Merk dir das: vergiss es!

LL_aktuell

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Merk dir das: Vergiss es!


Manchmal merkt man: Diese Person gegenüber hat eine Vergangenheit. Eine, wie wir sie nicht haben. Die Person hatte Umgang mit Gewalt, Bandenkriegen, Drogen, Polizei, Gefängnis, irgendwie sowas – der dunklen Seite der Welt, mit der Norm-Bürger nichts zu tun haben, haben wollen. Ein Wechsel von der einen auf die andere Seite ist nicht vorgesehen.

Bis heute weiß ich nicht, was Chandujah genau erlebt hat, aber als er da um vier Uhr nachts im Gang meiner Wohnung stand, da war mir klar: dieser Mann könnte auch Drogenverkäufe abwickeln, illegale Waffenlieferungen, tödliche „Unfälle“ organisieren. Man sagt immer so: 'Mit dem könnte man Pferde stehlen.' Bei Chandujah bin ich sicher: der hat schon Pferde gestohlen.

Da stand er also, mir gegenüber vor der Gästetoilette die ich danach nicht mehr mit den gleichen Augen betrachten würde. Er hatte die Hände fest an meinen Schultern, so dass ich mich auf ihn konzentrieren musste. Er ließ meinen Blick nicht los und sagte klar und deutlich, so dass sich die Worte in meinen Kopf hämmerten wie mit einer alten Schreibmaschine geschrieben: „Merk dir das: Vergiss es. Das ist nicht passiert. Es ist einfach niemals geschehen. Ganz einfach. Es ist einfach nicht passiert.“

Er hatte mir mal erzählt, er wäre früher in einer Gang gewesen,. Dieser kleine drahtige Inder im Anzug mit schicken Schuhen. (Er hatte wirklich schicke Schuhe, schwarz, elegante Form, und immer top geputzt.) Ich wunderte mich auch, dass er ausgerechnet mir das erzählte. Ich bin wohl einer dieser Menschen, denen sich andere Menschen öffnen, auch wenn es völlig unangebracht ist. Wie dieses Mädchen in der U-Bahn, das mir erzählte, ihr Freund habe vor zwei Stunden noch Sekt aus ihrem Bauchnabel getrunken. Ich kannte die gar nicht! Wirklich nicht, ich hatte sie zweimal vorher gesehen, im Sinne von Hallo-sagen und Nicken, mehr nicht! Ich weiß nicht mal, wie sie heißt. Und jetzt Chandujah wieder. Von dem weiß ich immerhin den Namen.

Wir waren Kollegen, reine Arbeitskollegen, Berater, trafen uns nur in der Arbeit, beim Kunden. Die Büros strahlten Hochglanz-Professionalität aus, ein riesiger Turm mit Glasfassade, High-Speed-Lifts, Designer-Anzügen und hauseigenem Flughafen-Shuttle. Gott fühlte ich mich wichtig, als ich mit meinen High-Heels in das Shuttle stieg; der Fahrer fragte: „Airport?“ und ich nickte nur. Natürlich, da arbeitet man bis spät in die Nacht, natürlich, natürlich, da gibt es keinen Platz für Privatleben, natürlich, natürlich, natürlich, wenn es länger wurde, trank man schon mal eine Flasche Sekt aus dem Eckbüro vom CEO. „Länger“ fängt da auch nicht um fünf Uhr abends an oder um sechs. Nein, nein, „länger“ fängt ab acht, halb neun an. Es gibt nur die Arbeit, Projektfortschritt, Kosten bei Verspätung, Performance von Mitarbeitern „Der muss liefern, sonst fliegt er!“, Zahlen, Deadlinies, Budget – es ging um Erfolg, Macht, Geld – nicht um Sex.

Wen verarsche ich hier, natürlich ging es auch um Sex. Dazu später mehr.

