Dichter Erdling
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Aufnahme I: Konrad und Andreas in der Küche, 03. Dezember (die erste Kerze brennt)
„Was wird denn das, wenn’s fertig ist? Bist du jetzt unter die Keksbäcker gegangen?“, stänkert Andi. So richtig fies von oben herab, wie er das immer tut. Er schaut zu, wie sich Konrad abmüht, Teig auszurollen, was nicht klappen will. Die Masse auf dem Küchentisch zieht sich immer wieder zusammen, Teigreste kleben am Nudelholz.
„So ein Scheiß!“, flucht Konrad. Andreas ist natürlich keine Hilfe. Noch nie hat der Bruder ihm jemals bei irgendwas geholfen. Immer nur sich lustig machen über andere, das kann der Nichtsnutz. Martin umklammert das Nudelholz fester. Er hätte nicht schlecht Lust, es dem anderen übern Schädel zu ziehen. Brudermord wie in der Bibel, Konrad kann das langsam verstehen. Aber Konrad kann sich beherrschen, meistens.
„Sei ruhig, ich lese gerade die Beschreibungsanleitung!“ faucht er den Bruder an und besinnt sich darauf, nicht handgreiflich zu werden. Er schnappt sich das Kochbuch und tut so, als wäre der andere gar nicht da. Dieser Andi regt ihn schon wieder auf.
Wenn Konrad nervös oder wütend ist, bringt er beim Reden oft etwas durcheinander. Zum Beispiel sagt er dann „Beschreibungsanleitung“, wenn er eigentlich „Kochanleitung“ sagen will, etwas Geschriebenes vor Augen hat und an die wesensverwandte „Bedienungsanleitung“ denken muss. Gerne verwechselt Konrad auch einzelne Buchstaben oder Satzteile beim Sprechen – für den großen Bruder jedes Mal eine Riesengaudi. Andi findet Konrads Versprecher urkomisch und kriegt sich meist gar nicht mehr ein, wenn sich der Bruder mal wieder verhaspelt hat. Konrad macht ein solches Verhalten natürlich nur noch wütender und so ist das ein echter Teufelskreis.
„Beschreibungsanleitung“ wiederholt Andreas auch heute wie aufs Stichwort. Und nochmal: „Be-schrei-bungs-anleitung.“ Er betont die Silben extra, dazu hat er dieses großkotzige Grinsen aufgesetzt, das man ihm am liebsten mit einem kräftigen Wumms aus dem Gesicht wischen möchte.
Konrad tut es nicht, er reißt sich zusammen.
„Na sag schon, was machst du da?“ Andreas lässt nicht locker. Er könnte ja auch einfach aus der Küche rausgehen und Konrad in Ruhe werkeln lassen, aber er hat sich anders entschieden. So ein Idiot, denkt sich Konrad und spürt schon wieder die Wut in sich arbeiten.
„Zwiebelkuchen“ will er dem Scheißkerl entgegenschmettern, aber was aus seinem Mund rauskommt, ist bedauerlicherweise eine ähnliche, aber fürchterlich falsche Buchstabenfolge: „Kwiebelzuchen“.
Andi schmeißt sich weg vor Lachen.
Konrad zählt leise bis zehn.
Nein, er wird dem Bruder jetzt nicht töten. Das Nudelholz ist auch gar nicht geeignet für mörderische Absichten. Es bräuchte was Größeres, Gefährliches. Dort, das Messer. Aber nein, Konrad greift nicht danach.
„Haha, wie witzig“ sagt Konrad stattdessen so gespielt gleichgültig wie nur irgendwie möglich, mit dem Rücken zum Bruder. Er sieht Andreas nicht an, arbeitet weiter am Teig rum. Er schiebt nach: „Du könntest ja auch mal was tun und ein bisschen im Haushalt helfen“.
Zack, das hat gesessen. Außer Sprüche klopfen kommt nämlich nicht viel von Andi, das soll der faule Sack ruhig wissen. Mama weiß es auch, aber sie nimmt ihren Ältesten gern in Schutz.
„Soll ich vielleicht die Zwiebeln in Schneifen streiden?“ ulkt Andreas weiter und spielt damit auf ein andermal an, da sich Konrad auf diese Weise verhaspelt hatte. Konrad ignoriert auch diese Spitze meisterlich mit stoischem Großmut.
