Mira

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Heinrich VII

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Mira war um die eins siebzig, hatte rote, lockige, wallende Haare und grüne Augen. Wenn es ihr gut ging, lief sie stolz und aufrecht, präsentierte ihre schlanke Figur und erntete Blicke von den Männern. Gut, ging es ihr nicht immer. Das lag hauptsächlich an ihrem Job. Chefsekretärin. Am Anfang war das ja ein Ding. Bedeutend mehr Geld als vorher, als sie noch einfache Sekretärin war. Sie konnte angeben vor ihren Freundinnen Susanne und Marion. Doch dann wurde die Arbeit immer mehr. Sie fragte nach einer Aushilfe, die ihr zur Hand gehen könnte, wenigstens halbtags. Abgelehnt – zu teuer. Ja – es wird gespart in den Firmen. Aber nur am Geld. In punkto Arbeit bekam man mehr als genug, da gab es keinen Mangel.
Es war ein Donnerstag und Mira war schon beim zweiten Umsteigebahnhof, wo sie auf den nächsten Zug wartete. Noch 15 Minuten verriet ihr die Anzeige. Es war wieder mal ein harter Tag gewesen, der sie völlig geschafft hatte. Sie hätte sich am liebsten auf der abgewetzten Holzbank lang gelegt und die Augen geschlossen. Statt dessen zog sie eine Zigarettenschachtel aus der Handtasche und steckte sich eine an. Hier war es wenigstens ruhig. Sie paffte und es gelang ihr, etwas zu chillen. Ein Arbeitskollege hatte ihr den Spiegel überlassen, den er bereits gelesen hatte. Sie zog ihn ebenfalls aus der Tasche und blätterte darin. Politik interessierte sie nur mäßig bis gar nicht. Aber da gab es einen Bericht über Frauen im Berufsleben, den nahm sie sich vor.

Ein Mann setzte sich an andere Ende der Bank.
Mira sah kurz auf. Er nickte ihr freundlich zu. Sie guckte wieder auf ihren Spiegel und versuchte erneut in den Text einzusteigen.
„Fahren Sie von der Arbeit nach Hause?“
Mira sah auf. Wollte der Kerl ihr ein Gespräch aufdrängen, jetzt, wo es endlich mal ruhig und friedlich war? Gespräche hatte sie schließlich den ganzen Tag im Büro.
„Entschuldigen Sie – ich wollte nur etwas Konversation machen.“
Mira nickte und vertiefte sich wieder in das Journal. Sie hoffte, er würde verstehen, dass sie nicht daran interessiert war.
„So ein Job kann ein echtes Hamster-Rad sein, stimmt´s?“
Mira sah wieder auf. Aber sie guckte nicht auf den Mann. Sie checkte die Anzeige: Noch drei Minuten. Sie sah wieder in das Magazin und hoffte, er möge endlich den Rand halten.

Die Bahn kam.
Mira sprang etwas zu schnell auf und das Magazin samt Handtasche fielen ihr zu Boden. Der Mann sprang ebenfalls auf, hob die Handtasche und den Spiegel auf und überreichte es ihr lächelnd. Mira sah einen Mann Anfang vierzig vor sich. Gepflegt, schlank. Könnte sogar trainiert sein, spekulierte sie. Obwohl ihr das egal war. Seine Augen waren braun und blickten wohlwollend. Seine langen, schlanken Hände fielen ihr auf.
„Sie müssen jetzt rein“, sagte der Mann.

Zuhause zog sich Mira bis auf die Unterwäsche aus. Im Bad ließ sie kaltes Wasser laufen und ließ es sich ins Gesicht plätschern. Das war gut und regte die Lebensgeister an. Sie trocknete ihr Gesicht ab und lief in die Küche. Kochen hatte sie heute echt keinen Bock. Es war noch eine Fertigpizza im Kühlschrank. Sie heizte den Backofen vor, holte die Pizza aus dem Karton und zog die Folie ab. Bier war auch noch da – das Abendessen war komplett.
Wenig später saß sie am Tisch und schnitt die Pizza in Achtel. Sie nahm ein Stück und probierte: Meeresfrüchte, schmeckte nicht schlecht für eine Fertigpizza.
Sie nahm einen Schluck Bier dazu und aß dann alles Stück für Stück schnell auf. Wenn man sich zu viel Zeit bei so etwas lässt, wird das Essen kalt und kälter und schmeckt am Ende nicht mehr. Besonders bei Pizza. Als sie fertig war, holte sie ein zweites Bier aus dem Kühlschrank, machte es mit dem Feuerzeug auf und steckte sich dazu noch eine Zigarette an.
Sie dachte an den Mann, den sie am Bahnhof getroffen hatte. Er sah gut aus – und er schien freundlich zu sein. Vielleicht hätte sie besser mit ihm reden sollen. Aber ihre Laune war nicht die beste – wie sollte man da freundlich sein können.

