Meine Sommerwege

rotkehlchen

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Der Ankömmling

Eine unwiderstehliche Sehnsucht zwang mich, die Landstraße zu verlassen und einen steilen Seitenweg hochzufahren, auf ein kleines Bergnest zu, in dem ich einen Teil meiner bartlosen Jugend verbracht hatte. Auf halber Höhe entdeckte ich ihn wieder, den Feldweg, auf dem ich damals bei schönem Wetter gerne gewandert war. Ich hielt an, stieg aus und wagte den Schritt zurück in die Tiefe der Zeit, denn seitdem ist es mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen.
Eine Weile ging ich in Erinnerungen versunken – da war auch die Bank noch, auf der ich damals oft gesessen und vor mich hin geträumt hatte. Doch wie sah sie jetzt aus! Das Holz in scharfe Falten gelegt, ihr dürrer Körper nach hinten geneigt wie in Abwehr eines schweren Wetters. Doch noch war ihr hölzernes Gerüst fest; wieder setzte ich mich in die feierliche Stille, wie schon damals. Die Luft schwitzte eine ungesunde Schwüle aus; der Sommer war fast über Nacht gereift, er kam mit der Zügellosigkeit ausgeruhter Jagdhunde: Hatte er doch einen langen kalten Winter Zeit gehabt, Kraft zu sammeln.
Mein Blick streifte das sanfte Grün der Wiesen, flog über den gelben Filz der Felder, verweilte an einer kauzig-knorrigen Baumgestalt. Auf einmal erschien mir die Natur so still, so harmonisch, in jener reinen Kraft, die ich schon damals so genossen hatte. Eine wundersame Gelöstheit, eine erlösende Heiterkeit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte, verdrängte die Anspannungen der Autofahrt.
Und dann hörte ich ihn, den leisen Schrei, der mir in diesem Moment wie der Gesang eines verlorenen Kindes vorkam. Jetzt sah ich auch den Urheber des Schreis, dieser sanften Ur-Klage: Ein kleines goldiges Geschöpf auf dem Baumveteranen vor mir: Eine einsame Goldammer, die einzige Sängerin warmer Hochsommertage. Wieser flößte mir ihr heiseres ßrii – ßrii diese unerklärliche, unauslotbare Sehnsucht ein. Jetzt kam sie mir wie eine lang verlorene und wieder gewonnene Bekannte vor, an deren Verlust ich jedoch völlig unschuldig war, denn da, wo ich jetzt wohne, gibt es keine Goldammern, oder sie sind bereits ausgestorben.
Mir war, als sei die Zeit stehen geblieben. Mit vollen Zügen genoss ich diesen Stillstand, fühlte mich wieder jung und unbeschwert, wie damals, vor einer kleinen Ewigkeit. Natürlich war es ein angenehmer Trugschluss, denn meine Jugend, das muss auch gesagt werden, verlief keineswegs ohne Beschwernisse.
Eine Feuerwanze fand an mir Gefallen und erwählte mich zum Landeplatz. Ich betrachtete die flammende Schönheit. Wenn ich auch nicht an einen wesenhaften Schöpfer-Gott glaube, so bin ich doch überzeugt, dass solch ein Geschöpf in seiner feierlichen Würde kein Zufallsprodukt sein kann. Es muss eine unfassbar-umfassende Intelligenz geben, die den Plan für die Erscheinungsformen und Gestaltungen der Natur enthält, und die über Raum und Zeit steht.
Wieder sah ich mich, mit dem Käscher in der Hand, auf Insektenfang. Wie konnte ich nur! Ich tötete die gefangenen Wesen, spießte sie auf Nadeln, bestimmte sie, ordnete sie in Kästen. Ich meinte, wenn ich ihre Namen kenne, würden sie mir ihre bunten Geheimnisse verraten und vergrub mich in Bibliotheken. Ich meinte, durch das Anhäufen von Wissen einen Anteil am Unfassbaren zu gewinnen. O welch ein Irrtum! Mit dem Wissen schwand der Zauber, der über allen unbenannten Dingen liegt. Statt tieferer Einsicht atmete ich Staub!
Weiter ging mein Blick, höher, und ich erstarrte.
Verschwunden war der verträumte Märchenwald, entzaubert die grünen Höhen, entweiht die sanften Hänge. Statt Fichtenkronengezack kahle Flächen wie die Rücken urzeitlicher, schlafender Ungeheuer. Und darüber die stählernen Kolosse der Elektrizitätsindustrie, deren Rotoren in ihrer rastlosen Bewegung den Bergen ihre Ruhe und ihre Würde nahmen. In welcher Zeit leben wir, dachte ich, jetzt, wo sich die Rastlosigkeit einer unersättlichen Menschheit schon über den Bergen zeigt! Nun erschien mir der Himmel nicht mehr so groß, rund und weit wie eben noch; er kam mir eingeengt vor, unfrei, wie besiegt. Und mir wurde die Vergänglichkeit alles Schönen bewusst, die Verletzlichkeit alles Ruhenden. Die ungestörte Natur: Ein Trugbild.
Nachdenklich stand ich auf und ging zum Auto zurück. Es war ein Abschied für immer. Doch ich schied nicht in Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit, im Gegenteil, ich war voller Hoffnung. Wenn das Große auch zerfällt, dachte ich, im Kleinen wirst du immer deine Freude finden. Eine einzelne Blüte ist genauso atemberaubend schön wie eine weite Blumenwiese, eine kleine Feuerwanze genauso ergreifend wie eine Elefantenherde. Man muss es nur erkennen.