„Das kriegst du ja gar nicht hin, etwas gleichmäßig in Streifen zu schneiden“, entgegnet er fehlerfrei und nimmt dabei das Messer an sich. „Und jetzt lass mich in Ruhe weiterarbeiten. Bevor du gehst, wenn du schon nicht helfen kannst: Kannst du wenigstens das Kenster fippen? Ist stickig hier drin…“
Aufnahme II, Konrad und Andreas am Weihnachtsmarkt, 10. Dezember (die zweite Kerze brennt)
„So, jetzt können wir die Heuhaufen im Nadel suchen!“
Oh je, es kommen schon wieder verdrehte Worte aus Konrads Mund! Er meint ja nur, dass es nicht einfach wird, im Gewühl am Weihnachtsmarkt den verlorenen Handschuh wiederzufinden. Ein Geschenk für die Mutter soll auch her. Also auf, auf! Konrad hofft, dass der Bruder seinen Versprecher diesmal nicht mitgekriegt hat. Kann sein, dass er Glück haben könnte. Andreas macht keinen Mucks, als hätte er nichts gehört, er verzieht keine Miene.
Gemeinsam stürzen sich die Burschen ins Getümmel. Man diskutiert: Was für die Mutter? Einen Schal? Überteuerte Kerzen? Hier schau mal, Lagelnack, dazu eine Handcreme. Oder oh, Ohrringe, Bingo! Die Mutter steht auf Glitzerdinger. Aber was von dem Zeug würde ihr gefallen?
Andi ist nicht richtig bei der Sache. Nur mit einem Auge schaut er auf die ausgestellte Standware, mit dem anderen liest er irgendwelche Nachrichten auf seinem Handy, der elende Egoist.
„Hey du, ich frage dir eine Stelle!“ will Konrad die Aufmerksamkeit des Bruders auf die Ohrringe lenken. „Die silbernen Sterne oder die mit den Perlen?“ – aber Andi hat nur „frage dir eine Stelle“ gehört und klopft sich schon wieder auf die Schenkel.
Sogar die Marktstandlerin bringt er dazu, in sein hämisches Gelächter miteinzustimmen. „Haben Sie's mitgekriegt…?“ fängt er an. Ja, hat sie. Konrad lächelt verlegen. Nicht hier in aller Öffentlichkeit, denkt er sich, er will sich nicht streiten oder eine Rauferei mit diesem Depp anfangen. Er schluckt seinen Ärger runter, wie üblich.
„Ich rede auch oft Blödsinn“ sagt die Schmuckverkäuferin tröstend und versöhnlich, während Konrad die Ohrringe bezahlt, also wenigstens sie.
Später, als die Brüder beim Punschstand ihre Heißgetränke nippen - grad war es ein paar Minuten friedlich zwischen ihnen - fängt Andreas schon wieder an, ekelhaft zu werden. Es wäre ja zu schön gewesen, wenn er es hätte gut sein lassen, aber nein.
„Und, haben wir jetzt die Heuhaufen im Nadel gefunden?“ provoziert er sinnlos herum und kopfnickt grinsend hin zum wiederaufgetauchten Handschuh. „Und was ist mit dem Lagelnack? Holen wir noch den roten Lagelnack?“
Konrad seufzt nur noch. Hat er es also doch gehört vorhin. Was soll’s. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Einatmen, ausatmen.
Andreas ist fertig mit seinem Punsch und will sich grad den zweiten holen.
Ob Konrad hier eine Kleinigkeit essen will? Vielleicht einen Knwiebelzuchen? Hehe.
Konrad lehnt ab und tut so, als hätte der Bruder nichts weiter gesagt. Ganz ruhig und abgeklärt will er antworten. Er will sagen: „Nein, danke, ich esse nicht so gerne im Stehen“, aber herauskommt einmal mehr sowas Blödes wie: „Ich stehe nicht so gern im Essen.“
Na, da ist dann wieder was los! Gelächter, Erniedrigung, das volle Programm. Die pure Niedertracht.
So viele lustige Versprecher auf einmal, das müsste man ja fast schon aufschreiben, meint Andi, und glucks, prust, haha.
„Komm schon, das ist doch echt zum Schießen, das musst du doch zugeben!“
Mag sein, es liegt am Alkohol, aber Konrad spürt plötzlich eine rasende Hitze in sich aufsteigen. Nur einmal will er den Bruder so Kontra geben, damit er es sich für immer merkt. Damit er ein für alle Mal damit aufhört, andere niederzumachen. Konrad hält sich am Punschhäferl fest. Eingehend betrachtet er die darauf eingestanzte Szene. Verschneite Bäume, herrlich ruhige Winterlandschaft auf glattem, blauem Porzellan. Darin dampft Alkohol und Zucker. Er saugt das bittersüße Aroma von Orangen ein, zieht heiße Luft in die Nase hoch, fährt das weiße Muster nach. Lenk dich ab, Konrad, denk einfach an was anderes.
