bewegungen erst wieder im Gang und außer Sichtweite von Laszlo zurück. Was war nur geschehen? fragt sich die verzweifelte Jasmin,

Ein Piepton ertönt. Es ist Zeit fürs Abendessen. Jasmin Vater besteht darauf, dass sie und Laszlo zusammen essen. Er möchte die zwei immer gleichzeitig am Morgen und am Abend mit Essen versorgen. Leonardo sagt, er nehme die Mahlzeiten zu einem anderen Zeitpunkt ein, was Jasmin verwundert, denn sie hat ihren Vater noch niemals essen oder trinken gesehen. Die junge Frau beeilt sich und setzt sich an den runden Metalltisch in der Essnische hinter dem Wohnzimmer. Mit Verspätung trifft ihr junger Mitbewohner ein. Er setzt sich abwesend und flüstert beiläufig einige unverständliche Worte. Auf dem Tisch steht platzfüllend eine gummiartige, aus Kabeln und Rohren bestehende Maschine, die bis an die Decke reicht. Jeden Morgen befestigt ihr Vater einen Bakterienbrei-Kanister mit der nötigen Tagesration an ihr. Die Maschine blubbert laut und schaukelt leicht, als Jasmin ein Röhrchen aus einem Glas zieht und in ihren Mund nimmt. Die Maschine verarbeitet mit Hilfe von Trinkwasser den festen Rohzustand des Bakterienbreis in eine flüssige, leicht schluckbare, grünliche Masse. Die junge Frau steckt einen Funkstick in ihren Kopf und betritt mit ihren Gedanken die virtuelle, programmierte Ess-Welt. Diese Parallelwelt ist heller, farbiger und sauberer als die Realität. Dort duftet es herrlich nach vorzüglichem Essen.

In der virtuellen, dreidimensionalen Ess-Welt befindet sich vor ihr ein aufwändig gedeckter runder Holztisch. Auf ihm stehen perfekt aufgestellte, funkelnde Kristallgläser. Die Porzellanteller mit Goldrand und das Silberbesteck glänzen auf der feinen, beigen Tischdecke. Auf einer Anrichte an der Wand duftet appetitliches, dampfendes Essen. Ein Rindsbraten liegt aufgeschnitten in Pfeffersauce in einem weißen Topf. Perfekt präsentierte Delikatessen in Silberschalen verführen zum Naschen. Der Duft von Kartoffelstock und Broccoli steigt Jasmin in die Nase. Ein glitzernder Kronleuchter über dem runden Esstisch beleuchtet das prachtvolle, alte Herrenhaus-Zimmer, in dem umrahmte Landschaftsbilder an den tapezierten Wänden hängen. Die weiße Stuckdecke mit Rosenmuster vergrößert optisch den Raum. Der hellbraune Parkettboden glänzt und die gestreiften, schräg aufgehängten Vorhänge vor den hohen Sprossenfenstern verdecken teilweise die Sicht in den englischen Garten. Jasmin gefallen am besten die blauweiss bekleideten, stillen Dienstboten, die mit heißen Platten voller leckerem Essen hinter ihr warten, bis sie ihnen befiehlt, ihr zu servieren. Auf Wunsch schenken diese gekonnt Rotwein in die geschliffenen Gläser ein. Jasmin trägt ein goldenes Abendkleid mit Rüschen und ihre Haare sind raffiniert hochgesteckt. Auf ihrem weit ausgeschnittenen Décolleté glänzt eine wertvolle Halskette mit Smaragden. Diese Kette ist viel schöner und eleganter, wie ihr unschöner, grober Anhänger, den sie in ihrer Realität mit einer einfachen Kette um den Hals trägt. Laszlo sitzt in der virtuellen Ess-Welt in einem dunklen Anzug und mit einem Schlips um den Hals auf einem geblümten Polsterstuhl am Tisch. Eine weiße Serviette schützt seine Kleidung vor Flecken und er lächelt Jasmin zu. Wenn das Lächeln nur real wäre, wünscht sich Jasmin. Sie nimmt den Funkstick aus ihrem Kopf und verlässt die virtuelle Esswelt. Doch in ihrer Realität lächelt ihr Mitbewohner nicht. Er sitzt angespannt in staubigen Kleidern auf einem einfachen Metallhocker um die lärmige Maschine herum. Durch ein Röhrchen fließt langsam eine grau-grünliche Flüssigkeit in den Mund des Anwesenden. Die dickfüssige, geschmacklose Masse lässt Laszlo abwesend schlucken. Seine geöffneten Pupillen verraten, dass er sich in einer anderen Parallelwelt befindet. Jasmin wechselt alle fünf Sekunden zwischen der realen und der virtuellen Welt. Es macht ihr Spaß, die Unterschiede der zwei Welten aufzuzählen. Als sie in die reale Welt wechselt, schaut ihr Vater, der wie ein Wächter die blubbernde Maschine bewacht, sie lange erstaunt und mit großen Augen an. Er sagt streng: Hör auf damit. Bleib in der Ess-Welt bis du und Laszlo fertig gegessen haben. Das Welten-Wechseln ist für Jasmin vorbei. Sie muss ihrem Vater gehorchen.

