01.01.2010
Ich war definitiv betrunken.
Wir hatten auf unserem Weg durch die Stadt aber auch kaum ein Getränk ausgelassen. Schon am Nachmittag hatten wir uns auf den Weg gemacht. Streckenweise war die Stadt so unglaublich überfüllt, dass man sich vorkam wie in einer endlosen Anstellschlange. Polizisten versuchten, die Menschenmassen auf geordneten Bahnen durch die Metropole zu schieben. Unsere erste Station war der Clarke Quay. Hier tobte die Party in vielen Cafés, Bars, an großen Livebühnen und Biertheken. Eine Dose Tiger Bier folgte der nächsten, dazwischen ließen wir uns hier und da für einen Cocktail nieder. Später zogen wir weiter, über Brücken, durch Parks. Es gab gewaltige Feuerwerke. Und Rum, Champagner, Bier...
Zusammen mit meinen Eltern, meinem Onkel und Claudia stolperte ich aus dem Fahrstuhl. Hilflos auf jeweils einem Bein durcheinander hüpfend versuchten wir, uns die Schuhe aufzuschnüren. Als wir es alle erfolgreich in die Wohnung geschafft hatten, strömten wir in verschiedene Richtungen auseinander. Mein Vater ging auf den Balkon, um noch eine Pfeife zu rauchen, meine Mutter verschwand in die Küche, um für alle Baileys einzuschenken, und wir anderen drei suchten jeweils eine Toilette auf.
Ja, die Wohnung meiner Eltern hatte tatsächlich drei Badezimmer. Überhaupt war es kein schlechter Ort zum Leben. Der Blick vom Balkon, auf dem wir uns anschließend alle für einen Silvester-Ausklangs-Trunk versammelten, war einfach großartig. Vom dreizehnten Stockwerk aus blickten wir über das nächtliche Singapur. Die Innenstadt lag nur zwei Straßen entfernt und leuchtete trunken von den Partys in das neue Jahr. All die hohen Bauwerke verdeckten den Horizont, aber ich bildete mir ein, dass ich das Meer riechen konnte. Ich blickte auf das Märchenland herab, welches das Zuhause meiner Eltern war. Mama drückte mir ein neues Getränk in die Hand. Ich schaute auf und bemerkte erst jetzt, dass ich das erste Glas schon ausgetrunken hatte. Glückselig grinste ich in die Runde, und wir stießen an. Auf sieben Stunden Vorsprung! In Deutschland war das Jahr 2010 noch nicht angekommen.
Ich glaube, ich hatte nie zuvor in meinem Leben so viel Alkohol getrunken, ohne mich wenigstens ein wenig schlecht zu fühlen. Aber Tigerbier ist ja auch sehr verträglich. Nachdem wir alle ausgetrunken und uns eine gute Nacht gewünscht hatten, huschte ich noch kurz ins Bad, um meine Zähne zu putzen, und legte mich dann ins Bett. Ich teilte mir ein Zimmer mit Claudia. Eigentlich hatte sie das nicht gewollt.
Als meine Eltern nach Singapur gezogen waren, hatten viele meiner Freunde gesagt, sie würden mich gerne einmal begleiten, wenn ich zu Weihnachten und Silvester meinen Besuchsflug antreten würde. Claudia war die Einzige von diesen Freunden gewesen, die sich konkret darum bemüht hatte, tatsächlich mit zu fliegen. Allerdings hatte sie - wie schon so oft zuvor im Laufe unserer Bekanntschaft - unmissverständlich klargestellt, dass sie keinerlei weiterführendes Interesse an mir hatte, und insbesondere keine körperlichen Annäherungen dulden würde. Im September war ich in Wien gewesen, da hatten wir den Ausflug fertig geplant. Und wir hatten im Ronacher Theater eine Aufführung von "Tanz der Vampire" gesehen - ich habe noch immer eine Gänsehaut wenn ich daran denke. Claudia hatte mich eingeladen, ich weiß gar nicht mehr warum, und unsere Plätze waren ziemlich gut. Das Orchester-Intro alleine ließ mir Schauer über den Rücken laufen.
