Marcel und die Frau aus der Ferne

„Ja", sagte sie so leise, dass er es kaum verstand. „Ich will dich so sehr."
Marcel zog sie an sich. „Mein Liebling ..."
Er wachte auf. Es war nur ein Traum gewesen, in dem er die Frau, die er tagsüber von ferne anbetete und nachts begehrte, in den Armen hielt.
Vor einem Monat war ein ihm bis dahin unbekanntes Ehepaar in eine Wohnung im gegenüberliegenden Mietshaus eingezogen. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, Marcels Wohnung lag ein Stockwerk höher. Den Einzug hatte er mitbekommen, da er an dem Tag frei hatte und es ihm Spaß gemacht hatte, von seinem Fenster aus durch sein Fernrohr zuzusehen. Dabei hatte er herausgefunden, dass er genau in die Küche des Paares schauen konnte. Das Fernrohr hatte er sich vor längerer Zeit gekauft, um in der Natur Vögel zu beobachten. Marcel liebte Vögel.

Am Tag nach dem Einzug des Paares studierte Marcel auf dem Weg zur Arbeit das neue Klingelschild am Haus gegenüber. „Bischoff Raimund und Sophie" las er. Offensichtlich ein Ehepaar. Er wollte gerade weitergehen, als sich die Tür öffnete und die neue Nachbarin heraustrat.
„Guten Morgen", grüßte sie freundlich. „Wollten Sie zu uns?"
Marcel schüttelte den Kopf. „Nein, ein Freund von mir wohnt hier. Scheint aber nicht da zu sein." Die Lüge kam ihm mühelos über die Lippen. Auf Kommando Ausreden zu erfinden, war ihm schon immer leicht gefallen. „,Ich wohne gegenüber", fügte er hinzu.
„Oh." Die Frau kam ein paar Schritte auf ihn zu, lächelte und streckte die Hand aus. „Bischoff. Wir sind gestern hier eingezogen."
„Freut mich." Marcel schüttelte die ausgestreckte, angenehm kühle Hand. „Klein. Marcel Klein." Er ließ ihre Hand mit leisem Bedauern wieder los. „Ja, ich muss dann weiter zur Arbeit. Schönen Tag noch."
„Ihnen auch", erwiderte sie.

Auf der Arbeit - Marcel arbeitete als Museumsmitarbeiter im Museum der Stadt und verkaufte hauptsächlich Eintrittskarten - musste er unablässig an sie denken. Warum, wusste er selbst nicht. Sicher, sie war hübsch mit ihren langen blonden Haaren, blauen Augen und der schlanken Statur, außerdem jung, höchstens 30 Jahre alt, schätzte er. Also jünger als er selbst und auf jeden Fall viel jünger als ihr Mann. Raimund schätzte er auf fast 50. Marcel war im Februar 45 Jahre alt geworden. Aber das waren alles keine logischen Gründe, und haben konnte er sie sowieso nicht. Sie war verheiratet und er von vorneherein chancenlos. Ihm blieb nur, sie aus der Ferne zu bewundern.
Vier Wochen vergingen. Er traf Sophie nicht noch einmal vor dem Haus. Statt dessen blickte er ab und zu durch das Fernrohr in ihre Küche, so auch an diesem Sonntag, an dem er ausnahmsweise frei hatte. Meistens wollten die Kollegen, die Familie hatten, sonntags ihre Schicht mit ihm tauschen. An diesem Sonntag war das nicht der Fall gewesen.
Es gab in der Küche der Bischoffs nichts Spektakuläres zu sehen. Sophie stand an der Kaffeemaschine. Raimund saß am schön gedeckten Esstisch, eine halb aufgeschlagene Zeitung neben sich. Aber die Szene hatte etwas, was ein Zeichner vielleicht einfangen könnte: Sophies gesenkten Blick vor der Kaffeemaschine. Raimund, der sich mehr für die Zeitung interessierte als für seine Frau. Das gemeinsame Frühstück täuschte nicht darüber hinweg, dass die Ehe der beiden an einem Tiefpunkt angelangt war. Marcel war überzeugt, dass die Szene so zu deuten war.
Er ließ das Fernrohr sinken. Traurig, dass Sophie ein solch freudloses Leben führen musste. Vielleicht könnte man sie davon erlösen, überlegte er. Er dachte den ganzen Tag darüber nach, während er, wie meistens sonntags, zur Vogelbeobachtung mit seinem Fernrohr im Wald unterwegs war. Richtig bei der Sache war er nicht. Wahrscheinlich deswegen stolperte er über einen Ast und fiel der Länge nach hin. Während er sich wieder aufrappelte, spürte er einen stechenden Schmerz im Fuß. Stöhnend humpelte er zur Bushaltestelle an der Straße und fuhr mit dem nächsten Bus in die Notaufnahme.
„Das ist nur eine Prellung", sagte der Arzt, der ihn versorgte. „Sie haben Glück gehabt, nichts gebrochen. Aber Sie müssen den Fuß ein paar Tage lang ruhigstellen. Ich verschreibe Ihnen Schmerzmittel."