Dann bildet sich Andreas ein, er muss jetzt unbedingt die Gewürze aus seinem Apfelpunsch herausfischen. Man könnte sich ja dran verschlucken. Einfach so schmeißt er das klebrige Zeug auf den Stehtisch. Mehrere kleine Nelken und eine Zimtstange. Konrads neue graue Jacke bekommt auch was ab. Rück-sichts-los, findet Konrad. Er schimpft: „Die Stimmtzange hättest ruhig drin lassen können…“
Aufnahme III, Konrad und Andreas im Kinderzimmer, 17. Dezember (die dritte Kerze brennt)
„Aaauuuu! Du blöder Hund! Du hast mir den Zwinger eingefickt!“ jault Konrad. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zieht er die Hand aus der Schreibtischschublade, die der Bruder ohne Rücksicht auf Verluste zugeschmissen hat, weil sich das Gesuchte eben nicht darin befand.
Andreas ist nun nicht etwa zerknirscht, weil er Konrad körperlich verletzt hat, er verarscht ihn sogar jetzt noch. Aber wie!
„Zwinger eingefickt, Zwinger eingefickt – das ist ja das Lustigste EVER!“
Etwa zehn Minuten geht das so. Andreas wiehert vor Vergnügen und japst schon nach Luft, so köstlich amüsiert ihn dieser eine Satz. Witziger noch als das auffordernde „Komm, wir verpacken Mamas Geschenk im Zinderkimmer“ von vorhin. Fehlt grad noch, dass sich Andreas auf dem Boden kugelt. Oh je, darauf wird der Bruder vermutlich ewig herumreiten, soviel ist klar. Fäkalworte findet der infantile Andreas gleich doppelt und dreifach belustigend.
„Warte, das muss ich gleich in die Gruppe schreiben“, ruft er höhnisch und greift zu seinem Handy, damit es auch alle Welt erfährt, was Konrad wieder Lachhaftes gesagt hat.
„Hol einfach die Ohrringe her und pack die Schere ein!“ vertut sich Konrad erneut. Er ärgert sich über sich selbst, aber mehr noch über seinen hundsgemeinen Bruder.
Gut, dass die Schere nicht auffindbar ist, das wäre vielleicht schon nicht gut ausgegangen für den sich schüttelnden Andi. Der lacht aufs Neue ein Irrer und kriegt sich gar nicht mehr ein.
„Na, Konrad: Was packen wir jetzt ein? Die Ohrringe oder die Schere? Worüber, glaubst du, wird sich die Mama mehr freuen?“ Andreas demütigt seinen Bruder ausnehmend gern.
„Wo ist jetzt die vermaledeite Schere?“, fragt Konrad entnervt. „Jetzt such mir mal helfen!“
„Hahahaha“ und „Hihihihi“ ist alles, was von Andreas kommt.
Konrad ist müde, zum Glück für den Bruder. Als er sie findet, nimmt er die Schere wortlos an sich und schneidet bloß das Geschenkpapier zurecht. Es ist rotgrün kariert. Konrad versucht, exakt und gerade zu schneiden, immer durch durch die Karos, von Punkt zu Punkt, er arbeitet so konzentriert wie möglich.
„Halt einfach mal die Andn, Fressie!“ kommt ihm noch knurrend über die Lippen.
Andi johlt so ausgiebig, dass er Seitenstechen kriegt.
Aufnahme IV, Konrad und Andreas im Wohnzimmer, 24. Dezember (Kerzen am Baum)
„Klick!“ macht Mamas Handy.
So ein schönes Bild, wie ihre zwei Halbwüchsigen einträchtig unterm Weihnachtsbaum sitzen! Das gibt es nicht oft.
Ganz gerade ist er nicht, der Baum. Die Brüder hatten sich beim Aufstellen nicht einigen können, ob die Tanne eher nach rinks oder lechts neigt.
„Steibst du blehen, du dummes Ding!“ hat Konrad auch noch mit dem Bäumchen geschimpft, als es sich nicht auf Anhieb in den Christbaumständer einfügen wollte.
Aber nein, Zannentapfen sind keine am Baum, seltsam.
Andis Lachanfälle haben das Baumschmücken ordentlich in die Länge gezogen. Es war mal wieder alles ganz typisch.
Andi hält sich einfach für einen ganz kollen Terl, der niemals im Leben einen Fehler macht. Klugscheißer, verdammter.
Also ja, vielleicht sollte Konrad wirklich mit dem Bick-Koxen anfangen. Dann könnte er allen, die ihm blöd kommen, schön die Fresse polieren. Mit „Bick-Koxen“, haha, hihihi, aber noch hat Konrad keinen Kampfsport erlernt, so lacht Andi munter weiter.