Wie jeden Abend wäscht sich Jasmin im Baderaum neben Laszlo’s Zimmer. Im kleinen Raum hängt ein Kleiderhaken und ein heller Plastikvorhang über der Türöffnung schützt bedürftig vor unerwünschten Blicken. Es ist der einzige Raum, in dem kühle Wassertropfen erhältlich sind. Ihr WC wird nicht mit Wasser gespült, da die Fäkalien in reinem Zustand für die Bakterien Produktion verwendet werden. Die Wassertropfen fallen aus einem verrosteten Rohr auf einen Waschlappen, als Jasmin einen gierenden Hebel betätigt. Mit dem Lappen wischt sie den Staub von ihrem nackten Körper weg. Am wenigsten Aufmerksamkeit schenkt sie ihren Haaren. Die Locken sind verfilzt und der graue, klebende Schmutz lässt sich nur schwer mit dem feuchten Lappen entfernen. Jasmins bemerkt erstaunt, dass sie ein paar weisse Haare am Waschlappen hat. Das ist bestimmt der Staub, der meine jungen Haare weiss werden lässt, denkt sie und reinigt sich weiter.

Am nächsten Morgen, nachdem sie aus ihrer Hängematte steigt, entdeckt die junge Frau etwas, das ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Ein altmodischer, verstaubter Drohn fliegt ratternd von der Terrasse ins Wohnzimmer und von dort in Jasmins Zimmer. Er hält in einer seiner rostigen Klammer etwas Buntes und legt diese Kleinigkeit auf Jasmins Plastik Kommode ab. Danach dreht der Drohn, fliegt zurück auf die Terrasse und verschwindet in der Stadt. Jasmin steigt aus ihrer Hängematte, geht zur Kommode und nimmt das dort liegende, auffällig präsentierte Briefkuvert in ihre Hände. In 2 Tagen öffnen, steht in groß geschriebenen Buchstaben aufgedruckt. Jasmin möchte nicht 2 Tage warten, bis sie dieses Kuvert öffnen darf. Sie hat keine Geduld und reißt das bunte Papier heute schon auseinander. Im Couvert befindet sich eine wunderbar farbige Karte mit einer bewegten, träumerisch schönen Naturszene. Das Bild zeigt einen hell beschienen, blauen Bergsee, umrundet von dunklen, hohen, vom Wind fein gebogenen Tannenbäumen. Auf der schwankenden Oberfläche des Sees spiegeln sich schneebedeckte, steile Bergspitzen. Das Spiegelbild wird vom Wasser fein hin und her geschaukelt. Jasmin findet dieses bewegte Bild wunderschön und als sie es länger betrachtet erscheint unerwartet ein leuchtender Schriftzug darüber:

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag

Einladung in die Märchen-Welt der Halle NB4

Die Karte wurde nicht unterschrieben und Jasmin kann nicht erraten, wer ihr dieses Geschenk auf die Kommode gelegt hat. Sie zerbricht sich darüber auch nicht den Kopf, denn sie ist voll und ganz begeistert von ihrer Einladung. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das man mir machen konnte, denkt sie und bedauert, dass sie 2 Tage warten muss, bis sie Geburtstag hat. Sie kann sich kaum an einen ihrer vergangenen Geburtstage erinnern. Bruchstücke eines 14. Geburtstag sind noch in ihrem Gedächtnis verhaftet. Dieser 14. Geburtstag war ohne große Geschenke wunderbar, denn sie aß damals ein Stück eines realen, süßen Geburtstagskuchen. Ihr 15. Geburtstag war hell und voller Sonnenlicht. Vage erinnert sich Jasmin an bunte Farben, viele gesprächige Bekannte und bewaffnete Freunde. Alle lächelten sie an. Es kommt Jasmin vor, als wären Jahrzehnte seit diesem wunderbaren Tag vergangen und doch ist seither noch kein Jahr verstrichen. Nun lebt sie mit ihrem Vater und Laszlo in dieser düsteren Wohnung oben im Wolkenkratzer und jeder Tag gleicht dem anderen. Als ihr 15. Lebensjahr begann, gab es keine besonders herausragende Erlebnisse mehr. Allerdings hat Jasmin auch keine vollständige Erinnerung an das bald verstrichene Jahr. Ihr Gedächtnis ist unvollständig und verzerrt.

Vom Besuch der virtuellen Märchen-Programm-Welt in der Halle NB4 verspricht sich Jasmin viel, denn sie möchte seit einem Jahr aus ihrem langweiligen, eintönigen Alltag ausbrechen. Sie freut sich bereits jetzt ganz fest auf diesen Besuch. Da ich eine Einladung in meinen Händen halte und ich bald Geburtstag habe, wird mein Vater mir einen Ausflug in die veralteten Freizeit-Programm-Welten der Halle NB4 erlauben, ist die junge Frau überzeugt. Sie verräumt die Karte und das zerrissene Couvert feierlich und fein säuberlich in die oberste Schublade ihrer Plastik-Kommode.

Jasmin schlendert ziellos und träumerisch in der kleinen Wohnung umher. Vor Laszlos Zimmer bleibt sie stehen, denn sie erblickt hinter der Metallgittertür, auf der Laszlo teilweise undurchsichtige Plastikstücke geklebt hat, helles, grelles Licht. Jasmin spioniert durch den kleinen Türspalt und durch das Metallgitter der Tür ihren andersartigen Mitbewohner aus. Dieser hat einen Hologramm-Datenträger in die Steckdose der Metallwand eingesteckt. Ein dreidimensionales Stadtmodell inklusive einer schützenden Kuppel darüber füllt die Hälfte des Raumes aus. Das ist ein Modell meiner realen Welt, der Stadt, in der ich lebe, erkennt die aufgeregte junge Frau. Dieses Hologramm-Modell ist nicht starr und stumm. Wie in einer Miniaturwelt bewegen Luftzüge die zerrissenen Plastikvorhänge vor den wenigen Fenstern der Modell-Stadt, Maschinen rattern und kleine neuartige Modell-Drohnen fliegen durch die Stadt. Es