Viviane Lampenberg
Mitglied
Ein Stockwerk weiter unten schwingt sich die junge Frau auf einen kleinen Sims und hält sich an der Aussenseite des Terrassengeländers des unteren Stockwerkes fest. Sie schwankt gefährlich, rutscht aus und kann sich im letzten Augenblick an einem Metallstab des Geländers festklammern. Um ein Haar wäre sie mehr als 800 Meter in die Tiefe gefallen, wird ihr bewusst, da sie gestern beim Spionieren das Modell dieser Stadt studierte. Ich befinde mich auf dem 331 Stock. Jedes Stockwerk ist etwa 2 Meter 50 hoch. Also bin ich hier 825 Meter vom Erdboden entfernt, rechnet Jasmin schnell aus. Sie stand in der realen Welt nie auf dem Erdboden.
Sie klettert zitternd über das Geländer auf den Metallboden ein Stockwerk unter ihrem Zuhause und entdeckt eine Terrasse, die der von ihrer Wohnung sehr ähnlich sieht. Nun hält sie erneut den Staub undurchlässigen Stofffetzen vor ihr Gesicht und atmet dadurch. Ihre Hustenanfälle werden seltener. Auf diesem unteren, riesigen, stufenförmigen Vorsprung brennen keine Lichter und diese bisher nie besuchte Terrasse ist viel länger. Keine nachträglich aufgebaute Backsteinmauer steht darauf und haltet Jasmin davon ab, die ganze Länge dieser unteren Terrasse zu erkunden. Die jungen Frau läuft aufgeregt diesen straßenbreiten, etwa 150 Meter langen Vorsprung entlang. Sie schaute dabei hinauf auf die Terrasse ihrer Wohnung und ihr wird bewusst, dass sie zusammen mit ihrem Papa und Laszlo einen kleinen Teil des zweit obersten Stockwerks bewohnt. Denn von hier unten bemerkte sie deutlich, dass die Terrasse über ihr mehrmals unterteilt ist und im zweit obersten Stockwerk höchstwahrscheinlich viele Wohnungen leer stehen. Alleine ein kurzer Abschnitt dieser oberen Terrasse und ein kleiner Teil der Räume dahinter sind ihr bekannt. Ein Stockwerk unter ihrer Wohnung fallen ihr beim Erkunden noch mehr verstaubte Wohnungen nebenan auf, die anscheinend ebenfalls niemand bewohnt.
Die von unten kommenden Ventilatoren-Geräusche verstummen langsam. Bald vermischt sich das leises Flappen der Rotoren ganz unten in der Kuppelwand mit dem weit entfernten, stetigen Geräusch der Maschinen dieser Stadt. Eine erste Phase der kurzen Belüftung-Aktion in Luminaris ist vorbei. Doch die junge Frau vermutet, dass heute noch weitere Male die Ventilatoren eingeschaltet werden. Langsam setzt sich der Staub am Boden ab. Jasmin verräumt den schützenden Stofffetzen in ihren Sack und atmet frischen Sauerstoff ein. Sie erreicht das Ende der Terrasse, steht nun im linken Ecken des Terrassengeländers und schaut nach links. Zum ersten mal in ihrem Leben entdeckt sie vage, durch die selten öffnenden und sich setzenden Staubwirbel den dritten Wolkenkratzer, der auf der linken Seite ihrer Wohnung in die Höhe ragt. Die Außenmauer dieses weit entfernten Wolkenkratzers sieht aus wie das Spiegelbild der geraden, hohen Mauer, die links von ihr in die Tiefe führt. Es ist nun eindeutig klar, dass die drei Wolkenkratzer dieser Stadt tatsächlich einen dreifach unterbrochenen Kegel bilden. Das Stadtmodell-Hologramm vom Luminaris, das ich gestern beim Spionieren beobachtete, ist tatsächlich korrekt. Ich sehe über mir einen Teil der gemeinsamen Spitze, der runden Plattform dieser Stadt und links von mir den dritten, beinahe freistehenden Wolkenkratzer mit dem Hohlraum dazwischen, denkt Jasmin aufgeregt. Dieser freie Raum zwischen den zwei Wolkenkratzern ist immer noch gefüllt mit wirbelnden Staub, der langsam in die Tiefe absinkt und der jungen Frau schon bald nicht mehr die gute Aussicht versperrt. Jasmin bestaunt ihre unbekannte, tote und kahle Umgebung, als das laute Rotorengeräusch zum zweiten Mal ertönt. Erneut fließen die dunklen Staubwirbel in die Höhe. Wie ein schwarzer, rückwärts fließender Wasserfall schweben diese dichten Staub-Fetzen im Hohlraum nun zwischen den Hochhäuser-Mauern nach oben. Zwei Stockwerke über Jasmin dringen sie durch die luftdurchlässige runde, riesige Abdeckung aus Gitterrosten, die über den Spitzen aller drei Hochhäusern liegt. Der dunkle Staub staut sich vermutlich vor dem nicht sichtbaren Loch in der höchsten Rundung der Kuppel, denn die schmutzige Wolke über mir wird mit jeder Sekunde größer. Leider verlässt bei jeder Belüfungsphase zu wenig Staub Luminaris. Es ist immer noch viel zu schmutzig in meiner Realität. Das Loch ist zu klein, überlegt sich Jasmin, nimmt den Stofffetzen aus dem Sack und drückt diesen nahe an ihr Gesicht.
Sie läuft umhüllt von Staubwolken die lange Strecke auf der Terrasse zurück. Sie steht erneut rechts auf der Terrasse unter ihrer Wohnung und findet in der gleichen Ecke wie vorhin nur einen Stock tiefer eine weitere Leiter. Ohne ihren Atemweg vor dem eindringenden Staub zu schützen, steigt sie auf wackligen Beinen gleich vier Stockwerke nach unten. In jedem Stockwerk springt sie hustend und keuchend auf einen kleinen Sims und läuft auf diesem außerhalb des Geländers der treppenförmigen Terrassen zur nächsten hinunter führenden Leiter. Je tiefer sie hinunter klettert, desto mehr unbewohnte, leere Wohnungen vermutet sie. Die Stockwerke werden nach unten länger und breiter. Wenn nur dieser verhexte, beißende Staub nicht hier wäre. Ich sehe kaum etwas, denkt Jasmin. Denn der Staub wird, desto tiefer sie hinunter steigt immer dichter. Keine Menschenseele taucht auf. Doch neun Stockwerke unter ihrer Wohnung hört Jasmin die zwei schreienden und piepsenden Kinderstimmen erneut. Jasmin möchte die Kinder kennenlernen und eilt den Sims entlang. Sie ist bereit, auf eine weitere Leiter zu springen, als ein Junge einen kleinen Stein auf sie wirft, um Jasmin auf ihn aufmerksam zu machen. Jasmin, die gerade das Terrassengeländer überquert, klettert nach diesem Schock nicht weiter hinunter. Eine Kinderhand packt sie an der Schulter und zieht sie weg von der Leiter, die Jasmin nur kurz mit ihren Zehenspitzen berührt. Die Leiter löst sich von der Steinmauer ab und fällt in die Tiefe. Um ein Haar wäre die junge Frau mit der Leiter in die Tiefe gefallen. Sie klettert nun zitternd über das gierende Geländer zurück auf die sichere Terrassenplattform. Vor ihr steht ein wenig verlegen und unsicher, ein pummeliger Junge mit knallroten Haaren. Er hat eine dunkle Schutzmaske vor dem Gesicht befestigt, die seine Nase und seinen Mund verdeckt. Seine Haut ist erschreckend künstlich weiss und er besitzt hellblaue leuchtende Augen. Jasmins Lebensretter reicht ihr freundlich die Hand. Der Junge hinter der Maske spricht jedoch kein Wort. Mit geöffnetem Mund staunt Jasmin diesen unbekannten Menschen an und ruft schlicht mit dem Zeigefinger auf sich selbst gerichtet: Jasmin! Mehr Worte entkommen ihrem Mund nicht. Sie ist zu aufgeregt und hat einen Hustenanfall. Hastig hält sie ihren Stofffetzen vor die Nase und beruhigt sich langsam. Nie hätte sie gedacht, dass so nahe an ihrer Wohnung fremde Menschen leben. Der Junge nimmt eine zweite Schutzmaske aus seiner großen, schwer gefüllten Tasche, die er an seine linke Schulter gehängt hat, und streckt diese vor Jasmins Nase. Ohne Worte fordert er die junge Frau dazu auf, diese Schutzmaske anzuziehen. Jasmin verräumt den Stofffetzen in ihren Sack und zieht die neuartige, dunkle Schutzmaske an. Diese ist viel leichter, als sie dachte und kratzt nicht auf ihrem Gesicht. Sie lässt sich problemlos tragen. Allerdings hindert diese neuartige Maske sie daran, deutlich zu sprechen. Sie versteht ihre eigenen Worte nicht mehr. Die junge Frau stößt diesen eigenartigen Jungen, der nicht spricht, sachte auf die Seite, sucht ein leeres Zimmer mit möglichst wenig Staubpartikeln in der Luft, betritt dieses und verräumt ihre geschenkte Schutzmaske in ihrem Sack. Der Junge folgt ihr unsicher ins Zimmer. Er zieht seine Schutzmaske trotz wenigen Staubpartikeln nicht ab. Es scheint ihn nicht zu stören, dass er mit dieser Maske nicht verständlich sprechen kann. Als hätte er sich auf diese Situation vorbereitet, zieht er eine kleine Tastatur aus seiner großen Tasche heraus und schreibt darauf. Ich heiße Henrik. Die Buchstaben schweben gut sichtbar über der futuristischen Tastatur in der Luft und verblassen langsam. Der Ventilatoren-Lärm wird leiser und verstummt bald vollkommen. Jasmins Herzschlag beruhigt sich und sie setzt sich auf den Boden. Umständlich nimmt der dicke Junge Platz auf einem verstaubten Plastikhocker in Jasmins Nähe. Die junge Frau möchte mehr über die Bewohner dieser Stadt erfahren und fragt ihre neue Bekanntschaft aus. Gibt es noch mehr Menschen in dieser Stadt? Wie lebt die Bevölkerung von Luminaris? möchte sie unbedingt wissen. Henrik schreibt als Antwort mit Hilfe seiner neuartigen Tastatur in die Luft. Ein langer Text schwebt vor Jasmins Nase und verschwindet wieder, sobald sie ihn fertig gelesen hat. Jasmin erfährt in dieser speziellen Unterhaltung viel Wissenswertes über die normalen, einfachen Bürger dieser Stadt, in der sie alle leben. Die Bürger der Stadt leben nach einem fix vorgegebenen Modell. Die Zeit der Kindheit wird klar abgetrennt vom Leben eines erwachsenen Bürgers.
Henrik ist mit seinen fast 12 Jahren noch ein Kind und lebt mit anderen Kindern in einer Grippe. Dort herrschen schreckliche Zustände. Einige erwachsene Pfleger ziehen eine große Gruppe von Kindern von 0 bis 11 Jahren auf. Diese wenigen Erwachsenen lassen sich von den älteren Kindern herum kommandieren. Die Pfleger sind in den Kinderaugen Dienstboten, die für Nahrung, saubere Kleidung und Unterhaltung sorgen und keine Autorität besitzen. Der Gewinner der Rangkämpfe regiert als Kinder-Chef die minderjährige Horde. Keiner der Kinder kennt seine leiblichen Eltern. Die Kinderhorde und die Dienstboten-Pfleger bilden zusammen eine große Familie. Bis zu einem Alter von 12 Jahren ist jeder Bürger der Stadt frei in seinen Gedanken und besitzt noch keinen implantierten Empfänger mit Verbindung zum Computer-Gehirn in seinem Kopf. Der Empfänger stört anscheinend die kindliche Entwicklung und darf deshalb nicht zu früh eingesetzt werden. Doch am 12. Geburtstagsabend ändert sich jedes Kinderleben. Anstelle eines Geburtstagsfestes wird ein Ritual namens “Connect” durchgeführt. Während diesem legt das Geburtstagskind seinen jetzigen Namen ab, wird zu einem erwachsenen Mitglied der Gemeinschaft und bekommt einen geeigneten Beruf zugeteilt. Der wichtigste Teil des Connect beinhaltet die Implantation des Empfängers. Dank diesem ist die Verbindung zum Computer-Gehirn erst möglich. Gewisse Erinnerungen der Kindheit werden im Connect aus dem Gedächtnis des 12 jährigen gelöscht. Der neue, junge Erwachsene lebt ab diesem Zeitpunkt in der Nähe seines Arbeitsplatzes unter rein erwachsenen Arbeitskollegen.