Kickboxen: Kostet 20 Stunden in der Euro. Haha.
Vielleicht wird Konrad ja noch ein Hochsportungsleister, hihi - und immer so weiter.
Andreas‘ Weihnachtsgeschenk für Konrad ist es offenbar, ihm an seine diversen Versprecher der letzten Jahre unter die Nase zu reiben, Konrads verwurstelte Sätze hier, im Lichterglanz des Christbaums breitzutreten. Aus reiner Bosheit. Schweinehund!
„So, jetzt ist aber Schluss“, greift irgendwann Mama ein.
Bescherung ist angesagt.
Die sternförmigen Ohrringe, die Andreas ausgesucht hat, findet die Mutter freilich entzückend.
Konrad hat ihr außerdem ein Weihnachtsalbum gemacht. Mit vielen Aufnahmen rund ums Dezemberthema. Da: Andreas und Konrad beim Punschtrinken, Andreas und Konrad beim Geschenkeeinpacken und so fort. Sogar ein Foto vom Zwiebelkuchen-Tag ist drin. Konrad hat es geduldet, dass sich Andi mit aufs Bild schummelt, obwohl er eigentlich so gar nichts dazu beigetragen hatte, dass da am Ende des Tages eine essbare Mahlzeit auf dem Tisch stand.
Das Fotoalbum kommt hammermäßig gut an. Mama ist mehr als gerührt.
Konrads größtes Geschenk ist derweil länglich und schwer. Er ahnt, er weiß, was drinnen ist; er hatte es sich ja ausdrücklich gewünscht. War bestimmt nicht einfach, das Teil in goldgewirktes Geschenkpapier einzuwickeln. Mama hat sich echt Mühe gegeben, das sieht Konrad sofort. Andreas bemerkt sowas nicht. Achtlos reißt er seine Päckchen auf.
Hingegen Konrad tut ganz behutsam. Bedächtig sitzt er auf dem Boden mit dem riesigen Geschenk auf dem Schoß, löst Klebebandstreifen nach Klebebandstreifen, bis er den mächtigen Baseballschläger aus seinem Festtagsgewand gelöst hat.
„Manke, Mama!“ offenbart er seinen Dank aus tiefstem Herzen, spontan und mal wieder ohne nachzudenken.
„Ja, Manke, Mama“ echot sogleich Andreas, der schon automatisch hellhörig wird bei jedem Buchstabendreher des Bruders.
Er legt noch eins drauf: „Ja, wirklich: Manke, Mama. Manke für alles. So schön, dieses Weihnachten! Da schießen mir gleich die Augen in die Tränen! Ja, genau: ‚Augen in die Tränen‘, du weißt schon, hahaha!“ Schon wieder prustet er los.
Mama kann sich ebenfalls nicht ganz beherrschen. Auch ihr entfleucht der eine oder andere Lachlaut.
Konrad zählt seine Zahlen. Er zählt rauf, zählt runter, allein, es hilft nicht. Wirklich schießen ihm jetzt die Tränen in die Augen – vor Empörung. Zorn! Rasend, kalt.
Noch nicht mal am Heiligen Abend kann sich das Arschloch mal kurz zusammenreißen! Was sich alle immer erlauben, nur weil er, Konrad… Wieso soll immer er derjenige sein, der nur einstecken muss?!
Wutentbrannt springt Konrad auf.
„Ich steche dich auf und schlitze dich ab!“ droht er dem Bruder jäh mit dem blankesten Hass in der Stimme, den er ebenda finden kann. Er schwört, er würde es tun, jetzt sofort, wirklich tun, hätte er nur in diesem Moment ein Werkzeug zum Aufschlitzen oder Abstechen bei der Hand!
Indes scheint die Drohung bei seinem Gegenüber so gar nicht zu wirken.
Andreas steht auch weiterhin nur strunzdumm da und krümmt und schüttelt sich jetzt erst recht vor bösartigem Vergnügen. Kichernd dreht er sich um zur Mutter und feixt: „Hast du gehört? Er sticht mich auf und schlitzt mich ab!“
Die Mutter lächelt nun schon nervöser, sie hat kein gutes Gefühl mehr. Dann erstirbt das Lachen auf ihren Lippen endgültig, denn sie sieht es zuerst. Sie sieht es kommen, Sekundenbruchteile vor ihm, dem geliebten, erstgeborenen Sohn.
Dieser dreht seinen fiesen kleinen Kopf grad wieder nach vorn, um mit dem Finger auf Konrad zu zeigen. Der nigelnagelneue Baseballschläger, der mit Schmackes auf ihn herniedersaust, ist das Letzte, was der Mistkerl sehen soll.
