Dichter Erdling
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Ich glaube, das kann ich sagen: Dass mein Vater kein Mörder war.
Er war vielleicht vieles, aber ein Mörder nicht.
Darüber kann ich froh sein.
Womöglich ist der Leser angesichts solcher Sätze irritiert.
Dass jemand kein Mörder war, muss man ja nicht extra hinschreiben, das ist ja doch normal, möge er sich denken. Vielleicht hat er sich in der Überschrift auch verlesen und erwartet sich nachfolgend den detaillierten Bericht einer mörderischen Bluttat, die von meines Vaters Hand verübt wurde – aber so ist das nicht.
Nein, da steht wirklich ein „K“.
KEIN Mörder war er, mein Vater, das kann ich unterschreiben – und dass das so ist, ist nicht so selbstverständlich wie man meint.
Bei meinen Großvätern schaut das nämlich schon anders aus.
Die waren im Krieg, damals, in der schlimmen Zeit.
Ohne dass sie sich gekannt hätten, waren sie beide mittendrin im großen Abschlachten des Weltkriegs N°2.
Überlebt haben sie, weil sie beim Abschlachten jeweils so erfolgreich waren, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Das heißt, davongekommen sind sie wohl, weil sie anderes Leben schneller hinfort genommen haben als man ihnen das ihre hätte nehmen können.
Töten oder getötet werden, das ist Krieg.
Wer nicht getötet hat, wurde schnell seinerseits getötet und hat dann eher keine Nachkommen mehr.
Deshalb sind auch die meisten von uns die Nachfahren von Mördern. Von Menschen mit Blut an ihren Händen und dunklen Abgründen im Herz.
Wie viele Menschen meine Großväter getötet haben, weiß ich nicht.
Der eine starb lang vor meiner Geburt sehr jung an Krebs (möglicherweise eine Schädigung aus ebenjenem Krieg), und so konnte ich ihn nicht fragen. Seiner Familie soll er beteuert haben, er hätte diesbezüglich niemanden auf dem Gewissen - aber möglich, dass er sich damit nur selbst angelogen hat. Schwer vorstellbar, dass er als einfacher Soldat an der Front den Abzug am Gewehr nie betätigt haben soll. Den Krieg immerhin hat er den Seinen als unvorstellbar schrecklich geschildert, das war gewiss ehrlich.
Mein anderer Opa wiederum war vom Krieg solcherart geschädigt, dass er gar nicht erst darüber sprechen wollte. Überhaupt war dieser Opa ein chronisch übellauniger, hitzköpfiger Mensch, eben gezeichnet von einer barbarischen Zeit.
Am Hals hatte er, der eine Opa, der mir geblieben war, eine kreisrunde Narbe. Die stammte von einem Einschussloch, wie mir meine Oma auf Nachfrage erklärt hat.
In Russland hatte man auf ihn geschossen und gewiss auch er hatte dort auf Menschen gezielt und abgefeuert.
Ein glatter Durchschuss sei es gewesen, hat mir meine Oma gesagt. Wäre die Kugel anders durch meinen Opa hindurchgegangen oder wäre sie in ihm steckengeblieben, wäre er vermutlich draufgegangen und mich würde es nicht geben.
Oma hat mir auch erzählt, dass Opa nur deshalb mit dem Leben davongekommen ist, weil ihn die feindlichen Truppen in seinem angeschossenen Zustand für tot hielten und ihn liegen ließen. So lag er dann stundenlang bei seinen toten Kameraden und hat überlebt. „Weil er sich totgestellt hat“, hat Oma gesagt.
Die Geschichte hat mir stets nur meine Oma erzählt, mein Opa nie. Nie hat er darüber gesprochen, wie es war, angeschossen zu werden und als einsamer Überlebender zwischen Leichenbergen zu liegen. Der Krieg war kein großes Thema bei uns.