Jasmin erzählt Henrik leise von ihrem eintönigen Alltag. Sie berichtet, dass sie mit ihrem Vater und einem Jungen in einer Wohnung im 2. obersten Stockwerk dieses Wolkenkratzers wohnt. Ich bin mit meinen fast 16 Jahren zwar mit Hilfe eines Empfängers mit dem Computer-Gehirn verbunden, kann aber trotzdem größtenteils selbständig denken. Der in meinem Kopf implantierte Empfänger behindert mich nur teilweise. Jasmin berichtet, dass sie zu ihrem Bedauern nicht arbeiten darf, obwohl sie schon das Alter von 12. Jahren überschritten hat. Das Ritual „Connect“ durfte sie nie erleben. Auf jeden Fall hat sie keine Erinnerung daran. Mit einem langen Gesicht ergänzt sie ihren Bericht: Ich langweile mich schrecklich in meinem Alltag. Mein Vater verbietet mir jegliches Abenteuer. Er sieht überall Gefahren und Hindernisse. Alles Unbekannte könnte mich verletzen oder töten und ist deshalb verboten. Auch alles, was sich spannend und aufregend anhört, ist mir untersagt. Heute gelang es mir zum ersten Mal, der Aufsicht meines Vaters zu entkommen, und jetzt möchte ich hier etwas erleben! Henrik zeigt ein gespielt bedauerndes Gesicht. Was Jasmin erzählte, schien er bereits gewusst zu haben.
Während der ganzen Unterhaltung ist Henrik sehr angespannt und konzentriert. Er bleibt ruhig auf seinem Hocker sitzen. Jasmin steht auf, erforscht die leeren Wohnungen dieses Stockwerks und findet eine Treppe. Die junge Frau möchte die Treppe heruntersteigen und den Kinderhort suchen, von dem Henrik ihr erzählte. Jasmin wünscht sich, dass sich noch mehr Bewohner dieser Stadt kennenlernt. Der stumme Henrik hat etwas Befremdendes an sich und Jasmin wird mit ihm nicht ganz warm. Doch als sie auf der ersten Stufe nach unten steht, packt sie Henrik grob an der Schulter und hält sie unerwartet zurück. Er schreibt gestresst einige Worte auf seiner futuristischen Tastatur. Jasmin liest in der Luft über der Tastatur den Text: Du musst mir helfen! Ich kann nicht zurück zu meinen jungen Kollegen und Kolleginnen in den Kinderhort. Heute ist mein 12. Geburtstag. Ich will nicht erwachsen werden. Den ganzen Tag suche ich schon nach einer Möglichkeit, dem Ritual „Connect“ zu entkommen. Jasmin versteht nicht, weshalb Henrik ein Kind bleiben möchte und fragt: Weshalb willst du fliehen? Eine Arbeit, die unsere Stadt unterstützt, wünsche ich mir schon lange. Du hast Glück, dass du heute Abend ein vollwertiges, erwachsenes Mitglied der Gesellschaft wirst. Doch Henrik schüttelt den Kopf und kämpft gegen die Tränen, als er weiter schreibt: Du verstehst nicht, was das Gehirn mit uns anstellt! Ich unternahm viele verbotene Erkundungstouren und erfuhr Schreckliches. Das Leben der Erwachsenen ist nicht so, wie du es dir vorstellst. Alle Handlungen der Erwachsenen drehen ausschließlich um das Wohl der Gemeinschaft. Ein Individuum ist hier in der Stadt nichts wert. Jasmin schüttelt Henrik’s Hand von ihrer Schulter und sagt: Ja, nur dank unserer sozialen Gesellschaft existiert diese glückliche Stadt. Sie sucht einen Weg vorbei an Henrik und stößt diesen ungewollt einige Stufen hinunter. Henrik rutscht rückwärts die Treppe hinab und landet auf dem Rücken. Sein dicker Körper hat sich eigenartig verformt. Trotz Schmerzen steht er sofort wieder auf und packt Jasmin erneut. Erst jetzt sieht die junge Frau die Angst in seinen Augen. Sie denkt: Er meint es sehr ernst mit seiner Flucht. Henrik sucht die richtigen schriftlich überzeugenden Worte und erzählt nach längerer Pause:
Wenn ein Feuer ausbricht, rennen die nächsten, erwachsenen Menschen auf das Feuer zu und versuchen, es mit allen Mitteln zu löschen. Mit Decken oder mit ihrem eigenen Körper ersticken sie die Flammen. Nicht einmal der Tod hält sie zurück von ihrem Vorhaben.
Andere arbeiten ohne Sicherheit in schwindelerregender Höhe, graben in schlecht befestigten, Einsturz gefährdeten Bergwerken unter der Stadt Rohstoffe ab oder tauchen in giftige Kanalisationsschächte, um Verstopfungen zu beseitigen. Wer diese oder ähnliche lebensgefährliche Aufgaben übernimmt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit ein weiteres Menschenopfer für Luminaris. Das Gehirn nimmt tagtäglich neue Arbeitsunfälle in Kauf. Hauptsache am Abend ist die Arbeit fürs Allgemeinwohl erledigt.
In den Fabriken in einem anderen Wolkenkratzer sah ich viele kranke und verletzte Menschen, die in einem gesundheitsgefährdenden Arbeitsumfeld vegetieren. Die Luft dort drüben ist stickig und giftig. Die Arbeiter ziehen keine Schutzmasken, keine Handschuhe und keine Schutzbrillen an, um Verletzungen und Krankheiten vorzubeugen. Falls jemand nicht mehr zur Arbeit erscheint, wird er von niemandem vermisst. Behinderte und zu alte Erwachsene mit einem Empfänger im Kopf gibt es in unserer Stadt nicht mehr. Wer arbeitsunfähig ist, wird vom Gehirn eliminiert. Ich bin mir sicher, dass das Computer-Gehirn entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. Es eliminiert jedes aus seiner Sicht überflüssige Lebewesen. Ein einzelnes Menschenleben ist in Luminaris wertlos.
Niemand ausser mir bemerkt, dass das künstliche Gehirn die komplett falschen Entscheidungen trifft. Mit dem Implantieren des Empfängers verliert jeder die Fähigkeit, individuell zu denken. Die Erwachsenen befolgen blind alle Regeln und jeden Befehl des Computer-Gehirns. Die Bürger dieser Stadt kommen mir vor wie arbeitende Tote. Meine erwachsenen Mitmenschen sind Maschinen, die keine eigene Meinung, keine Willenskraft und kein bisschen Phantasie besitzen. Verstehst du jetzt, weshalb ich fliehe vor dem Leben als Erwachsener? So will ich nicht enden!