Das Mädchen

Ich steuerte den Wagen den Bergrücken hoch, durch gelichtetes Gehölz, himmelwärts – schon lag sie vor mir, die kleine Stadt „auf der kalten Haard“ (Höhe). Zu meiner großen Überraschung sah sie noch genauso aus wie damals, war ihr Anblick noch genau so märchenhaft – zumindest auf den ersten Blick: Die schwarze Stadtmauer über dem gewölbten Wiesengrund, das Gewürfel ihrer Häuser, der spitze Kirchturm, alles unter schweren Wolkenkissen wie verängstigt zusammengedrängt auf der Bergkuppe. Ich hielt an und genoss den Anblick, eine Fata Morgana aus alter, längst vergangener Zeit. Nun ja, die Neubaugebiete sah ich nicht, die lagen hinter dem Berg. Einem hochweisen Stadtrat war es offensichtlich gelungen, diese Seite vor dem „Wachstum“ zu schützen.
Im Städtchen fand ich ohne zu suchen einen anderen meiner Sommerwege, eine alte enge Kastanienallee mit mächtigen Baumgestalten, deren Stämme und Kronen zu einem gotischen Hallenbau verschmolzen. Hier herrschte auch an hellen Sommertagen mystisches Dunkel. Ich war den Weg ein paarmal gegangen, wenn ich das Bedürfnis verspürte, aus der rasenden Helligkeit eines wolkenlosen Julitages in wohltuend feucht-kühle Dunkelheit einzutauchen und meinen Träumen nachzugehen. Ja, ich gestehe ohne zu erröten: Ich war ein Träumer, und ich bin es immer noch, der aber, das kann ich ohne falsche Bescheidenheit sagen, im Leben einen guten Weg gefunden hat. Ja, ich bin ein Träumer, der im im Tagtraum nicht Müßiggang, sondern die Suche nach der anderen Seite der Münze sieht, die Realität heißt. Ich meine hier nicht das verquere Durcheinander, das sich häufig kurz vor dem Aufwachen nach unruhiger Nacht einstellt; es ist das letzte, verzweifelte Aufbäumen der Nachtgestalten vor dem Untergang. Ich meine diese traumhafte Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die andere anscheinend nicht sehen, dieses reine Gespür für Ereignisse, die noch weit in der Zukunft liegen, diese unbewusste Fähigkeit, persönliches Schicksal vorauszuahnen, von dem der Verstand noch nichts weiß.
Und gerade dieser Weg, der dunkelste und gleichzeitig auch der hellste aller meiner Wege, sollte zeigen, dass meine Träume keineswegs Schäume waren. Obwohl ich ihn nie bis zum Ende gegangen bis, hat er mich doch in traumwandlerischer Sicherheit ans Ziel gebracht. Er war ein Teil des guten Weges, der mich durchs Leben führte.
Eines sommersonnendurchfluteten Tages, der unzählige Lichtpfützen auf den Boden der schattigen Allee zauberte, kam mir ein junges Mädchen entgegen, in einem geblümten Sommerkleid und mit ernstem Gesicht, einen großen struppigen Hund an der Leine. Das Tier, ein gutmütig-täppischer Geselle mit einem wachsbleichen Fell und einer Unzahl verschiedenrassiger Vorfahren, drängte mit allen Anzeichen der Freude zu mir hin, das Mädchen, etwa in meinem Alter, blieb stehen und sah mich fragend-lächelnd an. Auch ich blieb stehen und ließ den Hund schnüffeln.
Nein. Ich habe nie Angst vor Hunden verspürt, höchstens Unwillen bei Kläffern und Abscheu vor diesen nacktgesichtigen Kampfhunden. Wir schauen uns in die Augen, der Hund und ich, und wissen Bescheid. Nämlich, dass wir beide Träumer sind. Ja, manche Hunde träumen tief und gründlich, das hört man, wenn sie im Schlaf jaulen und stöhnen. Dieser Hund nun erkannte, dass wir beide, er und ich, von ähnlicher Empfindsamkeit waren: Auf beiden Seiten kam Sympathie auf, nur schwer konnte ich seine Liebkosungen zügeln. Wir schieden in der allerbesten Freundschaft. Und wieder, im Weggehen, lächelte mir das Mädchen zu.