„Was wird denn das, wenn’s fertig ist? Bist du jetzt unter die Keksbäcker gegangen?“, stänkert Andi. So richtig fies von oben herab, wie er das immer tut. Er schaut zu, wie sich Konrad abmüht, Teig auszurollen, was nicht klappen will. Die Masse auf dem Küchentisch zieht sich immer wieder zusammen, Teigreste kleben am Nudelholz.
„So ein Scheiß!“, flucht Konrad. Andreas ist natürlich keine Hilfe. Noch nie hat der Bruder ihm jemals bei irgendwas geholfen. Immer nur sich lustig machen über andere, das kann der Nichtsnutz. Martin umklammert das Nudelholz fester. Er hätte nicht schlecht Lust, es dem anderen übern Schädel zu ziehen. Brudermord wie in der Bibel, Konrad kann das langsam verstehen. Aber Konrad kann sich beherrschen, meistens.
„Sei ruhig, ich lese gerade die Beschreibungsanleitung!“ faucht er den Bruder an und besinnt sich darauf, nicht handgreiflich zu werden. Er schnappt sich das Kochbuch und tut so, als wäre der andere gar nicht da. Dieser Andi regt ihn schon wieder auf.
Wenn Konrad nervös oder wütend ist, bringt er beim Reden oft etwas durcheinander. Zum Beispiel sagt er dann „Beschreibungsanleitung“, wenn er eigentlich „Kochanleitung“ sagen will, etwas Geschriebenes vor Augen hat und an die wesensverwandte „Bedienungsanleitung“ denken muss. Gerne verwechselt Konrad auch einzelne Buchstaben oder Satzteile beim Sprechen – für den großen Bruder jedes Mal eine Riesengaudi. Andi findet Konrads Versprecher urkomisch und kriegt sich meist gar nicht mehr ein, wenn sich der Bruder mal wieder verhaspelt hat. Konrad macht ein solches Verhalten natürlich nur noch wütender und so ist das ein echter Teufelskreis.
„Beschreibungsanleitung“ wiederholt Andreas auch heute wie aufs Stichwort. Und nochmal: „Be-schrei-bungs-anleitung.“ Er betont die Silben extra, dazu hat er dieses großkotzige Grinsen aufgesetzt, das man ihm am liebsten mit einem kräftigen Wumms aus dem Gesicht wischen möchte.
Konrad tut es nicht, er reißt sich zusammen.
„Na sag schon, was machst du da?“ Andreas lässt nicht locker. Er könnte ja auch einfach aus der Küche rausgehen und Konrad in Ruhe werkeln lassen, aber er hat sich anders entschieden. So ein Idiot, denkt sich Konrad und spürt schon wieder die Wut in sich arbeiten.
„Zwiebelkuchen“ will er dem Scheißkerl entgegenschmettern, aber was aus seinem Mund rauskommt, ist bedauerlicherweise eine ähnliche, aber fürchterlich falsche Buchstabenfolge: „Kwiebelzuchen“.
Andi schmeißt sich weg vor Lachen.
Konrad zählt leise bis zehn.
Nein, er wird dem Bruder jetzt nicht töten. Das Nudelholz ist auch gar nicht geeignet für mörderische Absichten. Es bräuchte was Größeres, Gefährliches. Dort, das Messer. Aber nein, Konrad greift nicht danach.
„Haha, wie witzig“ sagt Konrad stattdessen so gespielt gleichgültig wie nur irgendwie möglich, mit dem Rücken zum Bruder. Er sieht Andreas nicht an, arbeitet weiter am Teig rum. Er schiebt nach: „Du könntest ja auch mal was tun und ein bisschen im Haushalt helfen“.
Zack, das hat gesessen. Außer Sprüche klopfen kommt nämlich nicht viel von Andi, das soll der faule Sack ruhig wissen. Mama weiß es auch, aber sie nimmt ihren Ältesten gern in Schutz.
„Soll ich vielleicht die Zwiebeln in Schneifen streiden?“ ulkt Andreas weiter und spielt damit auf ein andermal an, da sich Konrad auf diese Weise verhaspelt hatte. Konrad ignoriert auch diese Spitze meisterlich mit stoischem Großmut.
