Mein Freund Gerd

Marc Hecht1

Mitglied
Wir haben uns nach diesem Abend nie wieder gesehen. Sechs Wochen später war Gerd tot. Ein Anfall - und das Spiel war aus.
Die Erinnerung an unser letztes Treffen trieb mich um. Und ich schrieb sie damals auf.



Gerd war in die Stadt gekommen. Unangemeldet, plötzlich war er da. Ich saß in meinem Büro, im Schein der Leselampe, es war spät. Nur der Verkehr von der Klingelhöferstraße drang leise herauf. Und da klingelte das Handy.
Gerd war am Anhalter Bahnhof. Er hätte so viel über diesen Bahnhof gelesen, in alten Romanen, aber jetzt hätte er festgestellt, dass es ja ein vollkommen unerheblicher und gewöhnlicher Bahnhof in Berlin wäre. In dem noch nicht einmal Fernzüge eingingen. Und ob wir uns nicht treffen wollten, kurzfristig. Auf ein Bier.
Ich freute mich sehr. Allzu unverhofft war das. In dieser stillen und nüchternen Umgebung. Mein Büro war damals in einer Parteizeentrale und es ging um Politik. Um das Verkaufen von Politik, ich feilte damals an Slogans herum und war schwer beschäftigt damit.
Doch Gerd überrumpelte mich: »Weißt du was? Ich komme direkt mal vorbei! Ich besuch' dich, jetzt gleich! Das wär doch mal ne Sache! Dann kannst du mir doch alles mal zeigen!«
Ich bekam einen Schreck. Allein die Vorstellung, meinen dicken Freund Gerd dort unten durch die strengen Schleusen, die Wachmänner und die Damen am Empfang zu bekommen, machte mir Angst. Sie waren recht streng im Parteihaus. Es gab Besucherscheine und man bekam Chips für die Durchgangsschleusen und für die Fahrstühle.
Aber gut. Warum nicht, überlegte ich schließlich. Die Freude überwog. Warum sollte ich meinem alten Freund Gerd nicht mein Büro im Parteihaus zeigen? Gerd war schließlich kein Taliban! Wenn ich schon mal so ein Büro hatte? So ein Büro hat man ja nicht alle Tage. Ich begann, Gefallen an diesem Gedanken zu finden.
»Ok, komm’ vorbei«, sagte ich deshalb, ein wenig großspurig.
Gerd war beglückt. »Wenn ich vor der Tür stehe, rufe ich noch mal an«, erklärte er und beendete das Gespräch dann schnell.
Es war ganz einfach. Zu dieser späten Stunde saßen nur zwei Herren am Empfang. Beide blickten zwar streng, aber sie hatten mich schon häufiger den Eingang passieren sehen. Nicht nur allein, sondern auch in Begleitung der großen Vorsitzenden oder anderer wichtiger Leute. Mein Renommee reichte offenbar aus. Gerd musste nur einen Besucherschein unterschreiben. Und er tat es mit Genuss. Beugte sich in die Empfangsloge, setzte einen staatsmännischen Blick auf, betrachtete die beiden Wachmänner und das Formular, in einer ganz feinen Mischung aus leichter Gereiztheit, weil er eigentlich zu viel zu tun hätte, um hier alberne Zettel auszufüllen, und verständnisvoller Güte durch sein tiefes Wissen um die allgemeine Staatssicherheit. Lässig hatte er schließlich unterschrieben. Er gab den Mr. Oberwichtig.