Die Allee unterbrach sich am Friedhof des Städtchens, um am anderen Enden weiter zu führen. Ich trat aus der Dämmerung in die strahlende Tageshelligkeit wie der Schmetterling aus dem Kokon. Und auf einmal sah mir die Welt völlig verändert aus. Plötzlich war das Zauberreich der Natur ein schnöder Schein, ihre verwirrende Vielfalt ein falscher Rausch, der Gesang der Vögel ein hölzernes Klappern. Irgendetwas war mit mir geschehen, irgendetwas, das ich mir nicht erklären konnte.
Natürlich, heute weiß ich es. Das unbekannte Mädchen mit seinem Lächeln hatte meine Sinne betört, ihre Augenküsse hatten in mir etwas geweckt, das ich bis dahin noch nicht kannte: Die Elementargewalt der Frauenliebe, gegen die es keine Versicherung gibt. Jetzt, wo die Erinnerung aufsteigt wie Nebelschwaden aus feuchten Tälern, will ich nicht unbedingt behaupten, dass die Veränderung auf einmal geschah, wahrscheinlich vergingen Tage und Wochen. Doch eines zeigte sich schon wenige Stunden danach: Die Zeit der trägen Selbstversunkenheit war dahin.
Und noch etwas anderes löst aus dem Schutt der Alltags-Erinnerungen und kommt ans Licht des Wieder-Bedeutsamen.
Auf dem Friedhof fand gerade eine Beerdigung statt, die weihevoll-ernsten Worte des Geistlichen durchtönten die Luft. Ich wollte schon weitergehen – Tod und Sterben sind kein Thema für die lebensfrohe Jugend – da blieb ich erstaunt stehen: Da stand das Mädchen, mitten in der zahlreichen Trauergemeinde – ich sah deutlich das geblümte Kleid – und blickte zu mir herüber. Nun das Erstaunlichste: Mir kam es vor, als habe ich dieses Bild hier schon einmal gesehen, ein Déjà-vu-Erlebnis also, doppelt unerklärlich, denn ich war noch nie auf diesem Friedhof gewesen, und die Kleine war ja vor wenigen Minuten die Allee hinabgegangen. Während ich noch über diese seltsame Verwirrspiel nachdachte, geriet die Trauergesellschaft in Bewegung, auf das Grab zu; auch das Mädchen trat einen Schritt vor, und nun löste sich das Rätsel: Was ich für das geblümte Kleid gehalten hatte war ein blühender Rosenstrauch gewesen. Und doch, ich verspürte weder Ernüchterung noch Enttäuschung, sondern die unbestimmte Vorahnung zukünftiger, noch unbenannter Ereignisse. Heute weiß ich: Ich, der jungalte Träumer, hatte, ohne es zu ahnen, in die Zukunft geschaut, denn ein paar Jahre später stand ich wieder auf diesem Friedhof, und mir gegenüber das Mädchen, jetzt wirklich.
Wir standen am Grabe ihres Onkels, einem meiner Lehrer, der an sich und unter seinem Beruf gelitten hatte. Ein einsamer, unverheirateter Mann, der in seiner Wohnung so viele Bücher stapelte, dass die Wände Risse bekamen. Unerklärlich war eine Art Verwandtschaftsgefühl, das mich mit ihm, dem damals noch völlig Fremden, verband. Es wäre mir unmöglich gewesen dieses Gefühl zu beschreiben, geschweige denn zu begründen. Äußerlich war dieser Mensch in allem anders als ich: Stattliche Figur, gelbliche Gesichtshaut, schwarz-glänzende Haare, während ich eher zu den Bleichgesichtig-Unscheinbaren gehöre. Bei einem Verkehrsunfall hatte er ein Bein verloren, er trug eine Prothese.
Wieder sehe ich seinen unregelmäßigen Gang und höre das harte Aufsetzen des Prothesen-Schuhs. Woher also kam dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das auch der Grund war, warum ich mich als Vertreter der Schülerschaft bereit gefunden hatte, an der Beerdigung teilzunehmen? Heute weiß ich es. Es war das unbewusste Wissen, dass ich bald zu seiner Familie gehören würde. Doch auch er muss ähnlich empfunden haben. Er lieh mir Bücher aus, deren rauchiger Duft mir jetzt wieder in der Nase liegt, unter anderem einen schmalen Band mit eigenen Gedichten. Das spornte mich an, selbst zur Feder zu greifen, wie man so sagt. Heraus kamen jauchzend-betrübte Herzensergüsse, voll von oh und ach. Ich entblödete mich nicht, Hölderlin zu imitieren: Aus