Jedenfalls hatte Claudia penibel auf die nötige Distanz geachtet. Ich war zu dem Zeitpunkt sogar schon etwas genervt davon, wie nachdrücklich sie ständig darauf hinwies, dass zwischen uns nie etwas sein würde. Man hat das Gefühl, einem würden permanent unlautere Absichten unterstellt. Während der Tage im Dezember, die ich direkt vor dem Abflug nach Singapur noch in Wien verbracht hatte, war ich dann allerdings von entsprechenden Hinweisen ihrerseits verschont geblieben. Ich hatte das erste Mal Nadines Grab besucht, und vermutlich merkte man mir deutlich an, dass ich ohnehin keine Gedanken an andere Frauen verschwendete. Im Gegensatz zu dem vorherigen Besuch hatte ich mich nicht im Büro der Firma einquartiert. Eigentlich wollte Claudia mich in ihrer neuen Wohnung in der Millenium-City aufnehmen, die war dann aber doch nicht rechtzeitig fertig geworden, so dass ich bei Dagi unterkam.
Inzwischen waren wir jedenfalls aus dem Schnee und der Trauer in Wien entkommen und unter der fernöstlichen Sonne angekommen. Das eigene Zimmer, welches ich Claudia in Aussicht gestellt hatte, konnte sie aber leider nicht kriegen. Zunächst wusste ich nicht, dass mein Onkel auch da sein würde, und dann war mir auch nicht klar gewesen, wie wichtig ihm ein eigenes Zimmer war. Zum Glück hatte sich Claudia nicht lange beschwert. Wir waren auch prima miteinander ausgekommen - eine gewisse Vertrautheit war uns nach all der Zeit ja auch nicht abzusprechen. Außerdem hatten wir bei vorherigen Gesprächen, die wir im Rahmen mehrere Spaziergänge durch schöne Ecken von Singapur geführt hatten, festgestellt, dass wir uns beide gerade in so einer Art Phase der Ablehnung befanden. Wir hatten beschlossen, uns künftig nur noch um uns selbst Gedanken zu machen, keinen potentiellen Partnern nachzujagen, sondern unser eigenes Leben auf die Reihe kriegen.
Ich lag also mit all diesen Gedanken im Bett. Das Tiger Bier schwappte in meinem Kopf umher und ich war mir, im Rückblick auf die letzten Tage und Monate, völlig sicher, dass ich in absehbarer Zeit keine Freundin und keinen Sex haben würde. Und ich fand das gut. Und insbesondere würde niemals irgendwas mit Claudia laufen, was ihr eine bedeutsame Sonderrolle in meinem Leben gab. Endlich war einmal etwas in meinem Leben völlig sicher.
In dem Moment kam sie aus dem Bad rüber in unser Schlafzimmer. Sie zog sich aus, zog aber nicht ihre Schlafsachen an, sondern krabbelte direkt ins Bett. Nicht auf ihrer Seite und nicht unter ihre Decke. Ich hatte nicht einmal Zeit, verwirrt zu gucken, da küsste sie mich schon leidenschaftlich. Die Mischung aus einer alkoholreichen Nacht und einer wunderschönen Frau, die sich nackt an mich presste, brauchte keine weitere Unterstützung: mein Gehirn schaltete sich quasi auf der Stelle ab. Ich dachte nicht mehr. Nicht ein einziger Gedanke konnte sich Gehör verschaffen. Ich handelte wie in Trance, aus Reflex und dem ungetrübten Streben nach Genuss. Sie rollte sich nach unten, ich küsste mich an ihrem Körper hinab und ließ meine Zunge in ihrem Schoß spielen. Noch vor einer halben Minute war ich überzeugt gewesen, dass ich sie in meinem ganzen Leben niemals dort berühren würde.
