mit allen Mitteln

Val Sidal

Mitglied
Heute werde ich nicht weinen. Auch der Regen hat sich verzogen. Vor mir geistert Kaffee. Schwarz. Ich folge dem Nebeltanz über meiner Tasse. Ich habe Zucker. Es tut nicht weh.
Das Sonnenblumenöl konnte ich gestern nicht bezahlen, aber ich habe noch Butter. Auch Marmelade. Der Bäcker muss sich verrechnet haben - es war nicht teurer als sonst.
Ich lese die Breaking News: Putin ist wahnsinnig.

von Clausewitz sagt, "Erhalten ist leichter als gewinnen, schon daraus folgt, daß die Verteidigung bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter sei als der Angriff." Ich kann das alles nicht mehr denken. Die Brühe in meiner Tasse dampft nicht mehr. Habe zu lange gesurft und gerührt. Alles ist kalter Kaffee.

Werde ich heute in der Vorlesung wirklich dem Plan folgen? Ich sitze noch in Unterhose. Am Küchentisch. Schreibe diese Zeilen. Weiß nicht warum. Wozu.
Das Thema heute wäre "Das Präkeramische Neolithikum in Syrien, Israel, Palästina, Jordanien und Südost-Türkei". In Aleppo -- hieß damals zeitweise Beroia -- waren die Häuser typischerweise mehrräumig und rechteckig, im Gegensatz zu den Rundhäusern der vorhergehenden Epoche. Wäre aber auch egal gewesen.

Im Jahr 2006 erhielt Aleppo nach Mekka als erster Ort die Bezeichnung Hauptstadt der Islamischen Kultur. Kiew ist nicht Aleppo und nur Hauptstadt der Ukraine.

Seit gestern läuft nur mein Elektro-Heizkörper aus meiner Studentenzeit. Es ist Gründonnerstag. Beileibe kein Feiertag.

Alle schreien nach mehr Waffen. Als Fundamentalpazifist bin ich dagegen.
Erklärt mal den Kindern Gewalt. Wie es sich anfühlt, wenn ein Priester dich in die Knie zwingt. Erklär ihnen, warum deine Mutter von einem 19-Jährigen Soldaten, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, gegen ihren Willen gefickt wird. Der Wodka-Geist steigt ihm dabei aus dem Rüssel.

Zeige deinen Studenten auf, welchen zivilisatorischen Fortschritt sie heute genießen dürfen -- nicht wie damals die wilden Berber. Obwohl, auf die starke gesellschaftliche Stellung der Frau in vorislamischer Zeit verweisen einige Mythen. In matrilinearen Gesellschaftsstrukturen hatten Frauen leichtere Scheidungsmöglichkeiten -- besitzen teilweise mehr Entscheidungsbefugnisse als in arabischen Gesellschaften. Unverheiratete Frauen durften erotische Vergnügungstänze aufführen -- sowas wie Table-Dance. Ich habe auf den Scheiß keinen Bock! Meine Studenten werden heute was erleben!

Der Anruf bei der Polizei kam aus dem Hörsaal P-2103.

Eine besorgte Studentin stammelte schluchzend und kaum verständlich.
Alles wurde auf Band aufgenommen.
Sie beschwere sich, dass pornographische Ausdrücke verwendet werden und sie in ihrem Schamgefühl verletzt wird. Dass ich blasphemische Tiraden gegen die Gottesmutter schreie. Dass ich alle Studenten aufgefordert habe, nach Moskau zu pilgern, sich auf den Weg zu machen -- dort säße jetzt der "wahre Jakob". Dass alle Würdenträger der christlichen Kirchen sich zu ihren Kollegen in Russland und Ukraine aufmachen sollten, um dort die Wahrheit Jesu über Nächstenliebe gemeinsam zu verkünden. Videos von all den Gräueltaten an riesigen Bildschirmen vorführen. Und alle Hochschullehrer sollten sich in die Universitäten in Ungarn, Ukraine und Russland zu ihren Kollegen begeben, und mit ihnen zusammen verkünden, dass das Wissen die einzige Möglichkeit des Überlebens sei. Solche Sachen halt -- dann brach sie zusammen und ich musste auf der Polizeiwache laut lachen, nachdem ich mir das Band angehört habe.

Hey Wachmeister, die Kleine hat große Probleme! Ich habe nichts Illegales gesagt. Ich sprach von einem Ostermarsch, der ohne eine einzige Waffe den Krieg beenden könnte. Ich sprach von Priestern, Professoren und Kommilitonen aus ganz Europa! Mal überlegen -- das wären über eine Million Menschen, die den Krieg lahmlegen würden. Eine neue Friedensbewegung. Von wegen, Pazifismus könnte gegen den Krieg nichts anrichten!

von Clausewitz sagte einst, „Es ist im Kriege alles sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.“ Er irrte. im Krieg ist das Einfachste unmöglich.
Denn Krieg ist nicht eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern die Fortsetzung des Glaubens mit allen Mitteln.
 
Zuletzt bearbeitet:



 
Oben Unten