Ihr wandelt droben im Lichte, selige Genien​

wurde:

Ich wandere oben mit Nichte und bitt sie auf Knien . . .​

Eine Schande, auch wenn ich die Jugendlichkeit des Verfassers bedenke. Doch eines dieser Erzeugnisse einer verwirrten Seele habe ich noch aufbewahrt, denn mir scheint, damit ist mir schon frühzeitig ein gültiges Selbstporträt gelungen (möglicherweise stammt es aber doch aus einer späteren Zeit)

Ich
Halt mich vom Ehrgeiz fern
leb´ in der Sonne gern,
bau selbst, was mich ernährt,
schau, was mir Lust gewährt:

Da nagt und sticht
der Feind mich nicht,
hab keine andre Not
als Alter, Krankheit, Tod.​


Aber ich greife vor, zurück auf den Friedhof.
Diesmal schwitzt die Luft nicht, sie friert. Ein Kälteeinbruch hat Mensch und Tier zur Besinnung gebracht. Auf der anderen Seite des Grabes also, mir gegenüber, steht ein großes Mädchen mit zwei großen, hellen Augen und kurzem dichtem leuchtendem Haar, das Gesicht voll verhaltener Trauer. Auch ich kämpfe mit den Tränen; nicht wegen des früh Verstorbenen, dessen unterrichtender Redeschwall mir nie behagt hat, sondern aus Ergriffenheit über die Worte des Geistlichen, einem Meister der Trauerrede. Ich hatte damals noch nicht Glück und Gelegenheit, das Wachsen und Erblühen eines weiblichen Körpers und die Veränderungen, die sich daraus ergeben, mitzuerleben, denn ich bin unter lauter Brüdern und Neffen aufgewachsen. Deshalb bleibt die junge Dame zunächst hinter dem Vorhang des Unbekannten verborgen (und ihr geht es, wie sich später herausstellte, auch nicht anders). Erst als sie zu mir herübersieht fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Es ist das Mädchen mit dem Hund. Und schon stellt es sich wieder ein, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gefühl schicksalhafter Verbundenheit.
Ich kürze hier ab.
Jahre, Jahre später.
Mir gegenüber, an der Hochzeitstafel eines Studienfreundes, sitzt eine hübsche junge Frau mit zwei großen, hellen Augen und kurzem dichtem leuchtendem Haar. Wir blicken uns an, wir erkennen uns wieder – und schon springt der Funken über, der die aufgestaute Macht des Schicksals zur Explosion bringt.
Sechs Monate später sind wir ein Paar . . .