Als ich noch sehr klein war und von der Geschichte überhaupt gar nichts wusste, war ich sogar der Überzeugung gewesen, alle Opas hätten so eine Narbe am Hals. So in etwa wie ein Bauchnabel, den man automatisch kriegt, wenn man Opa wird. Ich wusste es ja nicht besser und hatte doch nur den einen Opa, da habe ich natürlich übergeneralisiert.
Mein Opa ist jetzt schon lange tot und ich kann ihn nicht mehr fragen, wie viele er seinerseits umbringen musste, um zu überleben. Vielleicht wusste er es selbst nicht so genau, wie viele Todestreffer er beim Rumballern hatte. Aber sehr vermutlich ist die Zahl größer als eins.
Bestimmt hat mein Opa nicht nur deshalb überlebt, weil er im richtigen Moment auf tot gemacht hat, sondern weil er auch in zahlreichen anderen Momenten ganz schön viele tot gemacht hat – aber darüber hat er erst recht geschwiegen.
Ein Vorfahre meines Mannes war in dieser Hinsicht aus anderem Holz geschnitzt.
Dieser Kriegsrückkehrer soll viel und oft vom Krieg gesprochen haben.
Ich habe ihn ja nicht persönlich gekannt, aber dieser Mensch war wohl einer, der so getan hat, als wäre der Krieg ein Abenteuer voller Heldengeschichten. Dabei er natürlich: der Held.
Seinen Kindern hat er vergnügt zugeschaut, wenn sie sich in der ersten zarten Aufbruchszeit nach 1945 aus Ästen Gewehre gebastelt und Krieg gespielt haben. Sowie sie größer wurden, hat er ihnen das richtige Schießen beigebracht, einfach, weil er es konnte.
Auch sowas gibt es.
Auf Nachfrage hat dieser Mann die Zahl derer, die im Krieg durch seine Hand ums Leben kamen, gern auf 30 beziffert. Das war aber nur geschätzt und vermutlich sogar aufgerundet.
Gewiss auch er war kein Mörder, dem das Morden Spaß gemacht hatte; er betrachtete die Dinge, zu denen der Krieg ihn gezwungen hatte, nur pragmatischer als andere.
Mit Sicherheit kein Einzelfall.
Im Grunde sind wir die Nachkommen nicht nur von Mördern, sondern von Mehrfach- und Massenmördern. Auch das ist es, was Krieg bedeutet.
Das muss man sich bewusst machen.
Wenn in Friedenszeiten mal einer durchdreht und seine Frau erschlägt oder beim Banküberfall einen Wachmann oder zwei, drei… erschießt, macht das augenblicklich Schlagzeilen und die Kinder eines solchen Mannes fragen sich, ob sie nicht auch eine kriminelle Energie in sich tragen oder eine schlechte Saat, welche aufgehen kann. Man meint, sowas vererbt sich unter Umständen weiter.
Wenn das nur ein bisschen wahr ist, so tragen wir wohl alle etwas Dunkles in uns, als Nachfahren von Menschen, für die das Töten Alltag war.
Und das Sterben!
Reicht ja doch, wenn man sich das Sterben im Krieg anschauen muss, um nachhaltig verkorkst zu werden.
Das viele Blut, die Verletzungen, entstellte Gesichter und raushängende Gedärme…
Auch davon hat mein Opa nie gesprochen, wie er überhaupt nicht viel gesprochen hat.
Wenn er sprach, was selten war, war er ruppig und hart gegen jeden.
So ist das wohl, wenn man vom Krieg gehärtet wurde.
Die, sagen wir mal, seltsame Wesensart meines Großvaters übertrug sich schließlich auch auf seinen Sohn, meinen Vater, der bald ähnliche Wesenszüge aufwies und unser Familienleben oft schwer schädigte.
So hatte denn dieser große Krieg von damals Auswirkungen auf mein Leben bis heute, durchgehend schlechte.
Mein Vater hatte das Glück, diesen Sommer friedlich in seinem Bett zu sterben, ohne jemals einen Krieg erleben zu müssen.