Wir gingen dann durch die Halle der Parteizentrale – und er stieß mich in die Seite und feixte: »Haste gesehen? Wie das geflutscht ist?“ Dann sah er wieder auf, zeigte auf das Podium mit den Rednerpulten: »Ach? Von hier sprechen Sie immer? Zur Nation?« Behände war er aufs Podium gestiegen. Und ehe ich etwas sagen konnte, stand er auch schon an einem der Pulte.
»Komm da runter«, flüsterte ich. Es war zwar schon spät und die Halle war leer, aber irgendwelche wichtigen Leute waren natürlich auch jetzt noch in ihren Büros. Und es wäre nicht auszudenken, wenn sie uns hier so sähen.
Gerd jedoch machte keine Anstalten. Wie ein Feldherr stand er auf dem Podium, sprach er zu seinem Volk: »Und ich sage euch …!«
»Komm da runter, bist du verrückt«, flüsterte ich noch mal, doch Gerd hatte offenbar schon einen in der Krone, hatte wohl schon ordentlich getankt. Dick und schwer stand er auf dem Podium, gestikulierte: »Meine lieben Freundinnen und Freunde ...!«
Mit einem Satz war ich auch auf dem Podest und drängte Gerd weg, aber es war nicht so einfach, er kicherte und sprang noch einmal in die Höhe: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss …«, rief er, bevor ich ihn endlich von der Bühne herunter und den Aufzug hinauf in mein Büro bekam.
»Was sollte denn das?« Wütend war ich auf und ab gegangen im Büro. Aber Gerd beachtete das gar nicht.
»Weißt du, ich finde es einfach großartig, dass du hier arbeitest«, hatte er treuherzig erklärt.
Und ich wischte meinen Ärger schließlich weg, schlug ihm auf die Schulter – und freute mich einfach, dass er da war.
Es gab nur den einen Stuhl am Schreibtisch – und ich bat ihn, dort Platz zu nehmen, setzte mich selbst auf einen der Kartons an der Wand. Begeistert flegelte er sich hin, legte die Füße auf den Tisch und zog eine halb volle Flasche Wodka aus der Tasche.
»Keine Gläser?«
Ich verneinte.
»Tzztzztzz«, machte er. Und erklärte, dass er demnächst mal mit der großen Vorsitzenden reden müsse. Er nannte sie beim Vornamen und versprach mir, ihr gehörig den Kopf zu waschen. Damit hier endlich mal ein Kühlschrank und ein paar Gläser ins Büro kämen. Denn so sei es ja wohl kein Zustand, so könne man Deutschland ja beim besten Willen nicht regieren …
Ich nickte, amüsiert: »Mach das.“
Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche und reichte sie mir. Ich nahm die Flasche und beschloss, heute nicht mehr zu arbeiten.
Gerd sah auf den Schreibtisch, auf das viele Papier, nahm schließlich eines und las: »Der Etikettenschwindel mit der Ökosteuer gehört auf den Prüfstand. Denn statt mit der Ökosteuer die Umwelt zu schützen, setzt man die Erträge für die Finanzierung der Renten ein.« Verständnislos sah er auf: »So was schreibst du?«
»Nein. So was legen sie mir auf den Tisch. Und ich soll es dann flotter machen, eingängiger, verstehst du?«
Er nickte: »Sozusagen veredeln.«
»Genau.«
»Und? Ist dir schon was eingefallen?«