Nahes Donnergrollen: Ein Gewitter zog auf.
Zurück zum Parkplatz, Eile war geboten. Zügig ging durch die Straßen der Stadt und kam an dem kleinen Park mit dem Kriegerdenkmal vorbei. Auch die Blutbuche stand noch, damals neben, jetzt über der Erinnerungsstätte, und tauchte sie in gruftige Dämmerung. Ihr ausgedehntes Laubwerk glich einem gewölbten Blut-Meer. O welche Sinnfälligkeit! Blut und Buche – Blut und Boden! War es Gedankenlosigkeit oder Absicht, das Denkmal gerade neben diesen Baum zu stellen?
Übrigens. Ich habe Blutbuchen nie gemocht. Ihr düsteres Aussehen stößt mich ab, außerdem saugen sie zu viel Licht auf. Es sind die größten Egoisten der Pflanzenwelt, zudem auch noch charakterlose Gesellen. Jeder andere Baum steht zu seiner Natur – sie nicht. Im Frühjahr ist ihr Laub hellrot, im Hochsommer blutrot, danach braunrot, und zum Herbst hin wird es grün. Ständig wechseln sie die Farbe, als hätten sie etwas zu verbergen. Die reinsten Wendehälse. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum es keine Blutbuchenwälder gibt. So viel hinterhältige Verstellung wäre kaum zu ertragen.
Ein greller Blitz, ein krachender Donner: Das Gewitter brach los.

Die Großmutter

Das Unwetter verschied so schnell, wie es geboren war; ein Platzregen von ungewöhnlicher Stärke hatte der Naturgewalt die Kraft geraubt. Schon zeigte sich die Sonne wieder hinter milchigen Dunstschleiern. Uns ich, befangen in alten Erinnerungen, zögerte keinen Moment, einen weiteren meiner Sommerwege zu besuchen. Ein Hinweisschild
Kulturdenkmal Hohler Stein, 1,2 Km

hinderte mich daran, mein Auto in Richtung Reiseziel zu steuern. Die Verlockung war zu stark. Ich hoffte nämlich, auf diesem Weg jemanden anzutreffen, den ich damals innig geliebt hatte: Meine Großmutter väterlicherseits, mit der ich diesen Weg ein- oder zweimal gegangen war. Wie groß diese Verbundenheit gewesen war, merkte ich erst an ihrem Grab (schon wieder ein Grab); ich hatte das Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen.
Ich verzichte auf eine genaue Beschreibungen dieser außergewöhnlichen Frau; auch schürfe ich nicht in ihrem reichhaltigen Geschichtenschatz. An anderer Stelle habe ich dies ausführlich getan.
Wieder sind wir unterwegs, diesmal, um den Drachen steigen zu lassen. Der Weg führt durch ein breites Tal, das von bewaldeten Hängen flankiert wird und leicht ansteigt; eine Art Korridor für Winde, wie sie Drachen lieben. Tags zuvor hatten wir den Drachen gebastelt, ein Kreuz aus leichten Stäben gelegt und verschnürt, die Ecken mit Packschnur verspannt, das bunte Drachenpapier verklebt, die Ohren aus Papier geschnitten und angebunden, den Schwanz in gehöriger Länge geknüpft und fest vertäut. So zogen wir dann los, an einem sonnigen Septembervormittag, die Großmutter trotz ihrer siebzig Jahre mit noch festem Schritt, ich an ihrer Seite, durchdrungen vom Ehrgeiz, mitzuhalten – ja, so muss es gewesen sein.
Als dann der Drachen in die Höhe stieg, glühend im Sonnenlicht – ach, wie wohl war mir da! Wie kam mir das Leben so schön vor, die Natur so übervoll an Formen und Farben! Die Großmutter zog ein weiteres Knäuel Schnur aus der Tasche zog (denn halbe Sachen liebte sie nicht). Mit einer Hand hielt ich den Drachen, mit der anderen umarmte ich sie. Hatte ich keine Eltern? Doch! Aber die waren weit weg, obwohl wir gemeinsam in einer Wohnung wohnten.
Heute weiß ich, warum sich die Großmutter und ich so nahe standen. Es war dieser unerklärliche soziale Magnetismus, bei dem sich gleich Gepoltes nicht abstößt, sondern anzieht. Anders ausgedrückt: Wir beide waren von der gleichen Art. Sie, immer einen scharfen Witz auf der Zunge, ich, immer einen argen Schabernack im Kopf. Sie eine stramme Fußgängerin, ich ein Wanderer auf weiten Wegen. Sie aus tiefstem Herzen fromm, ich, später, ein arger Gottesleugner. Ja, Gottesanbeter und Gottesleugner sind zwei Seiten derselben Medaille. Was wäre Gott ohne seine Leugner! Doch wenn ich versuchte, ihren Glaubensschatz anzutasten, schüttelte sie nur den Kopf und sagte: „Ach, Jungche!“ Dann schloss sie mich in ihre Gebete ein.
Und tatsächlich! Da stand sie, an einer Wegbiegung, und blickte mir entgegen. Wieder hörte ich ihre Stimme, ihren singenden Tonfall: „Na, Jungche, wo bleibst du denn?“ Ach, was gäbe ich darum, dieses „Jungche“, noch einmal ganz nah an meinem Ohr zu spüren, wieder diesen Geruch nach Kernseife und Mottenkugeln zu schmecken, den ihre Kleidung verströmte . . .
Natürlich stand sie da nicht wirklich. Ein krummer Eichenpfahl hatte mir ihre Gestalt vorgegaukelt. Allerdings bin ich mir jetzt nicht mehr sicher . . . Gestorben war sie, daran besteht kein Zweifel, denn ich habe ja an ihrem Grab gestanden. Aber sie ist keineswegs tot, nicht für mich, in meinen Träumen lebt sie noch, und in meinen Erinnerungen. Denn solange sich noch jemand an einen Menschen erinnert, solange ist er noch nicht wirklich tot.