Nie war er gezwungen, eine scharfgemachte Waffe auf jemanden abzufeuern oder andere mit dem Panzer plattzumachen.
Mein Vater war kein Mörder.
Ich bin nicht die Tochter von jemandem, der getötet hat. Das nicht.
Für eine kurze Zeitspanne auf begrenztem geographischem Raum war es den Menschen vergönnt, frei vom Krieg mit seinen Tötungszwängen zu sein.
Grade mal eine Generation bei uns hatte dieses Glück.
Mein Vater war Jahrgang 1952.
Ich selbst wurde im Jahr 1980 geboren.
Für mich schaut die Sache schon anders aus.
An allen Ecken und Enden wird man schon wieder auf Krieg eingeschworen.
Schon täglich erzählt man mir was von Feinden, gegen die man zu Felde ziehen müsse.
Man spricht von Kriegsertüchtigung und von vermeintlich notwendigen Schlachten.
Wenn ich hingegen von einer Kriegsvermeidung und -beendigung, vom Frieden und von der Brüderlichkeit aller Menschen rede, lacht man mich aus (wenn man mich nicht beschimpft).
Oberwasser hat jetzt anderes.
Soeben ging der Friedenspreis des deutschen Buchhandels an eine Person, für die der Ruf nach Pazifismus oft nichts anderes ist als „Appeasement und Hinnahme einer Diktatur“ und die, noch während man ihr den Friedenspreis überreicht, von militärischen Siegen schwadroniert. *
Die Zeiten sind mal wieder schlecht.
Die Aussicht, dass ich mich mal mit einem Gegenüber wiederfinde, das jemand als „feindlich“ deklariert hat und es geht zwischen uns mit Waffengewalt auf Leben und Tod, ist so unwahrscheinlich nicht mehr. Als mittelalte Frau werde ich wohl nicht aufs Schlachtfeld geschickt, aber so ein Krieg trägt doch viele Möglichkeiten in sich, wo es zwischen den Menschen hart auf hart hergeht.
Ob ich als jemand sterbe, der schon mal getötet hat oder nicht, ob als Mörderin, wird sich erst weisen.
Meinen Sohn habe ich 2003 auf diese Welt gebracht.
Er wird demnächst 21 Jahre alt.
Das ist dieses Alter, das man auf Kriegerfriedhöfen recht oft von den Grabsteinen ablesen und erschrocken ausrufen kann: So jung musste er sterben, der hier liegt!
Für meinen Sohn, den ich unter großen Schmerzen geboren und den ich mit aller Sorgfalt ins Leben begleitet habe, den ich mit all meiner Mutterliebe liebe: für ihn schaut die Zukunft noch düsterer aus.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihm irgendwann ein Gewehr in die Hand drückt und er muss auf Menschen schießen, ist schon ziemlich hoch.
Kann gut sein, dass man auf meinen Sohn schießen wird. Sehr wahrscheinlich geht dann die Kugel nicht so glatt durch ihn durch wie bei meinem Opa. Wahrscheinlich wird mein Sohn nicht der eine sein, der sich totstellt und überlebt, sondern einer der vielen, die einfach nur tot sind.
So ist das im Krieg.
Vielleicht wird es für meinen Sohn keine Kinder, keine Enkel geben. Vielleicht werden meine Nachkommen, die das hier lesen könnten, gar nicht erst geboren.
Die Jugend spürt ihrerseits, was zu kommen droht.
In einer aktuellen Studie** geben 81 % der jungen Menschen an, dass die Angst vor Krieg derzeit ihre größte sei. Der Wert hat sich von 46 auf 81 % fast verdoppelt und ist damit so hoch wie noch nie.
In Deutschland kriegen die jungen Leute auch schon seit längerem bedenkliche Post. ***
Der dortige Verteidigungsminister, dessen Name sinnigerweise so klingt wie ein Schießgerät, hat schon vor Monaten Fragebögen an die 18-Jährigen des Landes ausgeschickt. Die Fragen zielten schließlich darauf ab, die Kriegsbereitschaft der Jugend auszuloten: Wer will die Waffe in die Hand nehmen und wehrhaft sein, wer zieht in den Krieg?