„Das kriegst du ja gar nicht hin, etwas gleichmäßig in Streifen zu schneiden“, entgegnet er fehlerfrei und nimmt dabei das Messer an sich. „Und jetzt lass mich in Ruhe weiterarbeiten. Bevor du gehst, wenn du schon nicht helfen kannst: Kannst du wenigstens das Kenster fippen? Ist stickig hier drin…“
Aufnahme II, Konrad und Andreas am Weihnachtsmarkt, 10. Dezember (die zweite Kerze brennt)
„So, jetzt können wir die Heuhaufen im Nadel suchen!“
Oh je, es kommen schon wieder verdrehte Worte aus Konrads Mund! Er meint ja nur, dass es nicht einfach wird, im Gewühl am Weihnachtsmarkt den verlorenen Handschuh wiederzufinden. Ein Geschenk für die Mutter soll auch her. Also auf, auf! Konrad hofft, dass der Bruder seinen Versprecher diesmal nicht mitgekriegt hat. Kann sein, dass er Glück haben könnte. Andreas macht keinen Mucks, als hätte er nichts gehört, er verzieht keine Miene.
Gemeinsam stürzen sich die Burschen ins Getümmel. Man diskutiert: Was für die Mutter? Einen Schal? Überteuerte Kerzen? Hier schau mal, Lagelnack, dazu eine Handcreme. Oder oh, Ohrringe, Bingo! Die Mutter steht auf Glitzerdinger. Aber was von dem Zeug würde ihr gefallen?
Andi ist nicht richtig bei der Sache. Nur mit einem Auge schaut er auf die ausgestellte Standware, mit dem anderen liest er irgendwelche Nachrichten auf seinem Handy, der elende Egoist.
„Hey du, ich frage dir eine Stelle!“ will Konrad die Aufmerksamkeit des Bruders auf die Ohrringe lenken. „Die silbernen Sterne oder die mit den Perlen?“ – aber Andi hat nur „frage dir eine Stelle“ gehört und klopft sich schon wieder auf die Schenkel.
Sogar die Marktstandlerin bringt er dazu, in sein hämisches Gelächter miteinzustimmen. „Haben Sie's mitgekriegt…?“ fängt er an. Ja, hat sie. Konrad lächelt verlegen. Nicht hier in aller Öffentlichkeit, denkt er sich, er will sich nicht streiten oder eine Rauferei mit diesem Depp anfangen. Er schluckt seinen Ärger runter, wie üblich.
„Ich rede auch oft Blödsinn“ sagt die Schmuckverkäuferin tröstend und versöhnlich, während Konrad die Ohrringe bezahlt, also wenigstens sie.
Später, als die Brüder beim Punschstand ihre Heißgetränke nippen - grad war es ein paar Minuten friedlich zwischen ihnen - fängt Andreas schon wieder an, ekelhaft zu werden. Es wäre ja zu schön gewesen, wenn er es hätte gut sein lassen, aber nein.
„Und, haben wir jetzt die Heuhaufen im Nadel gefunden?“ provoziert er sinnlos herum und kopfnickt grinsend hin zum wiederaufgetauchten Handschuh. „Und was ist mit dem Lagelnack? Holen wir noch den roten Lagelnack?“
Konrad seufzt nur noch. Hat er es also doch gehört vorhin. Was soll’s. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Einatmen, ausatmen.
Andreas ist fertig mit seinem Punsch und will sich grad den zweiten holen.
Ob Konrad hier eine Kleinigkeit essen will? Vielleicht einen Knwiebelzuchen? Hehe.
Konrad lehnt ab und tut so, als hätte der Bruder nichts weiter gesagt. Ganz ruhig und abgeklärt will er antworten. Er will sagen: „Nein, danke, ich esse nicht so gerne im Stehen“, aber herauskommt einmal mehr sowas Blödes wie: „Ich stehe nicht so gern im Essen.“
Na, da ist dann wieder was los! Gelächter, Erniedrigung, das volle Programm. Die pure Niedertracht.
So viele lustige Versprecher auf einmal, das müsste man ja fast schon aufschreiben, meint Andi, und glucks, prust, haha.
„Komm schon, das ist doch echt zum Schießen, das musst du doch zugeben!“
Mag sein, es liegt am Alkohol, aber Konrad spürt plötzlich eine rasende Hitze in sich aufsteigen. Nur einmal will er den Bruder so Kontra geben, damit er es sich für immer merkt. Damit er ein für alle Mal damit aufhört, andere niederzumachen. Konrad hält sich am Punschhäferl fest. Eingehend betrachtet er die darauf eingestanzte Szene. Verschneite Bäume, herrlich ruhige Winterlandschaft auf glattem, blauem Porzellan. Darin dampft Alkohol und Zucker. Er saugt das bittersüße Aroma von Orangen ein, zieht heiße Luft in die Nase hoch, fährt das weiße Muster nach. Lenk dich ab, Konrad, denk einfach an was anderes.