Jasmin schenkt dem Gesagten nicht viel Glauben. Ihr Papa erzählte ihr nie solche Schauergeschichten. In den virtuellen Lernprogrammen wurde Jasmin soziales Denken beigebracht und sie zeigten ihr auf, wie wichtig ein Leben in einer geregelten Gemeinschaft ist. Sie ruft energisch zu Henrik: Mein Papa sagt, alle Stadtbewohner sind glücklich, denn sie arbeiten auf ein größeres Ziel hin! Henrik hält seinen Zeigefinger vor seine Schutzmaske, damit Jasmin leiser spricht und schreibt ernst den Text in die Luft: Was für ein Ziel möchten die Bürger von Luminaris erreichen? Jasmin möchte antworten, doch hat sie nie ihren Vater danach gefragt, was die Bevölkerung von Luminaris für ein Ziel verfolgt. Sie bemerkt, dass sie nicht genug über ihre reale Welt in Erfahrung bringen konnte. Sie zweifelt aber auch an Henriks Worten und sagt skeptisch, während sie ihn mit den Augen fixiert: Beweise mir, dass die Erwachsenen sich mit den Vorgaben des Gehirns zu unmenschlichen, uneigennützigen Maschinen verwandeln? Ich möchte sehen, dass du mir die Wahrheit mitgeteilt hast, denn Worte beweisen nichts.
Henrik führt Jasmin daraufhin zu einem ihm bekannten, lebensgefährlichen Arbeitsplatz der Erwachsenen. Sie steigen in einem schmalen Tunnel viele Stufen nach unten. Die Treppe ist sehr steil, leicht grünlich beleuchtet und besitzt keine Drehungen. Es ist nicht weit, meint Henrik in Form eines schwebenden Textes und trägt keuchend seinen schweren Sack hinunter. Jasmins Beine schmerzen, als Henrik nach einem anstrengenden Abstieg die Treppe verlässt und den Text in die Luft schweben lässt: Hier auf dem Stockwerk ist eine Waren-Seilbahn, die uns in einen weiteren Wolkenkratzer zur Abfall-Wiederverwertungs-Station bringt. Jeden Tag sterben dort an diesem fürchterlichen Arbeitsort Menschen. Der Abfall wird in ätzenden Flüssigkeiten in seine Bestandteile aufgeteilt. Auf diese Weise gewinnen die Arbeiter in einem komplizierten und leider sehr gefährlichen Verfahren die einzelnen, wiederverwertbaren Rohstoffe zurück. Nur dank den zurück gewonnenen Rohstoffen überleben wir unter der Kuppel. Alle Materialien sind bei uns rar und wertvoll.
Henrik befiehlt Jasmin, die geschenkte Schutzmaske über ihr Gesicht zu ziehen. Seine Maske hat er nie abgezogen. Henriks Gesicht ist stets hinter der dunklen Maske verborgen. Weiter unten in Luminaris außerhalb der geschlossenen Räume ist die Konzentration der Staubpartikel in der Luft zu jeder Zeit gesundheitsschädlich. Behalte deine Schutzmaske immer an! erklärt Henrik schriftlich mit Hilfe seiner futuristischen Tastatur und führt seine neue Bekannte zu einer Seilbahngondel in einem offenen, überhängenden Raum. Die Gondel transportiert Waren und ist nicht für Personenreisen geeignet. Henrik wirft seinen schweren Sack, in den er seine neuartige Tastatur verstaute, auf die Gondel-Plattform, klettert selbst entschlossen darauf und winkt Jasmin zu, damit sie ihm folgt. Unsicher besteigt die junge Frau ebenfalls die schaukelnde Plattform. Die Zwei klammern sich an die gierende Befestigung aus Metallstäben in der Mitte der Gondel. Die Metallstäbe verbinden die Plattform mit den Rädern, die auf dem straffen Stahlseil liegen. Nachdem Henrik mit einer Metallstange als Armverlängerung auf einen Knopf an der Wand drückte, spickt die Gondel in großer Geschwindigkeit aus dem Zimmer. Sie schaukelt bedrohlich und der Fahrtwind droht die Beiden von der Plattform zu werfen. Jasmin und ihr Begleiter rasen durch vereinzelte dunkle Staubwolken, die lustig um sie herum wirbeln. Die junge Frau sieht vage durch die schmutzige Luft und die teilweise öffnenden Staubschwaden das runde Wasserreservoire weit unter ihnen. Es riecht nach kaltem, abgestandenem Wasser.
Die Ventilatoren ganz unten in der Kuppelwand laufen an und das laute Rattern ihrer Rotoren verkündet bald eintreffende Windströme. Quiuuuuähh! ruft Henrik ängstlich. Doch die Gefahr lässt sich nicht mit einem gerufenen Schrei eines Jungen wegwünschen. Der strömende Wind treibt gleich darauf die Staubwirbel über dem runden Wasserreservoire zusammen in die Höhe. Der Freiraum unter den drei überhängenden und an den Spitzen sich vereinigenden Wolkenkratzern füllt sich mit einem schnellen, nach oben treibenden, staubigen Luftstrom. Als würde ein starker Sturm wüten, wird die Gondel mit ihren zwei Passagieren nun mit aller Kraft herumgeschleudert und geschüttelt. Schlagartig befinden sich die Zwei in einem dichten Staubnebel und sehen ihre Umgebung kaum. Der Wind drohte sie von der Plattform zu werfen. Jamin und Henrik klammern sich mit aller Kraft an die gierende Befestigung in der Mitte der offenen Gondel fest. Jasmin schreit in Panik nach Hilfe. Ihre Laute werden nach oben in die höchste Rundung der Kuppel transportiert. Dort verklingen sie ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Niemand rettet die zwei. Viele Räder, die auf dem straffen Stahlseil liegen, hängen aus und die schnell fahrende Gondel mit ihren zwei Passagieren droht in die Tiefe zu fallen. Kurz bevor das letzte Rad vom Stahlseil rutscht, erreichen glücklicherweise Jasmin und Henrik ihr Ziel, den Wolkenkratzer mit der Abfalltrennung- und Wiederverwertung-Stationen.
Grob wird ihre Gondel im nächsten Hochhaus durch Gummistopper abgebremst. Die Plattform mit der Metallbefestigung spickt vollständig vom straffen Stahlseil weg und landet krachend auf dem harten Boden. Jasmin und Henrik mit seinem Sack fliegen in hohem Bogen von der Gondel-Plattform und landen in einem stinkenden Abfallhaufen aus alten Kleidungsstücken, der ihren Sturz beinahe sanft abfängt. Sie hatten Glück, denn beide junge Menschen bleiben unverletzt. Die drei Ventilatoren ganz unten in der Kuppelwand verstummen erneut. Die unregelmässigen Belüftungsphasen für die Bewohner in Luminaris sind für heute beendet. Erst morgen ist es wieder möglich, dass erneut frische Luft in diese Stadt geblasen wird. Mehr als drei Belüftungsphasen gibt es pro Tag nie, weiß Jasmin.