Sie fragte mich: "Hast du was dabei?" Kondome waren in meinem Koffer - immer. Wäre mein Kopf noch in Betrieb gewesen, ich hätte mich daran erinnert, wie ich die Gummis eingepackt hatte, voller Furcht, Claudia würde es mitbekommen und mir vorhalten. Dabei hatte ich lediglich meine eigene Regel befolgt, niemals ohne zu verreisen. Aber mein Kopf war aus. Wir fielen übereinander her, verschmolzen miteinander und mit der ersten Nacht des neuen Jahres.
Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, als ich wieder aufwachte. Claudia lag neben mir, ruhig atmend. Sie fühlte sich sehr warm an, überall auf ihrer Haut waren Schweißperlen. Ich stellte die Klimaanlage ein wenig kühler ein, und huschte aus dem Zimmer. Dabei fiel mir auf, dass die Tür nur angelehnt war. Ich dachte kurz darüber nach, ob uns jemand gehört haben könnte, aber kam zu dem Schluss, dass alle viel zu betrunken und müde gewesen sein müssten, um überhaupt irgendwas zu bemerken. Ich setzte mich in das kleine Badezimmer, dessen Dusche ein Fenster mit Blick über die Stadt hatte. Überall an den Fliesen hingen große Fotos von Sehenswürdigkeiten in Singapur. Wir würden noch einiges zu sehen bekommen.
Wie würde es sein? Was war das kurz zuvor für eine unwirkliche Begegnung. So schön, so unmöglich, so… mir tat der Kopf weh. Zu viel Bier für klare Gedanken. Ich schlich mich auf den Balkon. Unterwegs schnappte ich mir meinen iPod, der auf dem Tisch lag. Ich hatte zu Weihnachten einen neuen bekommen, weil ich meinen alten aus Versehen mitgewaschen hatte. Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr sagte mir, dass wir es 06:50 hatten. In zehn Minuten würde Deutschland den Jahreswechsel feiern. Ich setzte mich nach draußen, in den dreißig Grad warmen Morgen, und ließ die "Shuffle All"-Funktion ein Lied für mich auswählen. Falco durfte als erster für mich singen, und ich musste schmunzeln.
"Sie sagt: 'Babe, i miss my funky friends'
Sie meint Jack und Joe und Jill
Mein Funkverständnis, ja das reicht zur Not
Ich überreiß' was sie jetzt will"
Von wegen. Vor zwei, drei Stunden, ja, da musste ich nicht nachdenken, da war offensichtlich, was sie wollte. Selbst mit ausgeschaltetem Gehirn. Aber jetzt? Was will sie? Nicht mehr drüber reden? Eine Beziehung? Weiter wie bisher? Keinen Kontakt mehr? Oder, wie heißt das, eine Freundschaft mit Extras? Und vor allem: Was will ich? Lasse ich zu, dass diese alten Gefühle, sich wieder an die Oberfläche arbeiten? Die, die ich so mühsam verbannt habe, die so gründlich aus meinem Herz und meinem Kopf getilgt wurden, dass sie mir inzwischen völlig abwegig vorkamen? Vermutlich ist die Gefahr zu groß. Claudia wird mich ohnehin zurechtweisen. Oder?
Falco beendete sein Lied, und ich meine alkoholschwangere Morgenandacht. Man sollte über sowas nicht müde und betrunken nachdenken. Morgen wird sicher alles völlig klar. Oder übermorgen. Ein Blick ins Wohnzimmer zeigte mir, dass Deutschland soeben in zwanzigzehn angekommen war. Herzlich Willkommen, jetzt war auch mein restliches Leben da. Ich torkelte zurück ins Bett, kuschelte mich an die warme Schönheit. Wenigstens für die nächsten Stunden würde mir niemand diese Nähe nehmen können. Als ich einschlief tanzten vor meinen Augen nackte Brüste, die auf ihren Nippeln volle Dosen mit Tigerbier balancierten. Daneben wellten sich rote Haare.