Dann bildet sich Andreas ein, er muss jetzt unbedingt die Gewürze aus seinem Apfelpunsch herausfischen. Man könnte sich ja dran verschlucken. Einfach so schmeißt er das klebrige Zeug auf den Stehtisch. Mehrere kleine Nelken und eine Zimtstange. Konrads neue graue Jacke bekommt auch was ab. Rück-sichts-los, findet Konrad. Er schimpft: „Die Stimmtzange hättest ruhig drin lassen können…“
Aufnahme III, Konrad und Andreas im Kinderzimmer, 17. Dezember (die dritte Kerze brennt)
„Aaauuuu! Du blöder Hund! Du hast mir den Zwinger eingefickt!“ jault Konrad. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zieht er die Hand aus der Schreibtischschublade, die der Bruder ohne Rücksicht auf Verluste zugeschmissen hat, weil sich das Gesuchte eben nicht darin befand.
Andreas ist nun nicht etwa zerknirscht, weil er Konrad körperlich verletzt hat, er verarscht ihn sogar jetzt noch. Aber wie!
„Zwinger eingefickt, Zwinger eingefickt – das ist ja das Lustigste EVER!“
Etwa zehn Minuten geht das so. Andreas wiehert vor Vergnügen und japst schon nach Luft, so köstlich amüsiert ihn dieser eine Satz. Witziger noch als das auffordernde „Komm, wir verpacken Mamas Geschenk im Zinderkimmer“ von vorhin. Fehlt grad noch, dass sich Andreas auf dem Boden kugelt. Oh je, darauf wird der Bruder vermutlich ewig herumreiten, soviel ist klar. Fäkalworte findet der infantile Andreas gleich doppelt und dreifach belustigend.
„Warte, das muss ich gleich in die Gruppe schreiben“, ruft er höhnisch und greift zu seinem Handy, damit es auch alle Welt erfährt, was Konrad wieder Lachhaftes gesagt hat.
„Hol einfach die Ohrringe her und pack die Schere ein!“ vertut sich Konrad erneut. Er ärgert sich über sich selbst, aber mehr noch über seinen hundsgemeinen Bruder.
Gut, dass die Schere nicht auffindbar ist, das wäre vielleicht schon nicht gut ausgegangen für den sich schüttelnden Andi. Der lacht aufs Neue ein Irrer und kriegt sich gar nicht mehr ein.
„Na, Konrad: Was packen wir jetzt ein? Die Ohrringe oder die Schere? Worüber, glaubst du, wird sich die Mama mehr freuen?“ Andreas demütigt seinen Bruder ausnehmend gern.
„Wo ist jetzt die vermaledeite Schere?“, fragt Konrad entnervt. „Jetzt such mir mal helfen!“
„Hahahaha“ und „Hihihihi“ ist alles, was von Andreas kommt.
Konrad ist müde, zum Glück für den Bruder. Als er sie findet, nimmt er die Schere wortlos an sich und schneidet bloß das Geschenkpapier zurecht. Es ist rotgrün kariert. Konrad versucht, exakt und gerade zu schneiden, immer durch durch die Karos, von Punkt zu Punkt, er arbeitet so konzentriert wie möglich.
„Halt einfach mal die Andn, Fressie!“ kommt ihm noch knurrend über die Lippen.
Andi johlt so ausgiebig, dass er Seitenstechen kriegt.
Aufnahme IV, Konrad und Andreas im Wohnzimmer, 24. Dezember (Kerzen am Baum)
„Klick!“ macht Mamas Handy.
So ein schönes Bild, wie ihre zwei Halbwüchsigen einträchtig unterm Weihnachtsbaum sitzen! Das gibt es nicht oft.
Ganz gerade ist er nicht, der Baum. Die Brüder hatten sich beim Aufstellen nicht einigen können, ob die Tanne eher nach rinks oder lechts neigt.
„Steibst du blehen, du dummes Ding!“ hat Konrad auch noch mit dem Bäumchen geschimpft, als es sich nicht auf Anhieb in den Christbaumständer einfügen wollte.
Aber nein, Zannentapfen sind keine am Baum, seltsam.
Andis Lachanfälle haben das Baumschmücken ordentlich in die Länge gezogen. Es war mal wieder alles ganz typisch.
Andi hält sich einfach für einen ganz kollen Terl, der niemals im Leben einen Fehler macht. Klugscheißer, verdammter.
Also ja, vielleicht sollte Konrad wirklich mit dem Bick-Koxen anfangen. Dann könnte er allen, die ihm blöd kommen, schön die Fresse polieren. Mit „Bick-Koxen“, haha, hihihi, aber noch hat Konrad keinen Kampfsport erlernt, so lacht Andi munter weiter.