Für junge Männer war das Ausfüllen des Fragebogens Pflicht – und neue Pflichten, Zwänge drohen.
Wie weit man eine Wehrpflicht wiedereinführen und sogar ausweiten, wie man den Jugendlichen den Soldatenberuf schmackhaft machen könnte, wird nun ebenfalls schon eifrig diskutiert, erprobt.
Man kann regelrecht zuschauen, wie der Krieg nach der Jugend greift.
Die Wahrscheinlichkeiten sind schon recht deutlich.
Hoch die Wahrscheinlichkeit, dass es auch bei uns eine neue Generation Kriegsgeschädigter geben wird. Zusätzlich zu den vielen Kriegsgeschädigten, die heute schon rumlaufen auf dieser Welt.
Schon sehr wahrscheinlich, dass ein Krieg das Leben unserer Kinder verdirbt.
Sei es, weil sie selbst werden töten müssen, weil sie der Anblick des Abschlachtens verstört, weil der Krieg die Häuser ihrer Heimat und ihre Herzen verwüstet – oder ihre Leiber als Ganzes.
Eine einzige kollektive Verwüstung in jeder Hinsicht, das ist Krieg.
Ich fürchte, mein Sohn wird Härten und Abgründe kennenlernen, die sich, sofern er allen Widrigkeiten zum Trotz überleben sollte, tief in sein Wesen eingraben und noch über die Generationen hinaus schädlich auf die Welt einwirken werden.
Sollte mein Sohn dereinst Kinder haben, werden sie den Satz „Mein Vater war kein Mörder“ vermutlich nicht mehr unterschreiben können.
* https://www.diepresse.com/18986359/...m-die-deutschen-muessen-nicht-pazifisten-sein
** https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie-2024/informationsmaterial-2024.html
*** https://www.br.de/nachrichten/deuts...-plant-pflichtfragebogen-fuer-maenner,UFSKUFI
Er war vielleicht vieles, aber ein Mörder nicht.
Darüber kann ich froh sein.
Womöglich ist der Leser angesichts solcher Sätze irritiert.
Dass jemand kein Mörder war, muss man ja nicht extra hinschreiben, das ist ja doch normal, möge er sich denken. Vielleicht hat er sich in der Überschrift auch verlesen und erwartet sich nachfolgend den detaillierten Bericht einer mörderischen Bluttat, die von meines Vaters Hand verübt wurde – aber so ist das nicht.
Nein, da steht wirklich ein „K“.
KEIN Mörder war er, mein Vater, das kann ich unterschreiben – und dass das so ist, ist nicht so selbstverständlich wie man meint.
Bei meinen Großvätern schaut das nämlich schon anders aus.
Die waren im Krieg, damals, in der schlimmen Zeit.
Ohne dass sie sich gekannt hätten, waren sie beide mittendrin im großen Abschlachten des Weltkriegs N°2.
Überlebt haben sie, weil sie beim Abschlachten jeweils so erfolgreich waren, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Das heißt, davongekommen sind sie wohl, weil sie anderes Leben schneller hinfort genommen haben als man ihnen das ihre hätte nehmen können.
Töten oder getötet werden, das ist Krieg.
Wer nicht getötet hat, wurde schnell seinerseits getötet und hat dann eher keine Nachkommen mehr.
Deshalb sind auch die meisten von uns die Nachfahren von Mördern. Von Menschen mit Blut an ihren Händen und dunklen Abgründen im Herz.
Wie viele Menschen meine Großväter getötet haben, weiß ich nicht.
Der eine starb lang vor meiner Geburt sehr jung an Krebs (möglicherweise eine Schädigung aus ebenjenem Krieg), und so konnte ich ihn nicht fragen. Seiner Familie soll er beteuert haben, er hätte diesbezüglich niemanden auf dem Gewissen - aber möglich, dass er sich damit nur selbst angelogen hat. Schwer vorstellbar, dass er als einfacher Soldat an der Front den Abzug am Gewehr nie betätigt haben soll. Den Krieg immerhin hat er den Seinen als unvorstellbar schrecklich geschildert, das war gewiss ehrlich.