War das in der dritten Woche – also beim vierten Karton Sekt – als Chandujah anfing, mir seltsame Sachen zu erzählen? Seine Frau war schwanger zuhause in Indien, er musste sie heiraten. „Also liebt ihr euch nicht?“ fragte ich, als sei es das normalste auf der Welt. „Doch, doch“, antwortete er und schwieg. Glaube ich ihm das? Keine Ahnung. Klang mehr nach einem Satz, den man so sagt. Vielleicht liegt mein Zweifel auch in dem, was er weiter erzählte. Dass man ja nicht treu sein müsse. Wobei, er wolle ja nicht untreu sein. Es sei doch normal, sich noch eine Frau am Arbeitsort zu suchen. 7000 Kilometer Entfernung – das war für ihn ein glasklares Argument. In Puducherry war seine Frau. Puducherry hab ich mir gemerkt. Wegen Cherry, Kirschen. Chandujahs Frau war für mich so zart wie ein Baum voller Kirschblüten in ihrer unfassbaren Schönheit. Aber zu weit weg halt. Da sucht man sich da eine Frau vor Ort, oder? Oder ist das nur die komische künstliche Welt des internationalen Consultant-Jet-Sets?

Ich war als Objekt der Begierde außen vor. Tatsächlich lebte ich in der Stadt in der wir arbeiteten. Auch ein Status-Symbol in dieser Welt des Internationalen Beratertums. Sie arbeiteten sich hoch in Indien, Marokko, Thailand , besuchten gute Schulen, nehmen Kredite auf für maßgeschneiderte Anzüge, um dann wurden sie eingeflogen, dorthin wo wirklich Geld zu machen ist: Westeuropa! Wo der Strom nicht ausfällt, die Apartments 24 Stunden heißes Wasser haben und keine Ratten über die Straße laufen. Deutschland. Das gelobte Land. Dort bin ich aufgewachsen und fahre morgens mit dem Rad zur Arbeit. Wegen der Umwelt.

Chun, unsere Zahlenakrobatin, kam von noch weiter weg als Chandujah. Chun war Chinesin. Chun – geschrieben C H U N gesprochen SCHUN, Schun wie schön, und das war sie, schön. Die schöne Schun, so bleibt sie mir im Gedächtnis. Sie benahm sich, als wär‘ sie aus Zucker. Selbst ich war hingerissen von ihrem Liebreiz. Noch mehr war ich beeindruckt wie leicht sie Bilanzen rechnen konnte, im Kopf, als würde sie im Supermarkt schnell die Summe ihres Einkaufskorbes überschlagen. Ja, das war ihre Eintrittskarte in unser reiches Land. Aber bleiben durfte sie wegen ihres zarten Kicherns und bravem Nicken. Dass die Röckchen und Stöckelschühchen Garnitur waren wie die Petersilie auf dem Schnitzel, das fällt mir nur im Rückblick auf.

Chandujahs Augen waren auf Chun gefallen. Sie war auch eine internationale Consultantin, so wie er, die gleiche Kategorie in seinen Augen: Sie waren Glücksritter. Im Gegensatz dazu waren wir erhaben, wir strahlend weißen Westeuropäern, einfach in diesen Reichtum geboren, wir Deutschen, die besonders hart arbeiten und alles fertigkriegen. Wir waren Elben, Chandujah und Chun waren Hobbits.

Leider sah Chun das anders. Chandujah war nur ein Techniker, ein kleiner Netzwerk-Experte, wie sie Indien Tausende – ach was sag ich, Hundertausende – zu bieten hat. Ein IT-Inder. „Das ist die beste Art, für einen Inder, reich zu werden – zumindest legal.“ Wieder dieses grenzübergreifende Erzählen. Er zwinkerte dabei. Das muss wohl in Woche fünf gewesen sein, Sektkarton sieben. Ich machte „Mhm“ und nickte. Er redete leider weiter:

„Ich habe eine andere Vergangenheit. Ich war in einer Gang.“

Diesmal zwinkerte er nicht, sondern schaute nur. Ich schaute auch und schwieg. Bis heute fällt mir keine passende Antwort ein. „Ach, interessant“? „Ja, passt zu dir“? „Ja, ich auch“?

Etwas betreten blickte ich bald wieder auf meinen Bildschirm.

Bis zu dem Abend dachte ich nicht mehr daran.

Chun hätte er das wohl nicht erzählt, die wollte er ja rumkriegen. Aber Chun wusste wohl, was sie wollte. Chandujah wollte mit einer Menge Geld wieder nach Hause und bis dahin gut unterhalten werden. Chun wollte nicht mehr nach Hause. Sie strebte nach Höherem – rein im übertragenen Sinne. Der Mann, nachdem sie strebte, war tatsächlich ziemlich klein. Aber er war mächtig. Und er war Deutscher. Ein Deutscher Manager, wie er im Buche steht. Seinen ersten Porsche hatte er mit 30 gekauft, „Selbst verdient!“ wie er betonte mit dem Zeigefinger in der Luft.