Ich war definitiv betrunken.
Wir hatten auf unserem Weg durch die Stadt aber auch kaum ein Getränk ausgelassen. Schon am Nachmittag hatten wir uns auf den Weg gemacht. Streckenweise war die Stadt so unglaublich überfüllt, dass man sich vorkam wie in einer endlosen Anstellschlange. Polizisten versuchten, die Menschenmassen auf geordneten Bahnen durch die Metropole zu schieben. Unsere erste Station war der Clarke Quay. Hier tobte die Party in vielen Cafés, Bars, an großen Livebühnen und Biertheken. Eine Dose Tiger Bier folgte der nächsten, dazwischen ließen wir uns hier und da für einen Cocktail nieder. Später zogen wir weiter, über Brücken, durch Parks. Es gab gewaltige Feuerwerke. Und Rum, Champagner, Bier...
Zusammen mit meinen Eltern, meinem Onkel und Claudia stolperte ich aus dem Fahrstuhl. Hilflos auf jeweils einem Bein durcheinander hüpfend versuchten wir, uns die Schuhe aufzuschnüren. Als wir es alle erfolgreich in die Wohnung geschafft hatten, strömten wir in verschiedene Richtungen auseinander. Mein Vater ging auf den Balkon, um noch eine Pfeife zu rauchen, meine Mutter verschwand in die Küche, um für alle Baileys einzuschenken, und wir anderen drei suchten jeweils eine Toilette auf.
Ja, die Wohnung meiner Eltern hatte tatsächlich drei Badezimmer. Überhaupt war es kein schlechter Ort zum Leben. Der Blick vom Balkon, auf dem wir uns anschließend alle für einen Silvester-Ausklangs-Trunk versammelten, war einfach großartig. Vom dreizehnten Stockwerk aus blickten wir über das nächtliche Singapur. Die Innenstadt lag nur zwei Straßen entfernt und leuchtete trunken von den Partys in das neue Jahr. All die hohen Bauwerke verdeckten den Horizont, aber ich bildete mir ein, dass ich das Meer riechen konnte. Ich blickte auf das Märchenland herab, welches das Zuhause meiner Eltern war. Mama drückte mir ein neues Getränk in die Hand. Ich schaute auf und bemerkte erst jetzt, dass ich das erste Glas schon ausgetrunken hatte. Glückselig grinste ich in die Runde, und wir stießen an. Auf sieben Stunden Vorsprung! In Deutschland war das Jahr 2010 noch nicht angekommen.
Ich glaube, ich hatte nie zuvor in meinem Leben so viel Alkohol getrunken, ohne mich wenigstens ein wenig schlecht zu fühlen. Aber Tigerbier ist ja auch sehr verträglich. Nachdem wir alle ausgetrunken und uns eine gute Nacht gewünscht hatten, huschte ich noch kurz ins Bad, um meine Zähne zu putzen, und legte mich dann ins Bett. Ich teilte mir ein Zimmer mit Claudia. Eigentlich hatte sie das nicht gewollt.
Als meine Eltern nach Singapur gezogen waren, hatten viele meiner Freunde gesagt, sie würden mich gerne einmal begleiten, wenn ich zu Weihnachten und Silvester meinen Besuchsflug antreten würde. Claudia war die Einzige von diesen Freunden gewesen, die sich konkret darum bemüht hatte, tatsächlich mit zu fliegen. Allerdings hatte sie - wie schon so oft zuvor im Laufe unserer Bekanntschaft - unmissverständlich klargestellt, dass sie keinerlei weiterführendes Interesse an mir hatte, und insbesondere keine körperlichen Annäherungen dulden würde. Im September war ich in Wien gewesen, da hatten wir den Ausflug fertig geplant. Und wir hatten im Ronacher Theater eine Aufführung von "Tanz der Vampire" gesehen - ich habe noch immer eine Gänsehaut wenn ich daran denke. Claudia hatte mich eingeladen, ich weiß gar nicht mehr warum, und unsere Plätze waren ziemlich gut. Das Orchester-Intro alleine ließ mir Schauer über den Rücken laufen.
