#Mein Sonnenschein

Harle Kin

Mitglied
#Mein Sonnenschein
(Fortsetzung zu #Sunsetlover)


Etwas drückt auf seine Brust.
Nicht sofort als Schmerz.
Eher wie ein Gewicht, das langsam schwerer wird, mit jeder Sekunde bewusster.
Er öffnet die Augen – ein Spalt nur – und wird geblendet.
Zwischen den Baumwipfeln flackert Licht.
Grün. Weiß. Bewegung.
Ein Ast ragt schräg ins Bild.
Dahinter Himmel.
Etwas rauscht. Wind vielleicht. Oder sein eigenes Blut.
Er blinzelt.
Einmal. Zweimal.
Sein Kopf liegt schief auf dem Boden, feucht und kalt. Die Schläfe pocht.
Er will sich aufrichten – der Reflex eines Körpers, der noch nicht begriffen hat, dass er nicht mehr funktioniert.

„Was zur Hölle…“
Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Kratzig.
Trocken.
Der Versuch, den Oberkörper anzuheben, endet in einem brennenden Zucken.
Ein Schmerz schnürt sich durch seinen Brustkorb – dumpf, tief, zu nah an lebenswichtigen.
Er sackt zurück, keuchend.
Irgendetwas in seinem Inneren knackt.
Die Luft bleibt stecken.
Nicht bewegen. Nicht so schnell.
Er verlagert das Gewicht auf eine Seite.
Sein Blick wandert über seinen Körper.
Er sieht Beine.
Aber falsch.
Zu verdreht.
Das rechte liegt unter ihm, wie eingeklemmt.
Das linke knickt in einem absurden Winkel zur Seite weg.
Die Hose ist zerrissen.
Haut, Schorf, getrocknetes Blut.
Er starrt.
Und starrt weiter.
Dann wendet er den Blick ab.
Es ist zu viel.

„Okay... ich bin gefallen. Ich bin... gestürzt…“
Er spricht es aus, als müsste er sich selbst davon überzeugen.
Seine Hand tastet zum Hinterkopf – vorsichtig.
Feucht.
Krustig.
Er zieht die Finger vors Gesicht.
Blut. Alt.
Er muss schon länger hier liegen.
Wie lange?
Er hebt den Kopf leicht. Die Welt kippt.
Ein paar Meter entfernt: Geröll, Sträucher, ein steiler Hang, der in die Höhe führt – bis zu einer Kante.
Eine Klippe?
Er folgt der Linie mit den Augen nach oben.
Er war dort.
Irgendwann.
Vor… Stunden? Einem Tag?
„Scheiße… was ist passiert…“
Ein flüchtiger Gedanke flackert auf.
Ein Gesicht.
Blonde Haare. Ein Lächeln.
Dann ist es wieder weg.
Er will anrufen.
Er hat ein Handy, irgendwo.
Vielleicht.
Mit letzter Kraft greift er zur Seite. Da ist etwas – ein Rucksack, halb unter einem Stein.
Er zieht.
Der Schmerz fährt ihm in den Rücken wie ein heißes Messer.
„Nicht aufhören... nicht jetzt…“, presst er zwischen den Zähnen hervor.
Seine Finger treffen Plastik. Ein Smartphone.
Zersprungenes Glas, aber das Display reagiert.
Er wischt.
Langsam. Mit der ganzen Konzentration eines Sterbenden.
Der Hintergrund erscheint.
Ein Bild.
Eine Frau.
Schön. Jünger als er. Lächelnd.
Sonnenlicht im Haar.
Seine Stimme bricht fast beim Namen:
„Jessica… das ist Jessica…“
Er tippt.
Langsam.
Der Name ist gespeichert.
Freundin? Ehefrau?
Irgendwas daran fühlt sich wichtig an.
„Sie… sie kann helfen. Sie weiß, wo ich bin…“
Er wählt. Drückt das Handy ans Ohr.
Die Verbindung rauscht.
Dann ein Freizeichen.
„Bitte… geh ran… bitte, Jessi…“
Ein Husten schüttelt ihn.
Er hustet rot.
Die Welt verschwimmt.
Dann klickt es.
Und eine Stimme sagt:
„Hallo?“


***​


Das Telefon lag neben ihm im Laub.
Der Bildschirm war dunkel, das Glas zersprungen.
Er hatte die Verbindung getrennt, irgendwann, nachdem sie gesagt hatte, dass sie losfährt.
„Ich finde dich. Ich komme, okay?“
Ihre Stimme klang warm.
Aufgeregt, aber nicht panisch.
Besorgt. So, wie sie immer war, wenn er krank war oder schlecht geschlafen hatte.
Er lächelte.
Ein kleines, erschöpftes Lächeln.
Der Schmerz war noch da – natürlich –, aber anders jetzt.
Er war nicht mehr allein.
„Meine Jessica…“, murmelte er.
Die Worte zerfielen in der trockenen Kehle.
Aber sie waren echt.
So echt, wie alles an ihr.
Er ließ den Kopf zur Seite sinken.
Ein paar Sonnenflecken tanzten auf den Boden.
Er versuchte, sich nicht auf die Beine zu konzentrieren – auf das, was da nicht mehr richtig zusammenhing.
Es war besser, einfach zu warten.

Warten.

Sie wusste jetzt Bescheid.
Sie war auf dem Weg.
Seine Gedanken drifteten.
Bilder.
Nicht klar.
Nicht chronologisch.
Ihr Lachen.
Wie sie ihn einmal geküsst hatte, mitten in einem Gespräch – einfach so, weil er ein Wort falsch ausgesprochen hatte.
Er erinnerte sich an ihre Finger, zart und lackiert, wie sie ihm den Kragen gerichtet hatte, als sie essen gingen.
An den Duft in ihrem Haar, warm und ein wenig nach Vanille.
An einen Nachmittag auf dem Balkon.
Sie lag auf der Liege, Sonnenbrille, Eis in der Hand.
Er hatte sie fotografiert.
Und sie hatte gelächelt –
nicht für die Kamera, sondern für ihn.
Er wusste nicht, ob es Erinnerungen waren oder nur Vorstellungen, die wie Erinnerungen fühlten.
Aber es war egal.
Das Gefühl war echt.
Und das zählte.
Sie war seine Frau.
Seine Jessica.
Er erinnerte sich an ihre Worte:
„Vertrau mir.“
Und er tat es. Immer schon.
„Du wirst mich finden…“, flüsterte er.
Die Worte versickerten in der Luft.
„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
Er schloss die Augen für einen Moment.
Nur kurz.
Er musste ja hören, wenn sie kam.
Wenn ihr Auto bremste, wenn sie seinen Namen rief.
Er stellte sich vor, wie sie durch das Unterholz brach, panisch, Tränen in den Augen.
Wie sie zu ihm eilte, seine Hand nahm, sagte:
„Ich hab dich, ich bin da.“
Er sah es genau vor sich.
Fast wie ein Film.
Ein Film mit Happy End.
Und er war mittendrin.
Er musste nur warten.

Sie würde kommen.

Sie liebte ihn.

Er war sich sicher.


***​


Etwas knackte im Unterholz.
Seine Augen öffneten sich. Schwer. Verklebt vom verkrustetem Blut.
Noch ein Geräusch.

Dann Schritte. Hastig.
Blätter raschelten. Ein Ast brach.
Und dann:
Sie.
Jessica.

Sie trat aus dem Schatten der Bäume.
Schneller als erwartet.
Sie trug ihre Wanderjacke, das Haar zu einem lockeren Zopf, ihr Blick flackerte.
Suchend.
Panisch.
„Jessi…?“, krächzte er.
Sie sah ihn.
Für einen Moment stand sie still.
Der Blick war schwer zu deuten – kein reines Entsetzen, kein Mitgefühl.
Eher… Überforderung.
„Du bist da… oh Gott… du bist wirklich da…“
Er hustete.
„Ich wusste, dass du kommst. Mein… mein Sonnenschein.“
Sie trat näher.
Nicht zu schnell.
Ihre Augen wanderten über ihn, wie man ein Unfallopfer mustert, das noch atmet – gegen jede Erwartung.
Dann sah sie sich um. Kurz. Flackernd.
„Jessi… kannst du… bitte… meine Beine… ich glaub, ich -”
Sie unterbrach ihn nicht.
Sie antwortete nicht.
Sie ging ein paar Schritte zur Seite, in Richtung eines Felsens.
Ein großer, flacher Stein lag dort.
Wettergebleicht. Schwer.
Er konnte den Kopf nicht richtig drehen, aber sah sie aus den Augenwinkeln.

Wie sie die Hände unter den Stein schob.
Wie sie ihn anhob.
Ein mühsames, kraftloses Ruckeln.
„Was… was machst du da? Jessi…?“
Sie atmete schwer.
Zog den Stein ein Stück zur Seite.
Dann ließ sie ihn kurz fallen.
Keuchend.
Sie sah ihn nicht an.
„Jessica… bitte… ich versteh nicht… du musst mir helfen…“
Endlich drehte sie sich zu ihm.
Ein flüchtiges Lächeln – falsch und leer.
„Ja, Schatz. Ich helfe dir gleich.“
Sie packte erneut zu.
Der Stein rollte näher.
Langsam.
Stück für Stück.
„Warte… was soll das? Jessi, was soll das?!“
Der Wind rauschte.
Vögel irgendwo oben, über ihm.
Sein Atem wurde schneller.
Sie hob den Stein wieder an.
Die Arme zitterten.
Sie kam näher.
Zwei Schritte.
Noch einer.
Dann hielt sie an – direkt über ihm.
Er starrte zu ihr hoch.
Die Augen weit.
Die Lippen bebend.
„Jessica…?“
Ein letzter Blick zwischen ihnen.
Er hoffte, er würde darin etwas finden.
Liebe.
Zweifel.
Irgendetwas.
Aber da war nichts.
Nur ein letzter Atemzug.
Dann
ließ sie los.

Der Stein fiel nicht weit.

Aber tief.

Im Hintergrund färbte sich der Horizont orange –
der perfekte Moment, für ein Selfie.






#Sunsetlovers
 

Anders Tell

Mitglied
Der Harlekin ist glaube ich immer auch ein bißchen böse. Das hier ist sehr böse. Erschreckend gräßlich gut. Der Schauder ist mir den Nacken hinauf gekrochen, als ich mir vorstelle, dass alles so stattfinden könnte. Noch schnell ein Selfie.
Ich traue mich gar nicht, den Sternenglanz funkeln zu lassen. Aber besser kann man eine solche Geschichten nicht erzählen. Eine tiefe Verbeugung vor Deinem Talent.

Anders
 

Harle Kin

Mitglied
Hey Anders,
ja, mag sein.
für mich spielt der Harlekin in erster Linie gern mit Erwartung und Irrtum – und zeigt das Grauen ungeschönt, aber nie todernst. Eher dieses schiefe Schmunzeln, das man nicht richtig einordnen kann.
Freut mich, dass das bei dir angekommen ist.

Und keine Sorge wegen dem Sternenglanz – fühl dich frei.
Dein Feeback ist mehr als ausreichend.
Vielen Dank dafür.


Gruß
Harle
 



 
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