Während wir schliefen managte er Projekte in Amerika, während wir wach waren managte er uns. Armin. Ein kerniger Name für einen kernigen Deutschen. Armin wusste immer Bescheid, die ganz großen Bosse finanzierten ihn und es wurde immer getan, was er sagte – wir taten, was er sagte. Er sprach schnell, laut, deutlich, Armin erlaubte nur die Besten der Besten um sich. Er schmiss alle Woche einen Berater raus, heuerte jemand neuen an und feuerte nächste Woche den nächsten. Oder den neuen, je nachdem. Armin hatte den Schlüssel zum Kühlschrank vom CEO. Privatleben hatte er auch keines, außer natürlich daheim; die statusgemäße Frau mit zwei Kindern. Seine Tochter hieß Chayenne – wie der Porsche. Aber die waren nicht dort, wo wir arbeiteten. 700 Kilometer weit weg, ein Nuller weniger als Chandujah, aber wer wird denn kleinlich sein.

Es kam wie es kommen musste – das Projekt war fast fertig, übern Berg, und wir hatten Grund, zu feiern. Wie feiert man, wenn man schon Sekt wie Wasser trinkt? Richtig, mit einem sehr teuren Festmahl. Viele Leute waren ins Restaurant eingeladen, Austern, Kobe-Rind, Schokomousse mit Safran-Fäden. Wein mit Geschichte, Südhang, Sonne, handverlesen. Ich weiß es schon gar nicht mehr. Wie dem halt so ist. Wichtig ist bei solchen Essen auch nur, dass man noch zur Afterparty geladen ist. Nur der „inner circle“ zieht weiter in die nächste Bar, die, denen man vertrauen kann. Ich dachte, da wird über geheime Details geredet, wer welchen Posten kriegt, dachte an Sätze wie „und dann kannst du doch die Programmleitung übernehmen.“ Ein, zwei Wochen nach solchen Feiern werden doch die neuen Chefs und Umschichtungen bekannt gegeben, richtig?

Die neuen Jobs haben tatsächlich mit solchen Nächten zu tun, aber erstaunlicherweise wird nicht darüber geredet. Die Hintergründe sollten wohl überwiegend vergessen werden. Zumindest in dieser Nacht. Das hat mir Chandujah eingebläut: „Merk dir das, vergiss es.“

Meine Erinnerung an den Abend beginnt erst richtig auf dem Weg zur Bar. Mir war klar, dass ich im Inner Circle war, das erste Mal. Das Adrenalin machte mich wieder wach. Es sollte in eine kubanische Bar gehen. Chun ging mit Chandujah vorneweg, von seinem Arm gestützt. Chun und ich waren vorher gemeinsam einkaufen gegangen, wir hatten dieselben hohen Schuhe in Nude und dieselben niedlichen Röcke, niedlich, weil sie so kurz waren. Armin und ich liefen hinter den beiden. Hinter uns noch ein paar Kollegen, ein Inder, ein Ire, Glücksritter wie Chandujah und Chun. Ich kam auch ohne Stütze von Armin zurecht. Die Unterhaltung mit ihm war zäh und abgehakt, ganz im Gegensatz zu Chuns kreisenden Hüften vor ihm. Auch ich fiel ihrem Bann anheim. Es war wirklich ein niedlicher Rock.

In der Bar wählten wir gar nicht selbst, Armin bestellte für alle Cocktails. „Mmh, sehr gut, ausgezeichnet. Nein nicht zu stark, das bisschen Rum, der Zucker hilft.“ Für die Herren orderte er Zigarren. Ich dachte mir noch: „Wenn die jetzt rauchen, wo sie es nicht gewohnt sind, auf die Menge Wein und Rum – denen wir speiübel in zwei Stunden.“ Dank dem Glas Rum mit einem Spritzer Zitrone musste ich mir erstmal Gedanken um meinen eigenen Magen machen.

Und dann saßen wir im Taxi, zu mir. Es war ein Großraumtaxi. Chun saß vorne beim Fahrer mit Armin. Hinten saßen wir anderen, fünf waren wir noch. Dass wir zu mir gefahren sind? Nee, das war nicht meine Idee. Armin stand da und sagte: „Und jetzt fahren wir alle zu dir.“ Weil ich die Einzige war, die in der Stadt lebte. Er hatte diesen Gesichtsausdruck, der keinen Widerspruch duldete, weißt du, wenn jemand den Kopf senkt beim Reden? Und dich dann so ganz fest anschaut? So hat er das gesagt. Wie wenn er sagte: „Bis heute Abend bringst du mir die aktuellen Zahlen.“ Und so fuhren wir dann alle zu mir.