Zwei Wochen später gab es in der Firma eine Überraschung.
„Darf ich Ihnen den neuen Abteilungsleiter vorstellen“, sagte der Chef zu Mira.
Mira war wie vom Donner gerührt. Ist das denn möglich? Sie musste sich zusammen reißen, um dem Mann, der auffällig lange, schlanke Hände hatte,
förmlich ihre Hand zu geben.
„Mein Name ist Hans-Jürgen Schmittbauer“, sagte er.
„Mira Waldmann“, erwiderte sie.
Der Chef ging dann, nachdem er sehen konnte, dass der Kontakt hergestellt war. Mira und der neue Abteilungsleiter waren alleine.
„Haben Sie damals im Bahnhof schon gewusst, wo ich arbeite und dass sie …?“
„Nein“, unterbrach sie Schmittbauer, "ich habe nur gesehen, dass sie gestresst waren. Dass Sie hier arbeiten und dass wir uns hier wieder treffen, wusste ich nicht.“

Schmittbauer hatte am anderen Ende des langes Flures in der Firma ein Büro bezogen. Zwei Tage hatte Mira nichts mehr von ihm gehört nach der ersten Begnung.
Vermutlich war er damit beschäftigt gewesen, sein Büro einzurichten und sich für´s Erste einzuarbeiten. Ob er Vorerfahrungen hatte oder ein Quereinsteiger war, wusste sie nicht.
Ihr Telefon läutete: „Waldmann.“
„Hier ist Schmittbauer – kommen Sie doch bitte mal in mein Büro, Frau Waldmann.
Ich habe da etwas für sie. Wissen Sie wo ich bin?“
„Ja, das weiß ich.“

Eine Minute später saß Mira vor Schmittbauers Schreibtisch und sah ihn gespannt an.
„Ich habe erfahren, dass Sie ziemlich viel zu tun haben und bereits nach einer Hilfe angefragt haben.“
Der weiß aber schnell Bescheid über solche Dinge, dachte Mira.
„Ja, das stimmt – wurde aber abgelehnt.“
„Ich habe mit dem Chef nochmal gesprochen“, sagte Schmittbauer, „er ist einverstanden.“
„Oh, wie haben Sie das denn geschafft?“
Hans-Jürgen Schmittbauer lächelte selbstverliebt.
„Es war nicht leicht, aber schließlich hat er nachgegeben. Ist ja nicht mehr als recht. Sie haben wirklich viel Arbeit, wie man mir sagte.
Nächsten Montag Mittag stellt sich eine Studentin bei ihnen vor. Sie kann täglich nach der Mittagspause für vier Stunden kommen.“
Mira war hoch erfreut und grinste wie ein Lottospieler, der den Jackpot geknackt hatte.

Am Ende der Woche, Freitag, ging sie aus dem Gebäude und wollte die Straße runter zur S-Bahn laufen. Ein Auto hielt neben ihr.
„Wollen Sie mitfahren Frau Waldmann?“
Es war Schmittbauer. Er lächelte und hielt ihr die Beifahrertür auf.
„Fahren Sie denn in meine Richtung?“
„Ich fahre Sie, ja, egal in welche Richtung.“
Mira lachte und stieg ein.