Der Hohle Stein

Der Weg verließ das Tal und bog in den Wald ein, in dem mich der warme Dunst der nachgewitterlichen Erde empfing. Der dampfende Wald, die gute Stube der Natur, war mit allerlei Zierrat ausgestattet: Die runden Wände beschlagen mit dem samtgrauen Flor der Flechten, Sofas und Sessel bedeckt mit weichen Moospolstern, die Tische verziert mit Bulten weißschöpfiger Sumpfgewächse, auf dem Boden Teppiche geknüpft aus dem Garn rötlich schimmernder Waldkräuter. Dazwischen, mausgrau und nackt, bauchige, violette Schatten werfende Felsenkissen. Alles glänzte fiebrig, wie von schwerer Krankheit gezeichnet. Auf einer Lichtung genoss eine Schar halbwüchsiger Pappeln die neue Freiheit.
So schritt ich dahin durch wunderliche Zwergenwälder aus Farnen, Schachtelhalmen und anderen mönchisch lebenden Kindern des Waldgottes (denn wie man sie auch dreht und wendet, man findet nicht eine Blüte). Und überall tropfte es; von oben, von unten, von hinten, von vorne, weiß Gott, woher die Tropfenheere kamen, das Gewitter hatte sich doch schon längst verzogen. Bald war ich durchnässt bis auf die Haut. Mir war´s einerlei; umkehren, so nah vorm Ziel, ist meine Sache nicht.
Je höher nun ich stieg, desto mehr lichtete sich der Wald, verlor er seine naturgegebene Ordnung. Ein Chaos durcheinander gewirbelter Baumstämme empfing mich, zu riesigen Wogen aufgeworfen oder wie in rasender Wut zersplittert, Geäst und Gelaub zu wüsten Haufen geballt: Der Wald war zerschlagen bis auf den Grund. Nun erkannte ich, dass die Tropfen Tränen gewesen waren; die Bäume hatten harzige Tränen der Verzweiflung geweint.
Die Ursachen sind bekannt; also schweige ich dazu.
Endlich ein Hinweisschild, dann ein Blick über kahle Flächen in dampfende Höhe: Da lag er vor mir, der Hohle Stein. Auf runder Bergkuppe lag er, wie ein uralter grauweißer Riesenhai, mit einer Haut aus Angst und Schrecken, vor Jahrmillionen gestrandet, das zahnlose Riesenmaul aufgerissen und in gewaltiger Gähne erstarrt.
Ich kletterte einen schmalen Steig hoch und betrat die Höhle. Bleiche Erde, abgeschliffene Felsen, leere Bierdosen, sonst: Hallende Leere. Weiter hinten ein Spalt, dessen schwarze Unergründlichkeit mich lockte. Jetzt eine Maus sein, dachte ich, was würde ich vorfinden? Weitere, unbekannte Höhlenwelten, mit Wiesen, Wäldern, Städten und Dörfern, von der Glut der Erde genährt? Mit Bewohnern, die ohne Gier und falsch verstandenem Gottesglauben friedlich miteinander auskommen? Wieder musste ich an die Großmutter denken, die mir einmal zuflüsterte, als verriete sie ein großes Geheimnis: „Das liebe Gottche wird schon für dich sorgen!“ Das liebe Gottche! Ihr liebes Gottche! Ja, sollte es ihn wirklich geben, dann er hatte für mich, den Ketzer, wirklich gesorgt, da bin ich mir jetzt sicher. Wäre es möglich, dachte ich, dass die Großmutter den richtigen Gott kannte, während die Welt nur Götzen anbetet?