Sie klettert zitternd über das Geländer auf den Metallboden ein Stockwerk unter ihrem Zuhause und entdeckt eine Terrasse, die der von ihrer Wohnung sehr ähnlich sieht. Nun hält sie erneut den Staub undurchlässigen Stofffetzen vor ihr Gesicht und atmet dadurch. Ihre Hustenanfälle werden seltener. Auf diesem unteren, riesigen, stufenförmigen Vorsprung brennen keine Lichter und diese bisher nie besuchte Terrasse ist viel länger. Keine nachträglich aufgebaute Backsteinmauer steht darauf und haltet Jasmin davon ab, die ganze Länge dieser unteren Terrasse zu erkunden. Die jungen Frau läuft aufgeregt diesen straßenbreiten, etwa 150 Meter langen Vorsprung entlang. Sie schaute dabei hinauf auf die Terrasse ihrer Wohnung und ihr wird bewusst, dass sie zusammen mit ihrem Papa und Laszlo einen kleinen Teil des zweit obersten Stockwerks bewohnt. Denn von hier unten bemerkte sie deutlich, dass die Terrasse über ihr mehrmals unterteilt ist und im zweit obersten Stockwerk höchstwahrscheinlich viele Wohnungen leer stehen. Alleine ein kurzer Abschnitt dieser oberen Terrasse und ein kleiner Teil der Räume dahinter sind ihr bekannt. Ein Stockwerk unter ihrer Wohnung fallen ihr beim Erkunden noch mehr verstaubte Wohnungen nebenan auf, die anscheinend ebenfalls niemand bewohnt.
Die von unten kommenden Ventilatoren-Geräusche verstummen langsam. Bald vermischt sich das leises Flappen der Rotoren ganz unten in der Kuppelwand mit dem weit entfernten, stetigen Geräusch der Maschinen dieser Stadt. Eine erste Phase der kurzen Belüftung-Aktion in Luminaris ist vorbei. Doch die junge Frau vermutet, dass heute noch weitere Male die Ventilatoren eingeschaltet werden. Langsam setzt sich der Staub am Boden ab. Jasmin verräumt den schützenden Stofffetzen in ihren Sack und atmet frischen Sauerstoff ein. Sie erreicht das Ende der Terrasse, steht nun im linken Ecken des Terrassengeländers und schaut nach links. Zum ersten mal in ihrem Leben entdeckt sie vage, durch die selten öffnenden und sich setzenden Staubwirbel den dritten Wolkenkratzer, der auf der linken Seite ihrer Wohnung in die Höhe ragt. Die Außenmauer dieses weit entfernten Wolkenkratzers sieht aus wie das Spiegelbild der geraden, hohen Mauer, die links von ihr in die Tiefe führt. Es ist nun eindeutig klar, dass die drei Wolkenkratzer dieser Stadt tatsächlich einen dreifach unterbrochenen Kegel bilden. Das Stadtmodell-Hologramm vom Luminaris, das ich gestern beim Spionieren beobachtete, ist tatsächlich korrekt. Ich sehe über mir einen Teil der gemeinsamen Spitze, der runden Plattform dieser Stadt und links von mir den dritten, beinahe freistehenden Wolkenkratzer mit dem Hohlraum dazwischen, denkt Jasmin aufgeregt. Dieser freie Raum zwischen den zwei Wolkenkratzern ist immer noch gefüllt mit wirbelnden Staub, der langsam in die Tiefe absinkt und der jungen Frau schon bald nicht mehr die gute Aussicht versperrt. Jasmin bestaunt ihre unbekannte, tote und kahle Umgebung, als das laute Rotorengeräusch zum zweiten Mal ertönt. Erneut fließen die dunklen Staubwirbel in die Höhe. Wie ein schwarzer, rückwärts fließender Wasserfall schweben diese dichten Staub-Fetzen im Hohlraum nun zwischen den Hochhäuser-Mauern nach oben. Zwei Stockwerke über Jasmin dringen sie durch die luftdurchlässige runde, riesige Abdeckung aus Gitterrosten, die über den Spitzen aller drei Hochhäusern liegt. Der dunkle Staub staut sich vermutlich vor dem nicht sichtbaren Loch in der höchsten Rundung der Kuppel, denn die schmutzige Wolke über mir wird mit jeder Sekunde größer. Leider verlässt bei jeder Belüfungsphase zu wenig Staub Luminaris. Es ist immer noch viel zu schmutzig in meiner Realität. Das Loch ist zu klein, überlegt sich Jasmin, nimmt den Stofffetzen aus dem Sack und drückt diesen nahe an ihr Gesicht.