Unterwegs fragte sie: „Haben Sie etwas Zeit oder müssen Sie nach Hause zu ihrer Frau und ihren Kindern.“
Schmittbauer sah kurz zu ihr rüber und lächelte.
„Sie sind gut im Ausfragen. Ich lebe alleine. Keine Frau und keine Kinder.“
Mira nickte.
„Wie ist das bei Ihnen?“
„Auch Solo – lebe alleine in einer kleinen Wohnung.“
Eine Weile schwiegen sie und ließen das Gesagte wirken.
Dann fragte Mira: „Hätten Sie Lust, mit mir an den See zu fahren? Wir könnten dort den Sonnenuntergang beobachten. Jetzt, im Frühsommer, ist er besonders schön.“
Schmittbauer sah zu ihr rüber und nickte.
„Wie muss ich fahren?“
„Weiter die Hauptstraße entlang, ganz aus dem Ort raus auf die Landstraße. Von da gibt es eine Abzweigung in einen Feldweg, die zeige ich Ihnen.“

Sie bogen in den Feldweg ein. Es war vielleicht zehn Minuten später.
„Immer auf den Wald zuhalten“, sagte Mira, der See kommt direkt davor.“
Weitere zehn Minuten später war das Auto geparkt und sie saßen am Rand des Sees.
Schmittbauer hatte sein Jacke ausgezogen und sie Mira gegeben, damit sie es bequemer hat.
Es gab kein weiches Gras um den See, sie saßen auf dem harten Boden.
„Und Sie?“
„Mir macht das nichts aus. Ich kann so sitzen.“
Mira faltete die Jacke sorgfältig zusammen und setzte sich drauf.
„Wenn ich das gewusst hätte, hätte man Decken mit nehmen können. Etwas zu essen und eine Flasche Wein.“
Mira lachte. „Ein Picknick am See.“
Schmittbauer lachte auch und nickte.
„Wollen wir uns nicht duzen?“, fragte er.
„Hab nichts dagegen, Karl-Heinz“, antwortete Mira.
„Das ist gut, Mira“, sagte Schmittbauer.
Sie sahen sich an und prusteten vor Lachen.

Dann ging die Sonne hinter dem Wald unter.
Sie verfärbte sich immer mehr in dunkelrot. Drum herum alle möglichen begleitenden Farbtöne am Himmel. Die allmählich herein brechende Dunkelheit diente als Kontrast. Sie saßen da und staunten, eng zusammen gerückt. Karl-Heinz legte Mira den Arm sanft über die Schulter. Sie ließ es sich gefallen. Kurz bevor das letzte Licht verschwunden war, zog Karl-Heinz Mira an sich und sie küssten sich.

Am Montag, zurück im Büro, war mittags die Studentin da. Sie studierte Musik. Sie war nicht hübsch, aber auch nicht hässlich.
Und sie schien freundlich zu sein. Ob sie auch zuverlässig und leistungsbereit ist?, fragte sich Mira und musterte sie.
„Ich habe schon in der Verwaltung der Uni gearbeitet“, sagte sie, „Büroarbeiten sind mir nicht fremd.“
Mira nickte und lächelte.
„Das hört sich gut an.“
Sie gab ihr die Hand und sagte:
„Ich heiße Mira. Am besten sind wir per Du, das ist einfacher.“
„Ich heiße Zoe. Hab ich den Job jetzt?“
„Das sag ich dir nächste Woche, wenn wir eine Weile zusammen gearbeitet haben.“
„Okay – sagte Zoe. Und was zahlt ihr mir, falls ich ...?“
„Das musst du mit dem Abteilungsleiter Herrn Schmittbauer ausmachen“, unterbrach Mira sie.
„Sein Büro ist auf der anderen Seite des Flurs.“