Ich stieg den Pfad wieder hinunter und stellte mich vor die Tafel mit den Erklärungen. Da hatte hier also der Urmensch zwanzig-, dreißigtausend Jahre gewohnt. Hatte Kinder geboren, Tote begraben, Hochzeiten und Siege gefeiert, Niederlagen erlitten. Hatte mit Pfeil und Bogen Bären und Elche gejagt oder auf der faulen Haut gelegen. Seine Priester hatten ihm gesagt, dass sich hinter allen Naturerscheinungen Götter verbergen, und er hatte es geglaubt, denn nur die Götter besitzen die Gewalt, Feuer und Wasser vom Himmel zu werfen. Hatte sich nicht den Kopf mit Vergangenem oder Zukünftigem schwer gemacht. Ein Tag war wie der andere, zwanzig-, dreißigtausend Jahre lang. Ein gleichförmiges Fließen der Zeit im Wechsel der Jahreszeiten. Unvorstellbar, dass es jemals anders kommen könnte.
Ich blickte zurück, in den Rachen des Hais. Da lag es, das Riesenmaul, schwarz, leer und doch voll brausender Fülle. Es war die Zeit, die ihm entströmte, unhörbar, unablässig, mit gnadenloser Konsequenz. Denn woher sollten sie denn gekommen sein, all die Jahre, die hinter uns liegen; und woher jene, die wir noch vor uns haben? Mit ihrer zerstörerischen und aufbauenden Kraft? Wenn nicht aus dem Inneren der Berge?
Mich schauderte.
Ich kannte die Gegend, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte, Wie sah sie jetzt aus? In weiten Teilen hatte sich die Zivilisation, wie Brand, in die kostbare Haut der Erde gefressen. Gut, noch gab es stille Täler und einsame Höhen. Doch wie lange noch? Wie würde die Gegend in zwanzig-, dreißigtausend Jahren – –
Ein fremdartiges, knirschendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken und bog sie in eine andere Richtung. Es hörte sich an, als würden Steine zermahlen. Unwillkürlich blickte ich hoch zu dem Felsenschlund. Doch der gähnte unbewegt, wie er schon seit Urzeiten gähnte. Waren es steinefressende Finsterlinge, die sich aus den Tiefen der Höhlenwelten aufmachten, um mich, den Eindringling, zu vertreiben? (Nein. Es war eine Kiesfabrik auf der anderen Seite des Höhenzuges.)
Das Lichtspieltheaters des Sonnenunterganges begann. Über einem fernen Haufen müder Wolkenkrieger, die ihre Schlacht geschlagen hatten, ein grünblauer Himmel, der sich allmählich rot färbte. Noch einmal zeigte sich die Sonne und schoss sieghafte Lichtpfeile ab. Dann schoben sich dunkle Wolkenschiffe heran und hüllten sie ein. Weiter oben hing ein müder schiefer Mond.
Ich trat den Rückweg an.

(Aus: Ochsenbacke, Die Geschichte meiner Jugend.)
 



 
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