Mein anderer Opa wiederum war vom Krieg solcherart geschädigt, dass er gar nicht erst darüber sprechen wollte. Überhaupt war dieser Opa ein chronisch übellauniger, hitzköpfiger Mensch, eben gezeichnet von einer barbarischen Zeit.
Am Hals hatte er, der eine Opa, der mir geblieben war, eine kreisrunde Narbe. Die stammte von einem Einschussloch, wie mir meine Oma auf Nachfrage erklärt hat.
In Russland hatte man auf ihn geschossen und gewiss auch er hatte dort auf Menschen gezielt und abgefeuert.
Ein glatter Durchschuss sei es gewesen, hat mir meine Oma gesagt. Wäre die Kugel anders durch meinen Opa hindurchgegangen oder wäre sie in ihm steckengeblieben, wäre er vermutlich draufgegangen und mich würde es nicht geben.
Oma hat mir auch erzählt, dass Opa nur deshalb mit dem Leben davongekommen ist, weil ihn die feindlichen Truppen in seinem angeschossenen Zustand für tot hielten und ihn liegen ließen. So lag er dann stundenlang bei seinen toten Kameraden und hat überlebt. „Weil er sich totgestellt hat“, hat Oma gesagt.
Die Geschichte hat mir stets nur meine Oma erzählt, mein Opa nie. Nie hat er darüber gesprochen, wie es war, angeschossen zu werden und als einsamer Überlebender zwischen Leichenbergen zu liegen. Der Krieg war kein großes Thema bei uns.
Als ich noch sehr klein war und von der Geschichte überhaupt gar nichts wusste, war ich sogar der Überzeugung gewesen, alle Opas hätten so eine Narbe am Hals. So in etwa wie ein Bauchnabel, den man automatisch kriegt, wenn man Opa wird. Ich wusste es ja nicht besser und hatte doch nur den einen Opa, da habe ich natürlich übergeneralisiert.
Mein Opa ist jetzt schon lange tot und ich kann ihn nicht mehr fragen, wie viele er seinerseits umbringen musste, um zu überleben. Vielleicht wusste er es selbst nicht so genau, wie viele Todestreffer er beim Rumballern hatte. Aber sehr vermutlich ist die Zahl größer als eins.
Bestimmt hat mein Opa nicht nur deshalb überlebt, weil er im richtigen Moment auf tot gemacht hat, sondern weil er auch in zahlreichen anderen Momenten ganz schön viele tot gemacht hat – aber darüber hat er erst recht geschwiegen.
Ein Vorfahre meines Mannes war in dieser Hinsicht aus anderem Holz geschnitzt.
Dieser Kriegsrückkehrer soll viel und oft vom Krieg gesprochen haben.
Ich habe ihn ja nicht persönlich gekannt, aber dieser Mensch war wohl einer, der so getan hat, als wäre der Krieg ein Abenteuer voller Heldengeschichten. Dabei er natürlich: der Held.
Seinen Kindern hat er vergnügt zugeschaut, wenn sie sich in der ersten zarten Aufbruchszeit nach 1945 aus Ästen Gewehre gebastelt und Krieg gespielt haben. Sowie sie größer wurden, hat er ihnen das richtige Schießen beigebracht, einfach, weil er es konnte.
Auch sowas gibt es.
Auf Nachfrage hat dieser Mann die Zahl derer, die im Krieg durch seine Hand ums Leben kamen, gern auf 30 beziffert. Das war aber nur geschätzt und vermutlich sogar aufgerundet.
Gewiss auch er war kein Mörder, dem das Morden Spaß gemacht hatte; er betrachtete die Dinge, zu denen der Krieg ihn gezwungen hatte, nur pragmatischer als andere.