Kickboxen: Kostet 20 Stunden in der Euro. Haha.
Vielleicht wird Konrad ja noch ein Hochsportungsleister, hihi - und immer so weiter.
Andreas‘ Weihnachtsgeschenk für Konrad ist es offenbar, ihm an seine diversen Versprecher der letzten Jahre unter die Nase zu reiben, Konrads verwurstelte Sätze hier, im Lichterglanz des Christbaums breitzutreten. Aus reiner Bosheit. Schweinehund!
„So, jetzt ist aber Schluss“, greift irgendwann Mama ein.
Bescherung ist angesagt.
Die sternförmigen Ohrringe, die Andreas ausgesucht hat, findet die Mutter freilich entzückend.
Konrad hat ihr außerdem ein Weihnachtsalbum gemacht. Mit vielen Aufnahmen rund ums Dezemberthema. Da: Andreas und Konrad beim Punschtrinken, Andreas und Konrad beim Geschenkeeinpacken und so fort. Sogar ein Foto vom Zwiebelkuchen-Tag ist drin. Konrad hat es geduldet, dass sich Andi mit aufs Bild schummelt, obwohl er eigentlich so gar nichts dazu beigetragen hatte, dass da am Ende des Tages eine essbare Mahlzeit auf dem Tisch stand.
Das Fotoalbum kommt hammermäßig gut an. Mama ist mehr als gerührt.
Konrads größtes Geschenk ist derweil länglich und schwer. Er ahnt, er weiß, was drinnen ist; er hatte es sich ja ausdrücklich gewünscht. War bestimmt nicht einfach, das Teil in goldgewirktes Geschenkpapier einzuwickeln. Mama hat sich echt Mühe gegeben, das sieht Konrad sofort. Andreas bemerkt sowas nicht. Achtlos reißt er seine Päckchen auf.
Hingegen Konrad tut ganz behutsam. Bedächtig sitzt er auf dem Boden mit dem riesigen Geschenk auf dem Schoß, löst Klebebandstreifen nach Klebebandstreifen, bis er den mächtigen Baseballschläger aus seinem Festtagsgewand gelöst hat.
„Manke, Mama!“ offenbart er seinen Dank aus tiefstem Herzen, spontan und mal wieder ohne nachzudenken.
„Ja, Manke, Mama“ echot sogleich Andreas, der schon automatisch hellhörig wird bei jedem Buchstabendreher des Bruders.
Er legt noch eins drauf: „Ja, wirklich: Manke, Mama. Manke für alles. So schön, dieses Weihnachten! Da schießen mir gleich die Augen in die Tränen! Ja, genau: ‚Augen in die Tränen‘, du weißt schon, hahaha!“ Schon wieder prustet er los.
Mama kann sich ebenfalls nicht ganz beherrschen. Auch ihr entfleucht der eine oder andere Lachlaut.
Konrad zählt seine Zahlen. Er zählt rauf, zählt runter, allein, es hilft nicht. Wirklich schießen ihm jetzt die Tränen in die Augen – vor Empörung. Zorn! Rasend, kalt.
Noch nicht mal am Heiligen Abend kann sich das Arschloch mal kurz zusammenreißen! Was sich alle immer erlauben, nur weil er, Konrad… Wieso soll immer er derjenige sein, der nur einstecken muss?!
Wutentbrannt springt Konrad auf.
„Ich steche dich auf und schlitze dich ab!“ droht er dem Bruder jäh mit dem blankesten Hass in der Stimme, den er ebenda finden kann. Er schwört, er würde es tun, jetzt sofort, wirklich tun, hätte er nur in diesem Moment ein Werkzeug zum Aufschlitzen oder Abstechen bei der Hand!
Indes scheint die Drohung bei seinem Gegenüber so gar nicht zu wirken.
Andreas steht auch weiterhin nur strunzdumm da und krümmt und schüttelt sich jetzt erst recht vor bösartigem Vergnügen. Kichernd dreht er sich um zur Mutter und feixt: „Hast du gehört? Er sticht mich auf und schlitzt mich ab!“
Die Mutter lächelt nun schon nervöser, sie hat kein gutes Gefühl mehr. Dann erstirbt das Lachen auf ihren Lippen endgültig, denn sie sieht es zuerst. Sie sieht es kommen, Sekundenbruchteile vor ihm, dem geliebten, erstgeborenen Sohn.
Dieser dreht seinen fiesen kleinen Kopf grad wieder nach vorn, um mit dem Finger auf Konrad zu zeigen. Der nigelnagelneue Baseballschläger, der mit Schmackes auf ihn herniedersaust, ist das Letzte, was der Mistkerl sehen soll.