flimmert, wenn Laszlo durch das Hologramm-Modell läuft. Die versteckte Jasmin prägt sich jedes Detail des Stadtmodells ein, denn ein komplettes Abbild der Stadt, in der sie wohnt, hat sie bisher noch nie erblickt. Das Hologramm Modell zeigt diese besondere Stadt, die ausschließlich aus drei riesigen Wolkenkratzern mit je 333 Stockwerken besteht. Die riesigen Hologramm-Modell-Gebäude bilden zusammen einen zerschnittenen Kegel mit einem großen Hohlraum zwischen ihnen. Alle drei Erdgeschoss-Grundrisse der Wolkenkratzer sehen gleich aus. Wenn man einen Kuchen in sechs gleich grosse Teile zerschneidet, drei Kuchenstücke davon aufisst, so dass kein übriggebliebenes Stück seinen Nachbarn berührt und bei den verbleibenden drei Stücken großzügig den Spitz abbeisst, erhält man die drei Erdgeschoss-Grundrisse dieser Hologramm-Modell-Wolkenkratzer. Jedes Stockwerk dieser 3 Modell-Gebäude hat den gleichen Grundriss in einer anderen Größe. Je höher sich ein Stockwerk befindet, desto kleiner ist sein Grundriss und desto weiter verschiebt sich das Stockwerk Richtung Zentrum. Um nicht zu kippen, berühren sich die drei obersten Hologramm-Modell-Stockwerke der Wolkenkratzer und stützen sich somit gegenseitig ab. Gegen aussen entstehen drei mal 332 sichelförmige Terrassen in der Breite einer Straße und in der Nähe des Zentrums sind die Stockwerke überhängend. Unter diesen überhängenden Räumen der drei Hochhäuser liegt ein runder, stiller Hologramm Modell-See. Der echte See in der Realität ist das Wasserreservoir der Stadt, glaubt Jasmin zu verstehen. Viele Mini-Hologramm-Seilbahnen transportieren Waren von einem Hochhaus ins nächste. Die winzigen Gondeln überqueren, um sich nicht zu treffen, in verschiedenen Höhen den runden Hologramm-See. Drei regelmäßig verteilte Belüftungsventilatoren am unteren Kuppelrand lassen ab und zu wenig frische Luft in die Stadt fließen. Ganz oben in der Mitte der Modell-Kuppel befindet sich ein großes Loch, um die Abluft herauszulassen. Zuoberst deckt eine runde Plattform die drei miteinander verbundenen Hologramm-Wolkenkratzer. Die unbedeckte Plattform ist das letzte, oberste Stockwerk aller drei Hologramm-Modell-Hochhäuser. In der Mitte dieser Plattform liegt ein exakt runder Ring aus blinkenden Lämpchen, zahlreichen Kabeln und gelblichen Plastikteilchen. Das ist ein Modell des Computer-Gehirn auf dem Dach der Wolkenkratzer, das viele Bewohner dieser Stadt kontrolliert und steuert, hat Jasmin verstanden. Sie stand häufig auf der Terrasse ihrer Wohnung und studierte die oberen zwei sichtbaren Stockwerke von Luminaris. Doch bisher wusste sie nicht, dass diese Stadt aus drei riesigen Bauwerken besteht. Sie wirft einen Blick auf das Hologramm-Modell und versteht nun endlich den kompletten Aufbau der Stadt. Unerwartet steigt ein grell leuchtender Schriftzug über dem Hologramm-Stadtmodell in die Höhe. Jasmin list:

LUMINARIS

5864 Einwohner in Lebensgefahr

100% der Bevölkerung mit Hilfe eines Empfängers mit dem Computer-Gehirn verbunden

0% Straftaten

99.2% Produktivität durch menschliche Arbeitskräfte

KWh Stromverbrauch/Tag

98.1% Wiederverwertung der Rohstoffe

Die Schriftzüge steigen in die Höhe und verblassen langsam. Laszlo schlendert bedacht zur Kabel bedeckter Metallwand und zieht den Hologramm-Datenträger, der das Modell der Stadt erscheinen ließ, aus der Steckdose. Das Hologramm-Stadtmodell von Luminaris verschwindet auf der Stelle. Laszlo wirft einen kurzen Blick auf die Metallgitter-Tür seines Zimmers. Jasmin möchte nicht bei ihrer Spionage entdeckt werden und schleicht leise ein paar Schritte rückwärts davon. Ihr kleiner Mitbewohner hat sie anscheinend nicht bemerkt, denn er lächelt und legt sich glücklich in seine Hängematte. Jasmin ist vom Gesehenen überwältigt. Nun weiss sie, wie ihr realer Wohnort, die Stadt Luminaris, aussieht.

Als die junge Frau in Gedanken versunken das dunkle Wohnzimmer betritt, entdeckt sie Leonardo, der im hintersten Ecken auf dem grauen Sofa sitzt. Er starrt abwesend in die Leere. Dem lautlosen Zimmer füllenden Hologramm eines belebten Urwaldes mit farbigen Papageien, giftigen Schlangen und riesigen Schlingpflanzen und Lianen schenkt Leonardo keine Beachtung. Jasmin nutzt die Gelegenheit, durchquert das flimmernde, lautlose Hologramm, setzt sich neben ihren Vater auf das schmutzige Sofa und stellt ihm die Frage, die seit gestern ihre Gedanken nicht loslässt: Weshalb konnte ich gestern meinem unartigen kleinen Mitbewohner keine Ohrfeige schlagen. Er hat mich mit seinem Stoss verletzt und hätte eine Strafe verdient. Leonardo erwacht aus seiner Starre, dreht langsam den Kopf zu seiner Tochter und meint ernst: Du bist mit Hilfe eines in deinen Kopf implantierten Empfängers mit dem künstlichen Gehirn auf dem Dach verbunden. Du kannst niemanden schlagen. Das Computer Gehirn erlaubt dir keine körperliche Gewalt. Du kannst nicht lügen, niemanden absichtlich verletzen und nichts bewusst zerstören. Jeden Befehl von mir musst du befolgen. Du bist mir wichtig und ich alleine garantiere dir deinen Schutz. Entsetzt schaut Jasmin ihren Vater an. Ich muss dir gehorchen? schreit sie erschrocken. Selbstsicher antwortet ihr Papa: Natürlich, du bist eine wichtige Persönlichkeit dieser Stadt. Dir darf nichts zustoßen, denn du wirst noch gebraucht. Solange du mir gehorchen musst, werde ich dich beschützen können. Empört ruft Jasmin: Mir hast du einen Empfänger mit Verbindung zum Computer-Gehirn implantiert und du hast keinen Empfänger im Kopf und darfst mich kontrollieren? Das ist ungerecht! Leonardo steht vom Sofa auf und läuft Richtung Treppe. Jasmin hat ihren Vater mit ihrem Vorwurf verärgert und diesen nahe an einen seiner seltenen Wutausbrüche befördert. Leonardo ruft streng und empört zu seiner Tochter und rechtfertigt sich keineswegs: Du stiehlst mir meine wertvolle Zeit. Jeden Tag beantworte ich dir deine Fragen und dein Wissensdurst ist unerschöpflich. Für heute habe ich genug! Bis morgen sprichst du nicht mehr mit mir. Lass mich in Ruhe. Jasmin öffnet den Mund und möchte sich über diesen Befehl beklagen. Die Worte liegen ihr auf der Zunge, doch kein Laut verlässt ihren Mund. Das künstliche Gehirn und der implantierte Empfänger kontrollieren sie. Auf der Metalltreppe bleibt Jasmins Vater kurz stehen. Er dreht sich zu seiner wütenden, stummen Tochter um und meint versöhnend: Verbunden mit dem Computer-Gehirn bist du immer glücklich. Mit gleichmäßigen Schritten steigt er nach diesen Worten die Treppe hoch zu seinem Arbeitsplatz, dem Computer-Gehirn. Jasmin darf ihm nicht folgen, denn ihr Vater hat ihr befohlen, ihn in Ruhe zu lassen. Weshalb meint mein Papa zu wissen, wie ich mich fühle? Ich bin nicht glücklich, denkt die junge Frau deprimiert. Es ist nicht fair, dass mir ein Empfänger mit Verbindung zum Computer-Gehirn implantiert wurde. Viele Fragen und Anschuldigungen rasen in Jasmins Kopf herum. Das Gehörte brachte sie vollkommen aus der Fassung. Nie hätte sie gedacht, dass sie mit der Hilfe eines Computer-Gehirns von ihrem geliebten Vater kontrolliert, manipuliert und gesteuert wird.

Ein reales Abenteuer

Jasmin steht am späten Morgen mit Rock und Sandalen auf der großen Terrasse ihrer Wohnung. Auch jetzt belastet sie die unschöne Kette mit dem groben Anhänger, denn das Schmuckstück zieht an ihrem Hals. Jasmin wartet auf einen dieser selten hervortretenden Sonnenstrahlen und schaut sich um. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit nach oben und beobachtet durch die staubige Luft die eigenartige, flimmernde Wolke aus Lichtpartikeln, die stets unter der höchsten Rundung der Kuppel schwebt. Kleine fliegende Funken, die aussehen wie winzig kleine Glühwürmchen, schwirren tagtäglich dort oben umher. Leider erklärte Jasmins Vater bisher nie, um was es sich dabei handelt. Heute weiss Jasmin, dass diese flimmernde, fein leuchtende Wolke ihr die Sicht auf ein großes Loch ganz zuoberst im Kuppeldach verdeckt. Gestern beim Betrachten des Modells von Luminaris fiel ihr dieses Loch auf.