Mit Sicherheit kein Einzelfall.
Im Grunde sind wir die Nachkommen nicht nur von Mördern, sondern von Mehrfach- und Massenmördern. Auch das ist es, was Krieg bedeutet.
Das muss man sich bewusst machen.
Wenn in Friedenszeiten mal einer durchdreht und seine Frau erschlägt oder beim Banküberfall einen Wachmann oder zwei, drei… erschießt, macht das augenblicklich Schlagzeilen und die Kinder eines solchen Mannes fragen sich, ob sie nicht auch eine kriminelle Energie in sich tragen oder eine schlechte Saat, welche aufgehen kann. Man meint, sowas vererbt sich unter Umständen weiter.
Wenn das nur ein bisschen wahr ist, so tragen wir wohl alle etwas Dunkles in uns, als Nachfahren von Menschen, für die das Töten Alltag war.
Und das Sterben!
Reicht ja doch, wenn man sich das Sterben im Krieg anschauen muss, um nachhaltig verkorkst zu werden.
Das viele Blut, die Verletzungen, entstellte Gesichter und raushängende Gedärme…
Auch davon hat mein Opa nie gesprochen, wie er überhaupt nicht viel gesprochen hat.
Wenn er sprach, was selten war, war er ruppig und hart gegen jeden.
So ist das wohl, wenn man vom Krieg gehärtet wurde.
Die, sagen wir mal, seltsame Wesensart meines Großvaters übertrug sich schließlich auch auf seinen Sohn, meinen Vater, der bald ähnliche Wesenszüge aufwies und unser Familienleben oft schwer schädigte.
So hatte denn dieser große Krieg von damals Auswirkungen auf mein Leben bis heute, durchgehend schlechte.
Mein Vater hatte das Glück, diesen Sommer friedlich in seinem Bett zu sterben, ohne jemals einen Krieg erleben zu müssen.
Nie war er gezwungen, eine scharfgemachte Waffe auf jemanden abzufeuern oder andere mit dem Panzer plattzumachen.
Mein Vater war kein Mörder.
Ich bin nicht die Tochter von jemandem, der getötet hat. Das nicht.
Für eine kurze Zeitspanne auf begrenztem geographischem Raum war es den Menschen vergönnt, frei vom Krieg mit seinen Tötungszwängen zu sein.
Grade mal eine Generation bei uns hatte dieses Glück.
Mein Vater war Jahrgang 1952.
Ich selbst wurde im Jahr 1980 geboren.
Für mich schaut die Sache schon anders aus.
An allen Ecken und Enden wird man schon wieder auf Krieg eingeschworen.
Schon täglich erzählt man mir was von Feinden, gegen die man zu Felde ziehen müsse.
Man spricht von Kriegsertüchtigung und von vermeintlich notwendigen Schlachten.
Wenn ich hingegen von einer Kriegsvermeidung und -beendigung, vom Frieden und von der Brüderlichkeit aller Menschen rede, lacht man mich aus (wenn man mich nicht beschimpft).
Oberwasser hat jetzt anderes.
Soeben ging der Friedenspreis des deutschen Buchhandels an eine Person, für die der Ruf nach Pazifismus oft nichts anderes ist als „Appeasement und Hinnahme einer Diktatur“ und die, noch während man ihr den Friedenspreis überreicht, von militärischen Siegen schwadroniert. *
Die Zeiten sind mal wieder schlecht.
Die Aussicht, dass ich mich mal mit einem Gegenüber wiederfinde, das jemand als „feindlich“ deklariert hat und es geht zwischen uns mit Waffengewalt auf Leben und Tod, ist so unwahrscheinlich nicht mehr. Als mittelalte Frau werde ich wohl nicht aufs Schlachtfeld geschickt, aber so ein Krieg trägt doch viele Möglichkeiten in sich, wo es zwischen den Menschen hart auf hart hergeht.
Ob ich als jemand sterbe, der schon mal getötet hat oder nicht, ob als Mörderin, wird sich erst weisen.