Sie läuft umhüllt von Staubwolken die lange Strecke auf der Terrasse zurück. Sie steht erneut rechts auf der Terrasse unter ihrer Wohnung und findet in der gleichen Ecke wie vorhin nur einen Stock tiefer eine weitere Leiter. Ohne ihren Atemweg vor dem eindringenden Staub zu schützen, steigt sie auf wackligen Beinen gleich vier Stockwerke nach unten. In jedem Stockwerk springt sie hustend und keuchend auf einen kleinen Sims und läuft auf diesem außerhalb des Geländers der treppenförmigen Terrassen zur nächsten hinunter führenden Leiter. Je tiefer sie hinunter klettert, desto mehr unbewohnte, leere Wohnungen vermutet sie. Die Stockwerke werden nach unten länger und breiter. Wenn nur dieser verhexte, beißende Staub nicht hier wäre. Ich sehe kaum etwas, denkt Jasmin. Denn der Staub wird, desto tiefer sie hinunter steigt immer dichter. Keine Menschenseele taucht auf. Doch neun Stockwerke unter ihrer Wohnung hört Jasmin die zwei schreienden und piepsenden Kinderstimmen erneut. Jasmin möchte die Kinder kennenlernen und eilt den Sims entlang. Sie ist bereit, auf eine weitere Leiter zu springen, als ein Junge einen kleinen Stein auf sie wirft, um Jasmin auf ihn aufmerksam zu machen. Jasmin, die gerade das Terrassengeländer überquert, klettert nach diesem Schock nicht weiter hinunter. Eine Kinderhand packt sie an der Schulter und zieht sie weg von der Leiter, die Jasmin nur kurz mit ihren Zehenspitzen berührt. Die Leiter löst sich von der Steinmauer ab und fällt in die Tiefe. Um ein Haar wäre die junge Frau mit der Leiter in die Tiefe gefallen. Sie klettert nun zitternd über das gierende Geländer zurück auf die sichere Terrassenplattform. Vor ihr steht ein wenig verlegen und unsicher, ein pummeliger Junge mit knallroten Haaren. Er hat eine dunkle Schutzmaske vor dem Gesicht befestigt, die seine Nase und seinen Mund verdeckt. Seine Haut ist erschreckend künstlich weiss und er besitzt hellblaue leuchtende Augen. Jasmins Lebensretter reicht ihr freundlich die Hand. Der Junge hinter der Maske spricht jedoch kein Wort. Mit geöffnetem Mund staunt Jasmin diesen unbekannten Menschen an und ruft schlicht mit dem Zeigefinger auf sich selbst gerichtet: Jasmin! Mehr Worte entkommen ihrem Mund nicht. Sie ist zu aufgeregt und hat einen Hustenanfall. Hastig hält sie ihren Stofffetzen vor die Nase und beruhigt sich langsam. Nie hätte sie gedacht, dass so nahe an ihrer Wohnung fremde Menschen leben. Der Junge nimmt eine zweite Schutzmaske aus seiner großen, schwer gefüllten Tasche, die er an seine linke Schulter gehängt hat, und streckt diese vor Jasmins Nase. Ohne Worte fordert er die junge Frau dazu auf, diese Schutzmaske anzuziehen. Jasmin verräumt den Stofffetzen in ihren Sack und zieht die neuartige, dunkle Schutzmaske an. Diese ist viel leichter, als sie dachte und kratzt nicht auf ihrem Gesicht. Sie lässt sich problemlos tragen. Allerdings hindert diese neuartige Maske sie daran, deutlich zu sprechen. Sie versteht ihre eigenen Worte nicht mehr. Die junge Frau stößt diesen eigenartigen Jungen, der nicht spricht, sachte auf die Seite, sucht ein leeres Zimmer mit möglichst wenig Staubpartikeln in der Luft, betritt dieses und verräumt ihre geschenkte Schutzmaske in ihrem Sack. Der Junge folgt ihr unsicher ins Zimmer. Er zieht seine Schutzmaske trotz wenigen Staubpartikeln nicht ab. Es scheint ihn nicht zu stören, dass er mit dieser Maske nicht verständlich sprechen kann. Als hätte er sich auf diese Situation vorbereitet, zieht er eine kleine Tastatur aus seiner großen Tasche heraus und schreibt darauf. Ich heiße Henrik. Die Buchstaben schweben gut sichtbar über der futuristischen Tastatur in der Luft und verblassen langsam. Der Ventilatoren-Lärm wird leiser und verstummt bald vollkommen. Jasmins Herzschlag beruhigt sich und sie setzt sich auf den Boden. Umständlich nimmt der dicke Junge Platz auf einem verstaubten Plastikhocker in Jasmins Nähe. Die junge Frau möchte mehr über die Bewohner dieser Stadt erfahren und fragt ihre neue Bekanntschaft aus. Gibt es noch mehr Menschen in dieser Stadt? Wie lebt die Bevölkerung von Luminaris? möchte sie unbedingt wissen. Henrik schreibt als Antwort mit Hilfe seiner neuartigen Tastatur in die Luft. Ein langer Text schwebt vor Jasmins Nase und verschwindet wieder, sobald sie ihn fertig gelesen hat. Jasmin erfährt in dieser speziellen Unterhaltung viel Wissenswertes über die normalen, einfachen Bürger dieser Stadt, in der sie alle leben. Die Bürger der Stadt leben nach einem fix vorgegebenen Modell. Die Zeit der Kindheit wird klar abgetrennt vom Leben eines erwachsenen Bürgers.
Henrik ist mit seinen fast 12 Jahren noch ein Kind und lebt mit anderen Kindern in einer Grippe. Dort herrschen schreckliche Zustände. Einige erwachsene Pfleger ziehen eine große Gruppe von Kindern von 0 bis 11 Jahren auf. Diese wenigen Erwachsenen lassen sich von den älteren Kindern herum kommandieren. Die Pfleger sind in den Kinderaugen Dienstboten, die für Nahrung, saubere Kleidung und Unterhaltung sorgen und keine Autorität besitzen. Der Gewinner der Rangkämpfe regiert als Kinder-Chef die minderjährige Horde. Keiner der Kinder kennt seine leiblichen Eltern. Die Kinderhorde und die Dienstboten-Pfleger bilden zusammen eine große Familie. Bis zu einem Alter von 12 Jahren ist jeder Bürger der Stadt frei in seinen Gedanken und besitzt noch keinen implantierten Empfänger mit Verbindung zum Computer-Gehirn in seinem Kopf. Der Empfänger stört anscheinend die kindliche Entwicklung und darf deshalb nicht zu früh eingesetzt werden. Doch am 12. Geburtstagsabend ändert sich jedes Kinderleben. Anstelle eines Geburtstagsfestes wird ein Ritual namens “Connect” durchgeführt. Während diesem legt das Geburtstagskind seinen jetzigen Namen ab, wird zu einem erwachsenen Mitglied der Gemeinschaft und bekommt einen geeigneten Beruf zugeteilt. Der wichtigste Teil des Connect beinhaltet die Implantation des Empfängers. Dank diesem ist die Verbindung zum Computer-Gehirn erst möglich. Gewisse Erinnerungen der Kindheit werden im Connect aus dem Gedächtnis des 12 jährigen gelöscht. Der neue, junge Erwachsene lebt ab diesem Zeitpunkt in der Nähe seines Arbeitsplatzes unter rein erwachsenen Arbeitskollegen.