So kam es, dass Marcel eine ganze Woche lang zu Hause bleiben musste. Da er ein Eigenbrötler war und keine Freunde hatte, die ihn hätten besuchen können, langweilte er sich, benutzte sein Fernrohr immer öfter und führte Buch über seine Beobachtungen. Die ersten beiden Tage ergaben nichts Auffälliges bei den Bischoffs. Sophie arbeitete nicht, ging einkaufen und kochte das Mittagessen. Raimund kam zum Mittagessen nach Hause und verschwand dann wieder bis abends. Alles war wie in Millionen anderer Haushalte auch.
Bis zum dritten Tag. Raimund war nicht zu sehen. Sophie saß um elf Uhr im Morgenmantel in der Küche und frühstückte. Marcel schloss daraus, dass Raimund verreist sein müsste. Sonst wäre sie um diese Zeit damit beschäftigt gewesen, das Mittagessen vorzubereiten. Und angezogen gewesen.
Vielleicht war das jetzt seine Chance. Während er überlegte, wie er diese nutzen könnte, betrat ein ihm fremder Mann Sophies Küche, nackt bis auf ein Handtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Die nassen Haare trug er glatt zurückgekämmt. Es war nicht schwer zu erraten, dass er gerade aus der Dusche kam. Auch nicht, dass er im Alter von Sophie war und wesentlich jünger als Raimund. Marcel verschlug es den Atem. Was fiel Sophie ein, fremdzugehen? Was fiel ihr ein, ihm fremdzugehen? Sex mit Raimund war ihr erlaubt. Aber nicht mit einem dahergelaufenen Fremden.
Der nackte Fremde trat ans Küchenfenster und zog die Vorhänge zu. Dabei rutschte das Handtuch zu Boden. Marcel erhaschte gerade noch einen Blick auf sein bestes Stück, ehe er keinen Einblick mehr in die Küche hatte. Gut gebaut war der junge Mann. Grimmig biss Marcel die Lippen zusammen. So eine war Sophie also, absolut oberflächlich, versessen auf Sex. Eine Hure, wie sie im Buche stand. Und was hatte er sich Gedanken darüber gemacht, welch tristes Leben sie an Raimunds Seite führen musste. Er hatte sie davon erlösen wollen, er hätte ihr den Himmel zu Füßen gelegt und sie auf Händen getragen, wenn sie ihn gelassen hätte. Aber nein, ihn ließ sie schnöde abblitzen, ehe er ihr seine Liebe hatte gestehen können. Für ihn reichte ein lächerlicher Händedruck an ihrer Haustür. Ncht mal ihr Vorname war ihr bei der Vorstellung über die Lippen gekommen. Kurze Zeit später warf sie sich dem erstbesten Typen an den Hals. Was für ein durchtriebenes Stück.
Marcel spürte fast körperlich,wie seine Bewunderung und Liebe für Sophie in Verachtung und Wut umschlug. Das würde er ihr heimzahlen. Einen Weg würde er schon finden. Es Raimund erzählen? Viel zu harmlos.