"Ja. Versprochen – gebrochen!«
»Ah«, er nickte, nahm ein anderes Blatt: »Mittelstand, Mittelstand, Mittelstand.« Wieder hob er fragend den Kopf: »Warum denn gleich dreimal hintereinander?
»Das soll die Sache verstärken. Nur einmal bringt es nichts.«
»Aah.«
Ich schlug schließlich vor, noch ein bisschen spazieren zu gehen, durch Berlin. Und Gerd nickte: Ja, lass uns mal raus. Ich brauche auch Bier.«
Der Abend war mild, die Luft war weich – und wir besorgten Bier, für Gerd auch noch eine Flasche Wodka – und dann spazierten wir die Klingelhöferstraße hinab auf die Siegessäule zu.
Gerd war beeindruckt. Er musste zugeben, dass er die Siegessäule bislang nur von Postkarten kannte – und so mächtig hätte er sie sich gar nicht vorgestellt. Bewundernd war er stehen geblieben, hatte auf den imposanten Kreisel um die Säule herum geblickt, dann auf die schnurgerade Allee, hinunter zum Brandenburger Tor. Schließlich auf Bismarcks Denkmal, umrahmt von Moltke und Roon – und hatte mich dann verzückt angesehen. »Das ist deutsche Geschichte!«, hatte er erklärt und war auf die Stufen zur Siegessäule gestiegen, um einen noch besseren Blick auf die eindrucksvolle Umgebung zu haben.
Ich stellte mich schließlich neben ihn und wir ließen das Panorama eine Weile auf uns wirken.
»Tja, Metropolis«, sagte Gerd, »die neue, alte Hauptstadt.«
Ich nickte.
Er blickte hinauf, zur Spitze der Säule. Auf die Aussichtsplattform. »Und da kann man hochsteigen?«, er hielt die Hand über die Augen, die vielen Laternen rund um uns her tauchten alles in ein weißes Licht.
»Da ist ein Netz gespannt«, erklärte Gerd, und deutete hinauf.
»Ich weiß«, sagte ich.
»So? Wohl, damit niemand hinunterspringt?«
»Genau.« Ich öffnete ein Bier, nahm einen Schluck von Gerds Wodka, ließ ihn warm hindurchströmen – die frische Luft, das unverhoffte Treffen, die Freude an meiner Arbeit, diese historische Umgebung, der Alkohol – alles zusammen brachte mich in eine angeregte Stimmung.
„Das Netz ist erst seit ein paar Jahren gespannt“, erklärte ich Gerd schließlich, »damals war eine Frau hinunter gesprungen.«
»Oje.« Gerd war augenblicklich entsetzt.
»Ja, sie war die Frau eines berühmten Schriftstellers. Eines Dissidenten.«
»Oh! Und die ist hier hinuntergesprungen? Warum?« Gerds Neugierde war sofort geweckt, er sah mich erwartungsvoll an.
»Sie hatten wohl einen Ehestreit. So genau weiß ich es nicht mehr, aber ich glaube, er wollte damals wohl mit seiner Geliebten auf Reisen gehen. Und sie ist dann hier hinab gesprungen.«
»Manmanman« Gerd nickte, »der Dissident hatte es wohl mit den Frauen?«
»Offensichtlich. Aber er war über ihren Selbstmord dann so schockiert, dass er selbst schwer krank wurde und ihr kein Jahr später hinterher starb. Er liegt auf dem Dorotheenstädischen Friedhof, weißt du, dort gehe ich manchmal hin. Da liegen auch Brecht und Hegel und ein paar andere.«
»Verstehe. Und der jetzt auch.«
»Genau.«
Wir schwiegen eine Weile.
Aber Gerds Gedanken kreisten offenbar noch um diese Geschichte. »Ein Dissident sagst du? Er hat also im Knast gesessen, im Osten?«
»Ja, weil er dieses Buch geschrieben hatte, wie es damals wirklich war, dafür haben sie ihm was angehängt, Geheimnisverrat, Landesverrat, irgend so was. Acht Jahre hat er damals gekriegt – aber schon nach einem Jahr wurde er in den Westen abgeschoben.«
Gerd blickte mich bewundernd von der Seite an: »Was du alles weißt …«
»Tja, hehe, ich weiß eben viel«, sagte ich, angeberisch, und genoss die laue Sommernacht mit Gerd an der Siegessäule. Wir prosteten, tranken, und Gerd sagte: »Von so einer Säule springen – nee, so würde ich es nicht machen.«
»Nein? Wie würdest du es denn machen?«, fragte ich.
Er sah mich an, belustigt, wie einen, der etwas schwer von Begriff ist, aber gütig und nachsichtig: »Wie ich es machen würde? Also bitte! Ich sauf mich langsam tot!« Und er lachte und prustete und konnte sich über seinen kleinen Witz gar nicht wieder einkriegen, ging dann umher, nahm Haltung an, in Richtung der Büste von Moltke: »Melde gehorsamst: totgesoffen!« Ich lachte schließlich mit.
»Jedenfalls, wenn ich es geschafft habe, trinkst du eine Flasche Whisky an meinem Grab!«, erklärte Gerd.
Ich nickte, nahm ebenfalls Haltung an: »Melde gehorsamst: Wird erledigt!«
Und wir feixten und lachten und tranken – und später waren wir ins Eckstein gefahren, hatten noch ein paar Bier getrunken – und Gerd lief zu ganz großer Form auf. Entwarf schließlich selbst ein paar Wahlkampf-Slogans. Betrunken, laut – und ziemlich derb: »Frei ficken für alle! Was hältst du davon?« Er prustete, sah sich beifallheischend um, gestikulierte und erging sich: »Wir von der Freifickerpartei stehen für freies Ficken – und zwar nicht nur auf dem Papier …«
Ich lachte und versicherte, dass sein Slogan ausgezeichnet wäre – aber er war schon weiter, war ganz groß in Stimmung an diesem Abend. Theatralisch hob er die Hände: »Regen, Schnee, SPD!«
Wieder prustete ich, der gesamte Abend war eine einzige Freude.
 



 
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