Ein lautes Rotorengeschäusch ertönt. Schlagartig wird die Luft um Jasmin stickig und dunkler. Der Staub-Nebel zieht jetzt mit einem feinen, kaum spürbaren Lüftchen an Jasmin vorbei nach oben. Dieser dunkle, allgegenwärtige Staub umhüllt sie nun vollkommen. Jasmin hält hastig ein dünnes Stück Stoff vor ihre Nase, das sie aus ihrem Sack zog. Immer hat sie diesen Fetzen bei sich, um ihren Atemweg vor den eindringenden, gesundheitsschädlichen Staubkörner zu schützen. Die nächste Terrasse, die wie eine Treppenstufe für Riesen unter ihr liegt, erkennt sie schlagartig nur noch vage. Jasmin sieht keine 10 Meter weit. Glücklicherweise weiß sie, weshalb sich ihre reale Umgebung ändert und sie ist nicht verunsichert! Schon oft beobachtete sie dieses Phänomen. Es handelt sich bei diesem staubigen Ereignis, das ihr in unregelmäßigen Abständen auffällt, um die Luftströme in dieser Stadt, die von den Belüftungsventilatoren verursacht werden. Dank dem virtuellen Stadtmodell, das sie gestern beim Spionieren beobachtete, versteht sie nun vollständig, wohin die Luft abfließt. Die Staubwolken steigen ganz nach oben und verlassen teilweise durch dieses nicht sichtbare Loch in der Kuppel die Stadt. Nun wird mich wohl kein Sonnenstrahl erreichen, denn der Staub staut sich vor dem nicht sichtbaren Loch und hält die warmen, hellen Strahlen auf, denkt Jasmin enttäuscht.

Unerwartet ertönen weit entfernt unter ihr nervöse Laute und diese übertönen zeitweise beinahe den Lärm der Belüftungsventilatoren. Die unverständlichen, bösen Rufe verstummen. Jasmin muss sich anstrengen und gut zuhören. Es bleiben zwei Kinderstimmen bestehen, die leise in einer piepsenden Sprache miteinander flüstern. Um was sich das Gespräch handelt, kann Jasmin nicht verstehen, denn die Stimmen sind zu leise. Sie hört schnelle, rennende Schritte und ruft laut Hallo durch den Stoff vor ihrem Mund. Die leisen Kinderstimmen verstummen auf der Stelle. Habe ich geträumt, fragt sie sich verunsichert. Noch nie hörte sie in der realen Welt andere Menschen sprechen außer ihrem Vater und ihrem Bruder, den sie nicht versteht. Sie schaut angestrengt in den Staub hinunter und läuft aufgeregt an dem Metall-Geländer der Terrasse entlang. In der rechten Geländer-Ecke, befestigt unter der Terrasse an der hohen, flachen Hausmauer, führt eine verrostete, kleine Leiter in die Tiefe. Bis jetzt fiel Jasmin diese nicht auf, da sie mit grauer Farbe bemalt ist. Die Steine der Außenwand besitzen exakt den gleichen grauen Farbton, so dass die Leiter auf den ersten Blick niemandem auffällt. Der Staub verdeckt die Sicht in die Tiefe. Mit einer besseren Aussicht würde Jasmin viele Meter an der geraden, rechten Mauer nach unten sehen und die Höhenangst würde sie vermutlich von der gefährlichen Kletterei abhalten. Doch dank den dunklen Wolken verspürt Jasmin keine Angst und steigt mutig über das wackelige Geländer am rechten Ecken der Terrasse. Ihren Stofffetzen verräumt sie zurück in die Tasche, denn sie braucht für ihr Vorhaben beide Hände. Der Staub kratzt in ihrer Lunge und die junge Frau hustet oft. Sie schwingt sich auf die Leiter unter ihr. Diese giert und ächzt, da sie ihr Gewicht tragen muss. Sie klettert hinunter in die Dunkelheit und das Gehirn hält sie nicht zurück. Ihr Vater verbot ihr nie das Verlassen der Wohnung, auch wenn dies sicher seine Absicht war, damals als er ihr befahl: Du darfst nicht durch die Tür ohne meine Erlaubnis. Die Leiter auf der Terrasse vergass er bestimmt. Sie ist glücklich, dass ihr Papa das Verbot zu ungenau aussprach und freut sich auf ihr erstes, reales Abenteuer.
 



 
Oben Unten