Ich hatte nur Wodka da. Wodka, Cola und Orangensaft. Das sagte ich auch allen als wir in die Küche gingen. Zwei hatten wir unterwegs verloren, einer war irgendwo ausgestiegen, der andere war im Taxi sitzen geblieben und weiter nach Hause gefahren. Das hätt ich auch gern gemacht. Also, du weißt schon, allein nach Hause fahren. In der Küche landeten nur Chandujah, Punyakiran und ich. Punyakiran war auch so ein IT-Inder, ganz netter Kerl, rundlich, gemütlich, mit Schnauzer. Er hatte uns schon ein paar Mal den Arsch gerettet, weil er Serverprobleme schneller lösen konnte als Armin. Der war im Gang zurückgeblieben, er müsse mal. ‚Die Zigarren …‘, dachte ich mir. Chun meinte „ich helfe ihm.“ Bisschen verwirrend, aber ihre Sache. Stand ich also allein mit Chandujah und Punyakiran in der Küche und machte Wodka O. Chandujah erzählte eine wirre Trinkgeschichte über Wodka, Istanbul und eine Kirche. Ich lachte übermäßig viel. Nicht nur, weil ich eine tolle Gastgeberin sein wollte, und nicht nur weil Chandujah im Falsett sprach und dabei so nett mit dem Kopf wackelte. Ich lachte, weil ich mich wohl fühlte. Die beiden Jungs waren null unangenehm. Sie hatten den ganzen Abend auf mich aufgepasst, beim Ein- und Aussteigen aus dem Taxi, dass ich nicht stolperte, mir Türen aufgehalten, den Stuhl in der Bar zurechtgerückt. Keiner von beiden hatte mich schräg angemacht, auch nach Cocktails und Shots waren sie höflich und behutsam gewesen. Ich fühlte mich sehr Teil ihrer Gruppe, auf die sie behüteten.

Irgendwann fiel uns dann schon auf, dass Armins Abwesenheit etwas lang dauerte. Und Chun? Wo war eigentlich Chun? Das Gästeklo war aus der Küche nicht zu sehen, der Gang ging ums Eck. Weiß der Teufel was mich geritten hatte, aber: irgendwo zwischen dem Wodka und den Saufstories meinte ich „Ich schau mal schnell nach Armin und Chun.“ Ich hatte Angst, dass mir die beiden alles vollkotzten. Ja, ich weiß wie lächerlich naiv das ist. Dauerte auch nicht lang, die Naivität.

Ich bog ums Eck und sah schon: die Tür von der Gästetoilette war offen. Die ging zu mir hin auf und stand Dreiviertel offen, blockierte also den Blick rein aus meiner Perspektive. Ich Depp bin weitergelaufen. Schließlich bin ich an der Tür vorbei und konnte komplett reinschauen. Da dachte ich denen geht’s nicht gut. Stattdessen sah ich Armin wie er Chun runter drückte. Chun stützte sich vornübergebeugt auf der Kloschüssel ab, Rock um die Knie, Strumpfhose runtergerissen, war das Blut am Oberschenkel? Schwer zu sehen, Armin hörte ja nicht auf sich zu bewegen. Beide sahen mich an. Armin mit dem Blick bei dem man nicht widersprechen konnte, und Chun – der Blick hat sich mir ins Mark gebrannt, große, weite Augen, Augenbrauen zusammengezogen, flehend, ängstlich.

Ich drehte auf dem Absatz um und lief zurück.

Keine Ahnung warum ich nichts gesagt habe. Mein Hinterkopf meint heute noch, das muss alles mit Freiwilligkeit geschehen sein. Chun hatte es doch darauf angelegt, hatte sie nicht? Jetzt, Jahre später weiß ich ganz klar: nee, in dem Blick war keine Freiwilligkeit. Ich glaub den Jungs war das auch klar. Sie hatten sich inzwischen auf die Couch gesetzt, und der Blick in meinem Gesicht sagte wohl genug. Sie machten mir den Platz in der Mitte frei. Punyakiran gab mir schweigend mein Glas. Die erste Hälfte hatte ich lachend in der Küche getrunken. Die zweite Hälfte würde ich still zwischen den beiden auf der Couch trinken. Wir konnten die Stille nicht mehr brechen. Jetzt, wo wir nicht mehr lachten, hörte man auch was da vor sich ging. Irgendwann stand ich auf und sagte „ich mach ma Musik an.“ Chandujah fasste mich ganz sanft am Arm, nur ein Hauch einer Berührung. Ich schaute ihn an. Er schüttelte den Kopf. Ich setzte mich wieder.