Mittags wollte Mira in der der firmeneigenen Kantine essen. Vom Eingang aus, sah sie Schmittbauer an einem der Tische sitzen. Sie drehte abrupt um und hoffte, er möge sie nicht gesehen haben. Sie ging aus dem Firmengebäude und lief ein Stück die Straße runter. Dort gab es ein chinesisches Schnellrestaurant. Sie bestellte ein Nudelgericht, ein Bier dazu und setzte sich an einen freien Tisch. Sie hatte sich schon etwa die Hälfte der dampfenden, wohlschmeckenden Nudeln einverleibt und das Bier halb ausgetrunken, als Schmittbauer neben ihr auftauchte. Er setzte sich ungefragt und sah sie an.
„Du gehst mir also aus dem Weg.“
Mira kaute fertig und fragte: „Wie kommen Sie darauf?“
Schmittbauer sah sie erstaunt an: „Bist du jetzt wieder beim Sie? Ich hab´ dich gesehen, in der Kantine, von einem der Tische aus. Du hast kurz rein gesehen und bist dann schneller verschwunden, als ich fertig kauen konnte und dir etwas zurufen.“
Mira sah Schmittbauer an.
„Es ist mir unangenehm – so eine Firmenliebe. Der Abteilungsleiter und die Sekretärin; das Klischee schlechthin.“
„Chef-Sekretärin“, verbesserte Schmittbauer, „außerdem bist du nicht direkt bei mir im Büro.“
„Egal – es ist trotzdem peinlich.“
Mira aß weiter, weil die Nudeln sonst kalt wurden. Sie trank das Bier dazu.
Schmittbauer sah ihr einen Moment zu, ohne etwas zu sagen. Er mochte es, zu sehen, wie sie kaute und zwischendurch einen Schluck Bier zu sich nahm. Als jemand zum Tisch kam und fragte, was er essen wolle, lehnte er ab. Im nächsten Moment stand er auf und ging raus, ohne noch etwas zu sagen. Mira sah ihm mit einer Mischung aus Verwunderung, aber auch Erleichterung nach.

Einige Tage sahen sie sich nicht mehr in der Firma. Ob es Zufall war, oder ob Schmittbauer ihr jetzt aus dem Weg ging, war für Mira schwer einzuschätzen.
In der Woche darauf gab es einen Anruf in ihrem Büro: „Frau Waldmann, kommen Sie bitte in mein Büro.“
Es war Schmittbauer. Mira war aufgeregt. Er hatte sie mit Sie angesprochen. Okay, es war innerhalb der Firma. Und was wollte er? Etwas von Mira oder von der Sekretärin? Sie fuhr sich vor dem Toilettenspiegel mit dem Kamm durch die Haare und zog ihre Lippen mit dem Stift nach. Die Utensilien ließ sie einfach auf der Konsole liegen.
Eine Minute darauf saß sie Schmittbauer gegenüber.
Er fragte nach der Studentin. Ob sie brauchbar sei und ob sie eine wirkliche Entlastung ist. Mira bejahte. Schmittbauer nickte, ohne zu lächeln. Damit schien das Gespräch auch schon beendet zu sein. Mira wartete vergeblich auf ein persönliches Wort. Sie hätte ihm auch gerne etwas gesagt, dem Karl-Heinz, sich zumindest entschuldigt. Wobei sie aber nicht wusste, für was. Doch er wirkte zu sehr wie ein Abteilungsleiter, mit seinem dunklen Anzug, seinem ernsten, geschäftsmäßigen Gebaren und Gesicht, hinter dem protzigen Schreibtisch. Also fragte sie nur, ob das alles war. Er nickte, sie empfahl sich und ging aus der Tür.

Ein paar Wochen später, als Mira in der Stadt einkaufte, traf sie Schmittbauer mit einer weiblichen Begleitung. Sie hielten Händchen und schienen sehr vertraut mit einander zu sein. Mira grüßte im Vorbeigehen. Schmittbauer grüßte mit einem Anflug von Stolz im Blick zurück, hielt aber nicht an. Mira blieb nach ein paar weiteren Schritten kurz stehen und sah sich nach den beiden um. Sie schienen wirklich ein Paar zu sein, so eng beisammen wie sie selbst auf der Straße waren. Sie löste sich aus ihrer Betrachtung und ging weiter.
„Wer war das?“, wollte die Begleiterin von Schmittbauer wissen, als sie Mira außer Hörweite wähnte.
Karl-Heinz Schmittbauer zögerte einen Moment, bevor er sagte: „Das - war die Chef-Sekretärin unserer Firma.“
 
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aliceg

Mitglied
Lieber Heinrich VII,
obwohl 'klinisch sauber' fährst du mit den Lesern erotisch Achterbahn.
Als Anfängerschreiberling kann ich von dir lernen, daher auch von mir einen Sternenfünfer.

lg aliceg
 



 
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