Jedenfalls hatte Claudia penibel auf die nötige Distanz geachtet. Ich war zu dem Zeitpunkt sogar schon etwas genervt davon, wie nachdrücklich sie ständig darauf hinwies, dass zwischen uns nie etwas sein würde. Man hat das Gefühl, einem würden permanent unlautere Absichten unterstellt. Während der Tage im Dezember, die ich direkt vor dem Abflug nach Singapur noch in Wien verbracht hatte, war ich dann allerdings von entsprechenden Hinweisen ihrerseits verschont geblieben. Ich hatte das erste Mal Nadines Grab besucht, und vermutlich merkte man mir deutlich an, dass ich ohnehin keine Gedanken an andere Frauen verschwendete. Im Gegensatz zu dem vorherigen Besuch hatte ich mich nicht im Büro der Firma einquartiert. Eigentlich wollte Claudia mich in ihrer neuen Wohnung in der Millenium-City aufnehmen, die war dann aber doch nicht rechtzeitig fertig geworden, so dass ich bei Dagi unterkam.
Inzwischen waren wir jedenfalls aus dem Schnee und der Trauer in Wien entkommen und unter der fernöstlichen Sonne angekommen. Das eigene Zimmer, welches ich Claudia in Aussicht gestellt hatte, konnte sie aber leider nicht kriegen. Zunächst wusste ich nicht, dass mein Onkel auch da sein würde, und dann war mir auch nicht klar gewesen, wie wichtig ihm ein eigenes Zimmer war. Zum Glück hatte sich Claudia nicht lange beschwert. Wir waren auch prima miteinander ausgekommen - eine gewisse Vertrautheit war uns nach all der Zeit ja auch nicht abzusprechen. Außerdem hatten wir bei vorherigen Gesprächen, die wir im Rahmen mehrere Spaziergänge durch schöne Ecken von Singapur geführt hatten, festgestellt, dass wir uns beide gerade in so einer Art Phase der Ablehnung befanden. Wir hatten beschlossen, uns künftig nur noch um uns selbst Gedanken zu machen, keinen potentiellen Partnern nachzujagen, sondern unser eigenes Leben auf die Reihe kriegen.
Ich lag also mit all diesen Gedanken im Bett. Das Tiger Bier schwappte in meinem Kopf umher und ich war mir, im Rückblick auf die letzten Tage und Monate, völlig sicher, dass ich in absehbarer Zeit keine Freundin und keinen Sex haben würde. Und ich fand das gut. Und insbesondere würde niemals irgendwas mit Claudia laufen, was ihr eine bedeutsame Sonderrolle in meinem Leben gab. Endlich war einmal etwas in meinem Leben völlig sicher.
In dem Moment kam sie aus dem Bad rüber in unser Schlafzimmer. Sie zog sich aus, zog aber nicht ihre Schlafsachen an, sondern krabbelte direkt ins Bett. Nicht auf ihrer Seite und nicht unter ihre Decke. Ich hatte nicht einmal Zeit, verwirrt zu gucken, da küsste sie mich schon leidenschaftlich. Die Mischung aus einer alkoholreichen Nacht und einer wunderschönen Frau, die sich nackt an mich presste, brauchte keine weitere Unterstützung: mein Gehirn schaltete sich quasi auf der Stelle ab. Ich dachte nicht mehr. Nicht ein einziger Gedanke konnte sich Gehör verschaffen. Ich handelte wie in Trance, aus Reflex und dem ungetrübten Streben nach Genuss. Sie rollte sich nach unten, ich küsste mich an ihrem Körper hinab und ließ meine Zunge in ihrem Schoß spielen. Noch vor einer halben Minute war ich überzeugt gewesen, dass ich sie in meinem ganzen Leben niemals dort berühren würde.