Meinen Sohn habe ich 2003 auf diese Welt gebracht.
Er wird demnächst 21 Jahre alt.
Das ist dieses Alter, das man auf Kriegerfriedhöfen recht oft von den Grabsteinen ablesen und erschrocken ausrufen kann: So jung musste er sterben, der hier liegt!
Für meinen Sohn, den ich unter großen Schmerzen geboren und den ich mit aller Sorgfalt ins Leben begleitet habe, den ich mit all meiner Mutterliebe liebe: für ihn schaut die Zukunft noch düsterer aus.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihm irgendwann ein Gewehr in die Hand drückt und er muss auf Menschen schießen, ist schon ziemlich hoch.
Kann gut sein, dass man auf meinen Sohn schießen wird. Sehr wahrscheinlich geht dann die Kugel nicht so glatt durch ihn durch wie bei meinem Opa. Wahrscheinlich wird mein Sohn nicht der eine sein, der sich totstellt und überlebt, sondern einer der vielen, die einfach nur tot sind.
So ist das im Krieg.
Vielleicht wird es für meinen Sohn keine Kinder, keine Enkel geben. Vielleicht werden meine Nachkommen, die das hier lesen könnten, gar nicht erst geboren.
Die Jugend spürt ihrerseits, was zu kommen droht.
In einer aktuellen Studie** geben 81 % der jungen Menschen an, dass die Angst vor Krieg derzeit ihre größte sei. Der Wert hat sich von 46 auf 81 % fast verdoppelt und ist damit so hoch wie noch nie.
In Deutschland kriegen die jungen Leute auch schon seit längerem bedenkliche Post. ***
Der dortige Verteidigungsminister, dessen Name sinnigerweise so klingt wie ein Schießgerät, hat schon vor Monaten Fragebögen an die 18-Jährigen des Landes ausgeschickt. Die Fragen zielten schließlich darauf ab, die Kriegsbereitschaft der Jugend auszuloten: Wer will die Waffe in die Hand nehmen und wehrhaft sein, wer zieht in den Krieg?
Für junge Männer war das Ausfüllen des Fragebogens Pflicht – und neue Pflichten, Zwänge drohen.
Wie weit man eine Wehrpflicht wiedereinführen und sogar ausweiten, wie man den Jugendlichen den Soldatenberuf schmackhaft machen könnte, wird nun ebenfalls schon eifrig diskutiert, erprobt.
Man kann regelrecht zuschauen, wie der Krieg nach der Jugend greift.
Die Wahrscheinlichkeiten sind schon recht deutlich.
Hoch die Wahrscheinlichkeit, dass es auch bei uns eine neue Generation Kriegsgeschädigter geben wird. Zusätzlich zu den vielen Kriegsgeschädigten, die heute schon rumlaufen auf dieser Welt.
Schon sehr wahrscheinlich, dass ein Krieg das Leben unserer Kinder verdirbt.
Sei es, weil sie selbst werden töten müssen, weil sie der Anblick des Abschlachtens verstört, weil der Krieg die Häuser ihrer Heimat und ihre Herzen verwüstet – oder ihre Leiber als Ganzes.
Eine einzige kollektive Verwüstung in jeder Hinsicht, das ist Krieg.
Ich fürchte, mein Sohn wird Härten und Abgründe kennenlernen, die sich, sofern er allen Widrigkeiten zum Trotz überleben sollte, tief in sein Wesen eingraben und noch über die Generationen hinaus schädlich auf die Welt einwirken werden.
Sollte mein Sohn dereinst Kinder haben, werden sie den Satz „Mein Vater war kein Mörder“ vermutlich nicht mehr unterschreiben können.
* https://www.diepresse.com/18986359/...m-die-deutschen-muessen-nicht-pazifisten-sein
** https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie-2024/informationsmaterial-2024.html
*** https://www.br.de/nachrichten/deuts...-plant-pflichtfragebogen-fuer-maenner,UFSKUFI