Jasmin erzählt Henrik leise von ihrem eintönigen Alltag. Sie berichtet, dass sie mit ihrem Vater und einem Jungen in einer Wohnung im 2. obersten Stockwerk dieses Wolkenkratzers wohnt. Ich bin mit meinen fast 16 Jahren zwar mit Hilfe eines Empfängers mit dem Computer-Gehirn verbunden, kann aber trotzdem größtenteils selbständig denken. Der in meinem Kopf implantierte Empfänger behindert mich nur teilweise. Jasmin berichtet, dass sie zu ihrem Bedauern nicht arbeiten darf, obwohl sie schon das Alter von 12. Jahren überschritten hat. Das Ritual „Connect“ durfte sie nie erleben. Auf jeden Fall hat sie keine Erinnerung daran. Mit einem langen Gesicht ergänzt sie ihren Bericht: Ich langweile mich schrecklich in meinem Alltag. Mein Vater verbietet mir jegliches Abenteuer. Er sieht überall Gefahren und Hindernisse. Alles Unbekannte könnte mich verletzen oder töten und ist deshalb verboten. Auch alles, was sich spannend und aufregend anhört, ist mir untersagt. Heute gelang es mir zum ersten Mal, der Aufsicht meines Vaters zu entkommen, und jetzt möchte ich hier etwas erleben! Henrik zeigt ein gespielt bedauerndes Gesicht. Was Jasmin erzählte, schien er bereits gewusst zu haben.
Während der ganzen Unterhaltung ist Henrik sehr angespannt und konzentriert. Er bleibt ruhig auf seinem Hocker sitzen. Jasmin steht auf, erforscht die leeren Wohnungen dieses Stockwerks und findet eine Treppe. Die junge Frau möchte die Treppe heruntersteigen und den Kinderhort suchen, von dem Henrik ihr erzählte. Jasmin wünscht sich, dass sich noch mehr Bewohner dieser Stadt kennenlernt. Der stumme Henrik hat etwas Befremdendes an sich und Jasmin wird mit ihm nicht ganz warm. Doch als sie auf der ersten Stufe nach unten steht, packt sie Henrik grob an der Schulter und hält sie unerwartet zurück. Er schreibt gestresst einige Worte auf seiner futuristischen Tastatur. Jasmin liest in der Luft über der Tastatur den Text: Du musst mir helfen! Ich kann nicht zurück zu meinen jungen Kollegen und Kolleginnen in den Kinderhort. Heute ist mein 12. Geburtstag. Ich will nicht erwachsen werden. Den ganzen Tag suche ich schon nach einer Möglichkeit, dem Ritual „Connect“ zu entkommen. Jasmin versteht nicht, weshalb Henrik ein Kind bleiben möchte und fragt: Weshalb willst du fliehen? Eine Arbeit, die unsere Stadt unterstützt, wünsche ich mir schon lange. Du hast Glück, dass du heute Abend ein vollwertiges, erwachsenes Mitglied der Gesellschaft wirst. Doch Henrik schüttelt den Kopf und kämpft gegen die Tränen, als er weiter schreibt: Du verstehst nicht, was das Gehirn mit uns anstellt! Ich unternahm viele verbotene Erkundungstouren und erfuhr Schreckliches. Das Leben der Erwachsenen ist nicht so, wie du es dir vorstellst. Alle Handlungen der Erwachsenen drehen ausschließlich um das Wohl der Gemeinschaft. Ein Individuum ist hier in der Stadt nichts wert. Jasmin schüttelt Henrik’s Hand von ihrer Schulter und sagt: Ja, nur dank unserer sozialen Gesellschaft existiert diese glückliche Stadt. Sie sucht einen Weg vorbei an Henrik und stößt diesen ungewollt einige Stufen hinunter. Henrik rutscht rückwärts die Treppe hinab und landet auf dem Rücken. Sein dicker Körper hat sich eigenartig verformt. Trotz Schmerzen steht er sofort wieder auf und packt Jasmin erneut. Erst jetzt sieht die junge Frau die Angst in seinen Augen. Sie denkt: Er meint es sehr ernst mit seiner Flucht. Henrik sucht die richtigen schriftlich überzeugenden Worte und erzählt nach längerer Pause:
Wenn ein Feuer ausbricht, rennen die nächsten, erwachsenen Menschen auf das Feuer zu und versuchen, es mit allen Mitteln zu löschen. Mit Decken oder mit ihrem eigenen Körper ersticken sie die Flammen. Nicht einmal der Tod hält sie zurück von ihrem Vorhaben.
Andere arbeiten ohne Sicherheit in schwindelerregender Höhe, graben in schlecht befestigten, Einsturz gefährdeten Bergwerken unter der Stadt Rohstoffe ab oder tauchen in giftige Kanalisationsschächte, um Verstopfungen zu beseitigen. Wer diese oder ähnliche lebensgefährliche Aufgaben übernimmt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit ein weiteres Menschenopfer für Luminaris. Das Gehirn nimmt tagtäglich neue Arbeitsunfälle in Kauf. Hauptsache am Abend ist die Arbeit fürs Allgemeinwohl erledigt.
In den Fabriken in einem anderen Wolkenkratzer sah ich viele kranke und verletzte Menschen, die in einem gesundheitsgefährdenden Arbeitsumfeld vegetieren. Die Luft dort drüben ist stickig und giftig. Die Arbeiter ziehen keine Schutzmasken, keine Handschuhe und keine Schutzbrillen an, um Verletzungen und Krankheiten vorzubeugen. Falls jemand nicht mehr zur Arbeit erscheint, wird er von niemandem vermisst. Behinderte und zu alte Erwachsene mit einem Empfänger im Kopf gibt es in unserer Stadt nicht mehr. Wer arbeitsunfähig ist, wird vom Gehirn eliminiert. Ich bin mir sicher, dass das Computer-Gehirn entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. Es eliminiert jedes aus seiner Sicht überflüssige Lebewesen. Ein einzelnes Menschenleben ist in Luminaris wertlos.
Niemand ausser mir bemerkt, dass das künstliche Gehirn die komplett falschen Entscheidungen trifft. Mit dem Implantieren des Empfängers verliert jeder die Fähigkeit, individuell zu denken. Die Erwachsenen befolgen blind alle Regeln und jeden Befehl des Computer-Gehirns. Die Bürger dieser Stadt kommen mir vor wie arbeitende Tote. Meine erwachsenen Mitmenschen sind Maschinen, die keine eigene Meinung, keine Willenskraft und kein bisschen Phantasie besitzen. Verstehst du jetzt, weshalb ich fliehe vor dem Leben als Erwachsener? So will ich nicht enden!