Sie fragte mich: "Hast du was dabei?" Kondome waren in meinem Koffer - immer. Wäre mein Kopf noch in Betrieb gewesen, ich hätte mich daran erinnert, wie ich die Gummis eingepackt hatte, voller Furcht, Claudia würde es mitbekommen und mir vorhalten. Dabei hatte ich lediglich meine eigene Regel befolgt, niemals ohne zu verreisen. Aber mein Kopf war aus. Wir fielen übereinander her, verschmolzen miteinander und mit der ersten Nacht des neuen Jahres.
Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, als ich wieder aufwachte. Claudia lag neben mir, ruhig atmend. Sie fühlte sich sehr warm an, überall auf ihrer Haut waren Schweißperlen. Ich stellte die Klimaanlage ein wenig kühler ein, und huschte aus dem Zimmer. Dabei fiel mir auf, dass die Tür nur angelehnt war. Ich dachte kurz darüber nach, ob uns jemand gehört haben könnte, aber kam zu dem Schluss, dass alle viel zu betrunken und müde gewesen sein müssten, um überhaupt irgendwas zu bemerken. Ich setzte mich in das kleine Badezimmer, dessen Dusche ein Fenster mit Blick über die Stadt hatte. Überall an den Fliesen hingen große Fotos von Sehenswürdigkeiten in Singapur. Wir würden noch einiges zu sehen bekommen.
Wie würde es sein? Was war das kurz zuvor für eine unwirkliche Begegnung. So schön, so unmöglich, so… mir tat der Kopf weh. Zu viel Bier für klare Gedanken. Ich schlich mich auf den Balkon. Unterwegs schnappte ich mir meinen iPod, der auf dem Tisch lag. Ich hatte zu Weihnachten einen neuen bekommen, weil ich meinen alten aus Versehen mitgewaschen hatte. Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr sagte mir, dass wir es 06:50 hatten. In zehn Minuten würde Deutschland den Jahreswechsel feiern. Ich setzte mich nach draußen, in den dreißig Grad warmen Morgen, und ließ die "Shuffle All"-Funktion ein Lied für mich auswählen. Falco durfte als erster für mich singen, und ich musste schmunzeln.
"Sie sagt: 'Babe, i miss my funky friends'
Sie meint Jack und Joe und Jill
Mein Funkverständnis, ja das reicht zur Not
Ich überreiß' was sie jetzt will"
Von wegen. Vor zwei, drei Stunden, ja, da musste ich nicht nachdenken, da war offensichtlich, was sie wollte. Selbst mit ausgeschaltetem Gehirn. Aber jetzt? Was will sie? Nicht mehr drüber reden? Eine Beziehung? Weiter wie bisher? Keinen Kontakt mehr? Oder, wie heißt das, eine Freundschaft mit Extras? Und vor allem: Was will ich? Lasse ich zu, dass diese alten Gefühle, sich wieder an die Oberfläche arbeiten? Die, die ich so mühsam verbannt habe, die so gründlich aus meinem Herz und meinem Kopf getilgt wurden, dass sie mir inzwischen völlig abwegig vorkamen? Vermutlich ist die Gefahr zu groß. Claudia wird mich ohnehin zurechtweisen. Oder?
Falco beendete sein Lied, und ich meine alkoholschwangere Morgenandacht. Man sollte über sowas nicht müde und betrunken nachdenken. Morgen wird sicher alles völlig klar. Oder übermorgen. Ein Blick ins Wohnzimmer zeigte mir, dass Deutschland soeben in zwanzigzehn angekommen war. Herzlich Willkommen, jetzt war auch mein restliches Leben da. Ich torkelte zurück ins Bett, kuschelte mich an die warme Schönheit. Wenigstens für die nächsten Stunden würde mir niemand diese Nähe nehmen können. Als ich einschlief tanzten vor meinen Augen nackte Brüste, die auf ihren Nippeln volle Dosen mit Tigerbier balancierten. Daneben wellten sich rote Haare.