Die Geräusche von Chun passten zu ihrem Blick. Ein leises Wimmern. Es war ganz, ganz furchtbar.

Irgendwann hörte es auf, das Wimmern und die rhythmischen Geräusche. Armin erschien in der Tür. „Wir gehen jetzt mal, Chun hat bisschen zu viel getrunken.“ Er hatte Chuns Kopf unter seinen Arm geklemmt, wie wenn Jungs sich aufm Schulplatz balgen. Schwitzkasten, heißt das so? Er hatte sie im Schwitzkasten. Sie sagte nichts. Sie lächelte aber auch nicht. Das war das erste und einzige Mal, dass ich sie nicht lächeln sah.

Hab ich was gesagt zu Armin? ‚Tschüss‘ oder so? ‚War n schöner Abend‘ hab ich sicher nicht gesagt. ‚Du Arsch‘ hab ich auch nicht gesagt. Auf jeden Fall war er dann weg. Und Chun auch. Punyakiran und Chandujah schauten sich und mich an, wir nickten stumm. Es war genug Zeit vergangen, den beiden Vorsprung zu geben. Langsam machten wir uns auf den Weg in den Gang. Die Jungs nahmen ihre Jacken, zogen sich an. Ich schlenderte – ein viel zu entspanntes Wort für die Masse an Angst, die ich hatte – zur Toilette. Sie war weiterhin sperrangelweit offen, Licht an. Die Klobürste war umgefallen, zusammengeknülltes Klopapier lag auf dem Boden verstreut, etwas Wasser verspritzt, das Gästehandtuch in eine Ecke geknüllt. Am liebsten wäre ich sofort aus der Wohnung ausgezogen. In dieser Schockstarre entdeckte mich Chandujah. Er schob mich sanft beiseite und schloss die Tür.

Dann stellte er sich vor mich, nicht zu nah, nicht unangenehm. Er bewegte sich ruhig. Wenn er gezuckt hätte, oder fahrig mit der Hand gewedelt, ich wäre davongerannt wie ein fliehendes Pferd. Da legte er mir beide Hände auf die Schultern. Wieder nicht fest, nur deutlich. Mit Nachdruck. Alles was er tat und sagte in diesen Minuten, war eindrücklich.

Er schaute mich an und wartete ein, zwei Atemzüge. „Das, was da eben passiert ist – vergiss das. Es ist einfach nicht passiert.“ Er wischte einmal mit der Hand durch die Luft, wie ein Zauberer. Dann war die Hand wieder an der Schulter.

„Merk dir das: Vergiss es. Das ist nicht passiert. Es ist einfach niemals geschehen. Ganz einfach. Es ist einfach nicht passiert.“

Er sagte es ganz ruhig. Er hätte auch sagen können: wenn es keinen Kirschkuchen gibt, dann nimm Apfel. Es war nicht mehr da. Seine Handbewegung hatte es weggezaubert. Was da passiert war, war nicht passiert. Ganz einfach.

Ich merkte, dass ich nickte, langsam, deutlich. Ich benahm mich schon so eindrücklich wie Chandujah. „Ok. Das kann ich. Das kriege ich hin.“

Ich glaube es wirklich.

Ich begleitete sie noch vor die Tür, drückte beide lange und sah ihnen nach im Taxi. Dann ging ich wieder nach oben, zog Gummihandschuhe an und machte das Gästeklo sauber - nicht. Die klebrigen Taschentücher gab es nicht. Den Tropfen Blut auf der Klobrille gab es nicht. Das Gästehandtuch mit großen Blutflecken gab es nicht, hat es nie gegeben.

Das glaube ich ganz fest. Der Geruch nach Sex und Schweiß war eingebildet. Genauso wie ich glaube, dass Chun nach Spanien befördert wurde, befördert, nicht abgeschoben. So habe ich mir diesen Abend gemerkt und diese Geschichte hier, die ist einfach nicht passiert. Merk dir das.
 



 
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