In der Woche darauf ging er wieder zur Arbeit. Das Fernrohr hatte er zu Hause nicht mehr benutzt. Lieber hatte er sich die Zeit damit vertrieben, Rachepläne zu schmieden. Was war die angemessene Strafe für Sophie? Drei Wochen später stand sein Plan fest. Er würde sie unter einem Vorwand in seine Wohnung locken. Und dort würde er ihr zeigen, was es wirklich mit der Liebe auf sich hatte. Sie sollte um seine Liebe betteln. Vielleicht würde er sie dann gehen lassen - entweder nach Hause oder an einen Ort,von dem noch keiner zurückgekehrt war, um davon zu erzählen. Das kam ganz auf Sophie selbst an.
Er fing wieder an, das Fernrohr zu benutzen, diesmal für die Straße. Er achtete darauf, wann Sophie das Haus verließ und wann sie zurückkehrte und führte Buch darüber. An einem Montagmorgen zwei Wochen später wartete er vor ihrer Haustür auf sie - wie beim letzten Mal, als er ihr persönlich gegenüber gestanden hatte. Wieder studierte er das Klingelschild mit der Aufschrift „Bischoff Raimund und Sophie", als die Tür sich öffnete und Sophie heraustrat.
„Guten Morgen", grüßte sie, eine Spur reservierter als das letzte Mal, wie ihm schien. „Wollten Sie zu uns?" Es war exakt derselbe Text wie letztes Mal, als sie sich gesehen hatten. Wie die Wiederholung einer Szene. Aber er würde dafür sorgen, dass sie anders ausging als damals. Eigentlich hatte er sich jeden Schritt vorher überlegt. Mit kühler Überlegenheit hatte er sie in eine Falle locken wollen. Statt dessen überkam ihn nun die kalte Wut. Was bildete sich dieses Flittchen ein. Sie musste genau wissen, was er wollte, nachdem sie ihn hintergangen und seine Liebe verraten hatte. Blitzschnell trat er auf sie zu, presste ihr die linke Hand auf den Mund und drehte ihr mit der rechten ihren linken Arm auf den Rücken. Sie schnappte nach Luft und versuchte zu schreien.
„Keinen Mucks, sonst passiert was", flüsterte er und spürte im gleichen Moment etwas Kaltes im Rücken. Befremdet registrierte er, dass es sich um eine Waffe handeln musste.
„Hände hoch", sagte eine männliche Stimme. Marcel gehorchte, ließ Sophie los und erhob die Hände.
„Ist dir was passiert, Sophie?", fragte die gleiche Stimme.
Sophie schüttelte den Kopf.
„Ist das dieser Idiot von gegenüber?"
„Ja, das ist der Typ, der Raimund und mich mit dem Fernrohr ausspioniert hat, seitdem er das erste Mal hier vor der Tür war."
„Ruf die Verstärkung an."
„OK. Aber es ist nicht der, den wir eigentlich suchen."
„Schon klar, ist mir auch aufgefallen."
Verwirrt beobachtete Marcel, wie Sophie ein Handy aus der Manteltasche hervorholte und die Worte: „Hier ist Abteilung K, Deckname Bischoff. Bitte Verstärkung in die Kaiserstraße Nr. 5. Versuchter Überfall auf eine Polizistin" hineinsprach.
„Hände auf den Rücken!" Das war die männliche Stimme. Marcel brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er mit dem Befehl gemeint war. Er spürte, wie ihm Handschellen angelegt wurden.
„Sie kommen mit auf die Wache. Umdrehen."
Marcel blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl Folge zu leisten. Als er sich umdrehte, erstarrte er. Der Mann mit der Waffe - ein Polizist in Uniform - war niemand anderes als der nackte Fremde aus Sophies Küche. Wie hatte er so schnell hier sein können? War er bei Sophie eingezogen?
Die Verstärkung kam. Marcel wurde einem anderen Polizisten übergeben und zum Polizeiauto geführt. Zufällig schnappte er ein paar Worte auf, als der Polizist ihm behilflich war, in das Polizeiauto einzusteigen.
Über Funk sagte jemand etwas von einer verdeckten Ermittlung in der Kaiserstraße. Ein Fisch sei ins Netz gegangen. Mehr verstand Marcel nicht, denn das Funkgerät wurde sofort ausgeschaltet.

Er konnte einen letzten Blick aus dem fahrenden Auto auf Sophie werfen. Und beschloss, ihr aus dem Gefängnis einen Abschiedsbrief zu schreiben.
Sie hatte es geschafft, in seiner Achtung wieder zu steigen.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten