Marc Hecht1
Mitglied
Er hatte die Party verlassen. Noch vor Mitternacht – und ohne sich großartig zu verabschieden. Gar zu langweilig war es gewesen. Die Gäste waren langweilig, die Frauen waren langweilig. Alles war korrekt. Selbst die Käseigel sahen aus, als hätte man sie mit dem Zirkel ausgerichtet. Nein, er wollte mit diesen Menschen nicht den Jahrtausend-Wechsel verbringen.
Er wollte allein sein. Es war immerhin ein historisches Datum. Mit niemandem wollte er jetzt noch sprechen. Mit Lisi höchstens, telefonisch. Kurz, um Mitternacht. Nur schnell, um ein frohes neues Jahr zu wünschen. Ein frohes neues Jahrtausend.
Langsam war er durch die Straßen gegangen.
Ein neues Jahrtausend! Das war doch mal was!
Als damals die erste Diagnose kam, hatte er es nicht geglaubt. Sechs Jahre war das her. Sechs Jahre – und zweimal musste der Tumor seitdem operiert werden. Zwei schwere Eingriffe. Aber dann war der Tumor nicht mehr zurückgekehrt. Bis heute nicht. Und damals hatte er sich geschworen: Wenn ich es erlebe, arbeite ich noch bis zum Jahrtausendwechsel. Dann bin ich 53. Und werde nur noch reisen, mir die Welt ansehen!
Tief hatte der Schock damals gesessen. Nicht so sehr die Angst vor dem Tod war es, oder die Angst vor Schmerzen. Dagegen gab es Mittel. Nein, der Schock, so vieles versäumt, so vieles nicht getan zu haben, der Schock, dass ihm die Zeit gestohlen wurde. Die Lebenszeit, plötzlich war sie weg, geklaut, wie die Geldbörse vom Taschendieb, völlig überraschend. Man griff in die Tasche und die sicher geglaubte Geldbörse war weg.
Das war damals am Schlimmsten.
Aber nun war das neue Jahrtausend immerhin da. Er schlenderte die Straße entlang, es wurde jetzt recht gefährlich, überall von den Balkonen wurden Feuerwerkskracher geworfen, oft genug explodierten sie dicht vor seiner Nase; er musste aufpassen, dass ihm keiner auf den Kopf fiel.
Endlich suchte er Schutz in einem Hauseingang, setzte sich auf die Stufen. In seinem dunkelblauen Mantel, ohne Schal, ohne Handschuhe, es war kalt. Aber er fühlte sich wohl. Hier, allein.
Es war eine typische Straße auf dem Prenzlauer Berg. Das schlechte Kopfsteinpflaster und das milchige gelbe Licht der Straßenlaternen - es war hier wie in alten, englischen Romanen, eine Kutsche müsste jetzt vorfahren, David Copperfield aussteigen ...
Er sah sich um, zog ein Päckchen Zigaretten hervor und rauchte, und fror, und fühlte sich großartig. Man konnte jetzt keinen Schritt mehr tun, die Böller krachten auf die Straße.
In ein paar Minuten hatte er es geschafft! Das Millennium. Ab jetzt wollte er die Welt bereisen. Er hatte es niemandem erzählt.
Die Überraschung bei den Kollegen wird groß sein. Eine Sensation, ein Paukenschlag. Eine Kündigung, aus heiterem Himmel! So etwas gibt es nicht alle Tage.
Es war ihm gleichgültig. Die Zeit, die ewigen Jahre im Büro, mit den Kollegen, abgehakt. Weggelegt. Ihn interessierte jetzt die Zukunft. In ein paar Tagen bereits sollte die Reise beginnen, die große Reise. Und sie beginnt in Rangoon. Für ihn war klar, dass sie dort beginnen müsse. Und von dort aus dann um die Welt. Aber zuerst Rangoon. Er wusste nicht, warum es ihn nun gerade dorthin zog. Von allen Städten war sie ihm die geheimnisvollste, die fremdeste überhaupt.
Er rauchte, sah in den Nachthimmel, es wurde diesig, neblig, die bunten Lichter der Raketen waren oft nur verschwommen zu erkennen.
Fünf Jahre lang konnte er reisen. Ungefähr. Nicht in Saus und Braus – aber doch behaglich. Er hatte alles aufgelöst, die Konten, die Versicherungen, es war ordentlich etwas zusammen gekommen. Fünf Jahre. Wenn er danach noch lebte, war er arm.
Die Glocken begannen zu läuten, jetzt war es wohl Mitternacht. Er saß im Hauseingang, stocknüchtern noch – aber doch betrunken vor Glück. Er hatte es geschafft!
Strahlend zog er das Handy hervor, wählte Lisis Nummer – aber das Netz war überlastet, es kam keine Verbindung zustande. Er ließ das Handy sinken. Lisi. Sie verstanden sich gut. Und seit der Krankheit war sie furchtbar fürsorglich. Aber es war so gar keine Liebe mehr. Versonnen blickte er in den Himmel und auf das Feuerwerk. Nein, auch das war gut so. Er wollte sie doch lieber erst von Rangoon aus anrufen.
Lange saß er im Hauseingang, die Kälte machte ihm nichts aus.
In eine Kneipe war er dann gegangen. Ein Fischernetz hatte von der Decke gehangen, als befände man sich an der Küste - daran konnte er sich erinnern; auch an ausgestopfte Schwertfische und Fotos von alten Segelschonern und an schummeriges Licht. Aber er wusste nicht mehr, wo die Kneipe war.
Jedenfalls - er war sofort vornehmer Mittelpunkt geworden, in dieser Kneipe, mit seinem dunkelblauen Anzug, und er hatte wohl auch ein paar Runden Wodka spendiert, doppelten Wodka; und später hatte er sein weißes Einstecktuch einer älteren Frau geschenkt, sie saß neben ihm, dick, nicht hübsch; immer weinte sie oder umklammerte ihn; und sie pumpte den Wodka nur so in sich hinein. Außerdem hatte sie ihm ein paar Mal in die Hose gegriffen und sich ungeniert die dicken Brüste massiert und ihn aufgefordert, mit ihr auf dem Damenklo zu verschwinden.
Wie er nach Hause gekommen war, wusste er später nicht mehr, jedenfalls war es schon hell. Und ihm war sehr kalt. Und doch, er jubilierte. Er lebte. Es war die glücklichste Nacht seines Lebens.
Er wollte allein sein. Es war immerhin ein historisches Datum. Mit niemandem wollte er jetzt noch sprechen. Mit Lisi höchstens, telefonisch. Kurz, um Mitternacht. Nur schnell, um ein frohes neues Jahr zu wünschen. Ein frohes neues Jahrtausend.
Langsam war er durch die Straßen gegangen.
Ein neues Jahrtausend! Das war doch mal was!
Als damals die erste Diagnose kam, hatte er es nicht geglaubt. Sechs Jahre war das her. Sechs Jahre – und zweimal musste der Tumor seitdem operiert werden. Zwei schwere Eingriffe. Aber dann war der Tumor nicht mehr zurückgekehrt. Bis heute nicht. Und damals hatte er sich geschworen: Wenn ich es erlebe, arbeite ich noch bis zum Jahrtausendwechsel. Dann bin ich 53. Und werde nur noch reisen, mir die Welt ansehen!
Tief hatte der Schock damals gesessen. Nicht so sehr die Angst vor dem Tod war es, oder die Angst vor Schmerzen. Dagegen gab es Mittel. Nein, der Schock, so vieles versäumt, so vieles nicht getan zu haben, der Schock, dass ihm die Zeit gestohlen wurde. Die Lebenszeit, plötzlich war sie weg, geklaut, wie die Geldbörse vom Taschendieb, völlig überraschend. Man griff in die Tasche und die sicher geglaubte Geldbörse war weg.
Das war damals am Schlimmsten.
Aber nun war das neue Jahrtausend immerhin da. Er schlenderte die Straße entlang, es wurde jetzt recht gefährlich, überall von den Balkonen wurden Feuerwerkskracher geworfen, oft genug explodierten sie dicht vor seiner Nase; er musste aufpassen, dass ihm keiner auf den Kopf fiel.
Endlich suchte er Schutz in einem Hauseingang, setzte sich auf die Stufen. In seinem dunkelblauen Mantel, ohne Schal, ohne Handschuhe, es war kalt. Aber er fühlte sich wohl. Hier, allein.
Es war eine typische Straße auf dem Prenzlauer Berg. Das schlechte Kopfsteinpflaster und das milchige gelbe Licht der Straßenlaternen - es war hier wie in alten, englischen Romanen, eine Kutsche müsste jetzt vorfahren, David Copperfield aussteigen ...
Er sah sich um, zog ein Päckchen Zigaretten hervor und rauchte, und fror, und fühlte sich großartig. Man konnte jetzt keinen Schritt mehr tun, die Böller krachten auf die Straße.
In ein paar Minuten hatte er es geschafft! Das Millennium. Ab jetzt wollte er die Welt bereisen. Er hatte es niemandem erzählt.
Die Überraschung bei den Kollegen wird groß sein. Eine Sensation, ein Paukenschlag. Eine Kündigung, aus heiterem Himmel! So etwas gibt es nicht alle Tage.
Es war ihm gleichgültig. Die Zeit, die ewigen Jahre im Büro, mit den Kollegen, abgehakt. Weggelegt. Ihn interessierte jetzt die Zukunft. In ein paar Tagen bereits sollte die Reise beginnen, die große Reise. Und sie beginnt in Rangoon. Für ihn war klar, dass sie dort beginnen müsse. Und von dort aus dann um die Welt. Aber zuerst Rangoon. Er wusste nicht, warum es ihn nun gerade dorthin zog. Von allen Städten war sie ihm die geheimnisvollste, die fremdeste überhaupt.
Er rauchte, sah in den Nachthimmel, es wurde diesig, neblig, die bunten Lichter der Raketen waren oft nur verschwommen zu erkennen.
Fünf Jahre lang konnte er reisen. Ungefähr. Nicht in Saus und Braus – aber doch behaglich. Er hatte alles aufgelöst, die Konten, die Versicherungen, es war ordentlich etwas zusammen gekommen. Fünf Jahre. Wenn er danach noch lebte, war er arm.
Die Glocken begannen zu läuten, jetzt war es wohl Mitternacht. Er saß im Hauseingang, stocknüchtern noch – aber doch betrunken vor Glück. Er hatte es geschafft!
Strahlend zog er das Handy hervor, wählte Lisis Nummer – aber das Netz war überlastet, es kam keine Verbindung zustande. Er ließ das Handy sinken. Lisi. Sie verstanden sich gut. Und seit der Krankheit war sie furchtbar fürsorglich. Aber es war so gar keine Liebe mehr. Versonnen blickte er in den Himmel und auf das Feuerwerk. Nein, auch das war gut so. Er wollte sie doch lieber erst von Rangoon aus anrufen.
Lange saß er im Hauseingang, die Kälte machte ihm nichts aus.
In eine Kneipe war er dann gegangen. Ein Fischernetz hatte von der Decke gehangen, als befände man sich an der Küste - daran konnte er sich erinnern; auch an ausgestopfte Schwertfische und Fotos von alten Segelschonern und an schummeriges Licht. Aber er wusste nicht mehr, wo die Kneipe war.
Jedenfalls - er war sofort vornehmer Mittelpunkt geworden, in dieser Kneipe, mit seinem dunkelblauen Anzug, und er hatte wohl auch ein paar Runden Wodka spendiert, doppelten Wodka; und später hatte er sein weißes Einstecktuch einer älteren Frau geschenkt, sie saß neben ihm, dick, nicht hübsch; immer weinte sie oder umklammerte ihn; und sie pumpte den Wodka nur so in sich hinein. Außerdem hatte sie ihm ein paar Mal in die Hose gegriffen und sich ungeniert die dicken Brüste massiert und ihn aufgefordert, mit ihr auf dem Damenklo zu verschwinden.
Wie er nach Hause gekommen war, wusste er später nicht mehr, jedenfalls war es schon hell. Und ihm war sehr kalt. Und doch, er jubilierte. Er lebte. Es war die glücklichste Nacht seines Lebens.