Midnight Run

MarkusBoehme

Mitglied
Ich spüre, wie sich langsam meine Galle in Richtung Mund vorarbeitet. Und dort kann ich die Angst, ja Panik, die von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen hat, nochmals schmecken. Die Seiten stechen, als wären sie als Nadelkissen mißbraucht worden und mein Herz droht zu zerplatzen, wie es, sich überschlagend, versucht, mit meinen Beinen Schritt zu halten.
Auf der Flucht; wieder einmal.
Und die Kreatur hinter mir kann nur ein kranken Hirn ersonnen haben.
Ich schätze, daß es annähernd 3 Meter groß ist, unglaublich massig, mit einer Haut, die aus kochendem Teer zu bestehen scheint, unglaublich schnell und TÖTLICH!
Es ist ein Rennen auf Zeit.
Jede Sekunde, die ich gewinne, könnte die Rettung sein und jede Sekunde, die verstreicht, bedeutet neue Todesangst, körperlichen Schmerz und geistige Qual.
Doch das ist nicht das Schlimmste. Daran habe ich mich, soweit man das kann, gewöhnt.
Das Schlimmste ist diese Landschaft. An die kann man sich nicht gewöhnen.
Sie ist alles, nur nicht irdisch. Alles flach, alles kahl. Und über allem liegt ein kranker grauer Schimmer, wie Licht in einem pestbringenden Sumpf, der in Nebel gehüllt und vom Licht nicht erreicht wird.
Wie aus dem Nichts ragen immer wieder aus dieser Einöde Monolithen empor, so hoch, daß ihre Spitzen in den zentnerschweren, betongrauen Wolken versinken. Sie sind vollkommen schwarz, aus Glas oder Marmor und wirken so künstlich hier wie die übermächtigen Pfeile einer dunklen Gottheit, um von ihrer Urgewalt zu zeugen.
Und in dieser Welt gibt es Lebewesen.
Wesen, die die Welt beherrschten, bevor der Mensch kam, und die die Welt wieder beherrschen werden, wenn der Mensch im Nichts des Universums verschwunden sein wird.
Denn trotz aller Absurdität ist es Gewissheit, dass dies die Erde, seine Heimat, ist.
Allein der Versuch, diese Wesen anzusehen, schmerzt. Ihre Konturen sind so bizarr, daß sie sich der Betrachtung entziehen und die Augen ob ihrer Minderwertigkeit verhöhnen zu scheinen.
Und es sind nicht etwa nur stupide Kreaturen, wilde Bestien, sondern feinsinnige Jäger.
Deren Beute ich sein soll.
Panik und Todesangst haben schon lange Einzug bei mir gehalten, trotz aller Gewöhnung.
Ich weiß nicht, was passiert, wenn sie mich erwischen. Und ich will es auch gar nicht darauf ankommen lassen.
Obwohl alles um mich herum so irreal ist, obwohl ich weiß, daß es das alles gar nicht geben darf, bin ich mittendrin.
Jede Nacht erneut.
Und wer glaubt, man könne sich daran völlig gewöhnen, der irrt, wie ich mich geirrt habe.
Von Mal zu Mal wird die Angst größer. Von Mal zu Mal die Lage verzweifelter. Was habe ich schon alles versucht!
Jedes mal, wenn das Wesen hinter mir erscheint, versuche ich erneut, es zu schlagen, oder wenigstens, ihm zu entkommen. Doch es ist gerissen.
Lange schaff ich’s nicht mehr. Nur noch wenige Augenblicke, und ich werde kraftlos zusammenbrechen.
Diesmal schaffe ich es wohl nicht.

Der Schrei.
Jeden Morgen wieder.
Jedes Aufwachen wird begleitet von einem Schrei. Einem Schrei, der Trommelfelle zerreißt und alle Nerven vibrieren läßt.
Schweißgebadet wälzt er sich aus seinem Bett.
Es wird gefährlich.
Lange schon weiß er, daß er sich nicht mehr alleine dieser Gefahr aussetzt. Seit fast einem Jahr erscheint immer die selbe Person in seinen Träumen. Und irgend wann einmal wird sie unterliegen. In nicht all zu ferner Zukunft. Der Traum selbst variiert ständig, aber immer ist diese Person in Gefahr.
Und das Schlimmste ist, er kennt diese Person.
Jeden Morgen nimmt er sich erneut vor, mit ihm zu reden, doch nie schafft er es, sein Geheimnis, das keines mehr ist, preiszugeben.
Er hatte es gewollt, wollte Gott spielen, eine Realität erschaffen. Um jeden Preis.
So rief er die schwarzen Götter an, bat sie um die Macht. Und dann bekam er sie.
Das diese Welt ein schwarzes, böses Reich, wird gespeist von seinen Ängsten und den unkontrollierbaren Phantasien, hatte er nie geahnt, und jetzt ist es zu spät.
Mit seinen Träumen erschuf er eine Welt, nach den Bedingungen dieser dunklen Mächte. Nur ein Mensch hat sich hinein verirrt, lebt Nacht für Nacht in seinen Alpträumen, durchschreitet das Portal in diese Realität.
Es ist sein Sohn.
Anfangs hoffte er noch, daß dieser bloß Bestandteil seiner Träume sei, aber ein Blick in dessen Augen verraten ihm das Gegenteil.
Er LEBT darin!
Und er weiß nicht, was passiert, wenn sein Sohn einmal unterliegen sollte, er selbst nicht erwacht, bevor sein Sohn eingefangen, zerfleischt, wird.

Noch hängt der Schrei meines Vaters in der Luft.
Wieder einmal sind wir zeitgleich aufgewacht. So wie immer im letzten Jahr.
Noch zittere ich, aber ich weiß, daß es sich bald legen wird.
Nur die Angst bleibt.
Von Tag zu Tag nimmt sie etwas mehr von meinem Bewußtsein in Besitz. Wann wird sie mich überwältigen, wann wird mich der Wahnsinn an sein eiskaltes Herz reißen?
Anfangs hielt ich für unmöglich, was ich nun mit Sicherheit weiß.
Ich werde Nacht für Nacht in die Träume meines Vaters gezogen und Nacht für Nachte trete ich dem Tod gegenüber.
Mein Vater selbst kreiert diese Welt, ich sorge sozusagen für die Belustigung.
Ich glaube, er denkt immer noch, daß ich nicht weiß, wer für meine Midnight Runs verantwortlich ist, aber ich sehe es ihm an.
Jeden Tag wieder.
Er scheint jedesmal in mir nachzusehen, ob ich meinen Verstand noch besitze oder ob ihn dort gelassen habe. Irgend wann wird er nicht mehr erleichtert aufatmen können.
Und ich glaube nicht, daß dies ein Fluch ist, der auf uns beiden lastet. Er schuf diese Welt bewußt.
Ich kenne ihn und kann eins und eins zusammenzählen. Seine Bibliothek besteht mittlerweile zu mehr als zwei drittel aus durch die katholische Kirche verbotener Literatur; zum Teil beinhaltet sie, wie ich nun weiß, auch der Menschheit verbotenes Wissen.
Er hat Mächte beschworen, die er nun nicht mehr beherrschen kann.
Ich hoffe, daß das Ganze bald ein Ende hat.
Egal, welches.

Irgendwann einmal war ich zu der Überzeugung gelangt, daß diese schwarzen Monolithen, die so dunkel sind, daß man sie für die Antithese von Licht halten könnte, endlos seien.
Das sind sie aber nicht, denn jetzt gerade stehe ich auf der Spitze von einem.
Kilometer unter mir beginnen die Wolken als eine wulstige graue, substantielle Masse; wo die Erde ist, kann ich nicht sehen.
Sobald ich hinab schaue, beginnt sich alles um mich herum zu drehen, zum einen, weil mir schwindlig wird, zum anderen aber scheint sich die Masse unter mir gegen meine Blicke zu ... wehren.
Ich weiß nicht genau, wie ich die Fläche, auf der ich stehe beschreiben soll. Sie scheint auf den ersten Blick sehr groß, fast so groß wie ein Fußballfeld, zu sein, und außerdem ist sie völlig glatt, wie ein frisch polierter Spiegel.
Doch eben nur auf den ersten Blick. Wenn man auf ihr herumläuft, schmelzen die Meter in Nichts zusammen, so daß ich kaum genug Platz hätte, mich hinzulegen, wenn ich das wöllte. Und sie ist nicht eben, vielmehr kann man ihre Oberfläche, auch wenn man es nicht sieht, als die Berge und Täler von Wellen beschreiben, die mich gerade, als ich das erste Mal auf ihr laufen wollte, straucheln und fast abstürzten ließen.
Doch nicht nur dieser Ort, die gesamte Traumwelt ist dieses Mal anders als sonst. Ich wurde bisher noch nicht angegriffen, eigentlich hat sich überhaupt noch nichts getan. Ich stehe einfach nur hier oben und warte, worauf auch immer. Und dieses Warten ist schlimmer als jede Flucht und jeder Kampf ums nackte Überleben. Diese Ungewißheit ist das schlimme daran.

Am Horizont tut sich etwas.
Ich sehe, wie sich etwas auf mich zu bewegt, auf mich zufliegt.
Und es kommt rasend schneller.
Es ist ein Wesen, definitiv aus dieser Welt. Aber nicht einfach bloß ein Ungeheuer. Es sieht aus wie ein riesiger Drache mit endlos scheinenden Schwingen. Trotz dieser Größe wirkt er nicht plump, sein ganzer Körper bewegt sich elegant zum Flügelschlag, nur sein Schwanz, der seine Körperlänge fast verdoppelt, peitscht ab und zu wild umher. Jetzt, wo er näher ist, sehe ich, daß sein ganzer Körper mit Schuppen bedeckt ist, pechschwarze Schuppen, in denen das Licht versinkt und nur einen leicht rötlichen Schimmer zurückläßt.
Er wirkt majestätischer auf mich als alles, was ich jemals vorher gesehen habe. Diese Erscheinung läßt mich vor Ehrfurcht erzittern, wobei mit jedem Flügelschlag, der mich unweigerlich näher bringt, die Furcht stärker wird. Und auch die Hoffnung auf Erlösung, denn ich weiß, daß dies der letzter Traum sein wird. Mittlerweile ist er schon sehr nah, ich kann seinen Atem spüren, der mich heiß und schwer einnebelt. Noch wenige hundert Meter und hoffentlich nur einige Sekunden, und ich werde dieses Dasein verlassen.
Jetzt wendet er sein Haupt zu mir, ein äonenaltes Antlitz, ebenmäßig und voll magischer Faszination.
Ich kann ihm in die Augen sehen.
In seine pechschwarzen pupillenlosen Augen.
Ich sehe unendliches Wissen darin, unendliche Welten und ... den puren Wahnsinn.

Der Schrei.
Diesmal, das erste Mal, kommt er zu spät.
Er weiß, daß es zu spät ist, aber die Hoffnung treibt ihn an, den Flur hinab in das Zimmer seines Sohnes.
Tot.
Der Tod hat in diesem Raum Gestalt angenommen.
Der Körper seines Sohnes existiert nicht mehr, liegt in Fetzen als organischer Abfall neben seinem Bett. Zerschmettert.

Die Erkenntnis erschlägt ihn förmlich.
IHNEN ging es nicht darum, jemanden zu töten.
Ja, sie wollten ein Opfer, aber es mußte freiwillig in den Tod gehen.
Es mußte in ihrer Welt sterben, ohne ihre direkte Einwirkung.

Und nun kennt er auch IHR Ziel.
Auf einen Schlag wird ihm zur Gewissheit, was ihm bislang nicht einmal als Gedanke in den Sinn kam.
Er wird ewig leben, bis seine Realität in der schwarzen Welt gestorben ist.
SIE werden wieder ihren Platz im Universum haben.
 



 
Oben Unten