Jasmin schenkt dem Gesagten nicht viel Glauben. Ihr Papa erzählte ihr nie solche Schauergeschichten. In den virtuellen Lernprogrammen wurde Jasmin soziales Denken beigebracht und sie zeigten ihr auf, wie wichtig ein Leben in einer geregelten Gemeinschaft ist. Sie ruft energisch zu Henrik: Mein Papa sagt, alle Stadtbewohner sind glücklich, denn sie arbeiten auf ein größeres Ziel hin! Henrik hält seinen Zeigefinger vor seine Schutzmaske, damit Jasmin leiser spricht und schreibt ernst den Text in die Luft: Was für ein Ziel möchten die Bürger von Luminaris erreichen? Jasmin möchte antworten, doch hat sie nie ihren Vater danach gefragt, was die Bevölkerung von Luminaris für ein Ziel verfolgt. Sie bemerkt, dass sie nicht genug über ihre reale Welt in Erfahrung bringen konnte. Sie zweifelt aber auch an Henriks Worten und sagt skeptisch, während sie ihn mit den Augen fixiert: Beweise mir, dass die Erwachsenen sich mit den Vorgaben des Gehirns zu unmenschlichen, uneigennützigen Maschinen verwandeln? Ich möchte sehen, dass du mir die Wahrheit mitgeteilt hast, denn Worte beweisen nichts.
Henrik führt Jasmin daraufhin zu einem ihm bekannten, lebensgefährlichen Arbeitsplatz der Erwachsenen. Sie steigen in einem schmalen Tunnel viele Stufen nach unten. Die Treppe ist sehr steil, leicht grünlich beleuchtet und besitzt keine Drehungen. Es ist nicht weit, meint Henrik in Form eines schwebenden Textes und trägt keuchend seinen schweren Sack hinunter. Jasmins Beine schmerzen, als Henrik nach einem anstrengenden Abstieg die Treppe verlässt und den Text in die Luft schweben lässt: Hier auf dem Stockwerk ist eine Waren-Seilbahn, die uns in einen weiteren Wolkenkratzer zur Abfall-Wiederverwertungs-Station bringt. Jeden Tag sterben dort an diesem fürchterlichen Arbeitsort Menschen. Der Abfall wird in ätzenden Flüssigkeiten in seine Bestandteile aufgeteilt. Auf diese Weise gewinnen die Arbeiter in einem komplizierten und leider sehr gefährlichen Verfahren die einzelnen, wiederverwertbaren Rohstoffe zurück. Nur dank den zurück gewonnenen Rohstoffen überleben wir unter der Kuppel. Alle Materialien sind bei uns rar und wertvoll.
Henrik befiehlt Jasmin, die geschenkte Schutzmaske über ihr Gesicht zu ziehen. Seine Maske hat er nie abgezogen. Henriks Gesicht ist stets hinter der dunklen Maske verborgen. Weiter unten in Luminaris außerhalb der geschlossenen Räume ist die Konzentration der Staubpartikel in der Luft zu jeder Zeit gesundheitsschädlich. Behalte deine Schutzmaske immer an! erklärt Henrik schriftlich mit Hilfe seiner futuristischen Tastatur und führt seine neue Bekannte zu einer Seilbahngondel in einem offenen, überhängenden Raum. Die Gondel transportiert Waren und ist nicht für Personenreisen geeignet. Henrik wirft seinen schweren Sack, in den er seine neuartige Tastatur verstaute, auf die Gondel-Plattform, klettert selbst entschlossen darauf und winkt Jasmin zu, damit sie ihm folgt. Unsicher besteigt die junge Frau ebenfalls die schaukelnde Plattform. Die Zwei klammern sich an die gierende Befestigung aus Metallstäben in der Mitte der Gondel. Die Metallstäbe verbinden die Plattform mit den Rädern, die auf dem straffen Stahlseil liegen. Nachdem Henrik mit einer Metallstange als Armverlängerung auf einen Knopf an der Wand drückte, spickt die Gondel in großer Geschwindigkeit aus dem Zimmer. Sie schaukelt bedrohlich und der Fahrtwind droht die Beiden von der Plattform zu werfen. Jasmin und ihr Begleiter rasen durch vereinzelte dunkle Staubwolken, die lustig um sie herum wirbeln. Die junge Frau sieht vage durch die schmutzige Luft und die teilweise öffnenden Staubschwaden das runde Wasserreservoire weit unter ihnen. Es riecht nach kaltem, abgestandenem Wasser.
Die Ventilatoren ganz unten in der Kuppelwand laufen an und das laute Rattern ihrer Rotoren verkündet bald eintreffende Windströme. Quiuuuuähh! ruft Henrik ängstlich. Doch die Gefahr lässt sich nicht mit einem gerufenen Schrei eines Jungen wegwünschen. Der strömende Wind treibt gleich darauf die Staubwirbel über dem runden Wasserreservoire zusammen in die Höhe. Der Freiraum unter den drei überhängenden und an den Spitzen sich vereinigenden Wolkenkratzern füllt sich mit einem schnellen, nach oben treibenden, staubigen Luftstrom. Als würde ein starker Sturm wüten, wird die Gondel mit ihren zwei Passagieren nun mit aller Kraft herumgeschleudert und geschüttelt. Schlagartig befinden sich die Zwei in einem dichten Staubnebel und sehen ihre Umgebung kaum. Der Wind drohte sie von der Plattform zu werfen. Jamin und Henrik klammern sich mit aller Kraft an die gierende Befestigung in der Mitte der offenen Gondel fest. Jasmin schreit in Panik nach Hilfe. Ihre Laute werden nach oben in die höchste Rundung der Kuppel transportiert. Dort verklingen sie ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Niemand rettet die zwei. Viele Räder, die auf dem straffen Stahlseil liegen, hängen aus und die schnell fahrende Gondel mit ihren zwei Passagieren droht in die Tiefe zu fallen. Kurz bevor das letzte Rad vom Stahlseil rutscht, erreichen glücklicherweise Jasmin und Henrik ihr Ziel, den Wolkenkratzer mit der Abfalltrennung- und Wiederverwertung-Stationen.
Grob wird ihre Gondel im nächsten Hochhaus durch Gummistopper abgebremst. Die Plattform mit der Metallbefestigung spickt vollständig vom straffen Stahlseil weg und landet krachend auf dem harten Boden. Jasmin und Henrik mit seinem Sack fliegen in hohem Bogen von der Gondel-Plattform und landen in einem stinkenden Abfallhaufen aus alten Kleidungsstücken, der ihren Sturz beinahe sanft abfängt. Sie hatten Glück, denn beide junge Menschen bleiben unverletzt. Die drei Ventilatoren ganz unten in der Kuppelwand verstummen erneut. Die unregelmässigen Belüftungsphasen für die Bewohner in Luminaris sind für heute beendet. Erst morgen ist es wieder möglich, dass erneut frische Luft in diese Stadt geblasen wird. Mehr als drei Belüftungsphasen gibt es pro Tag nie, weiß Jasmin.