Mit einem Schlag

Namenstag

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MIT EINEM SCHLAG

Es war Liebe. Nur drei Wochen, nachdem sie ihm begegnet war, hatte er, unbesehen, auf ihren Wunsch, die Ruine eines einsamen Moorhofs erworben, und alles in die Wege geleitet, um das Gebäude wieder herstellen zu lassen, wie es ursprünglich ausgesehen haben musste.
Als die Kostenvoranschläge der Unternehmen, die er ausgewählt hatte, auf seinem Schreibtisch lagen und er sie zu dem kleinen Vermögen hinzuzählte, dass der Gutachter bekommen hatte, erschrak er, verbarg es aber vor ihr, denn er schämte sich gleich darauf, dass Geld ihm eine Rolle zu spielen schien. Dass überhaupt etwas in der Lage gewesen war, ihn zögern zu lassen. Es mochte ihn kosten, was es wollte, war es doch die einzige Bitte, die sie je an ihn gerichtet hatte, seit sie einander bei einer seiner Ausstellungen begegnet waren und er, der nie verheiratet gewesen war, sofort das Gefühl gehabt hatte, dass diese Frau zu ihm gehörte.

Auf der Fahrt zur Besichtigung des Hauses in seinem jetzigen, halbzerstörten Zustand war sie ungewöhnlich ernst und wortkarg. Es hatte den Anschein, als freue sie sich überhaupt nicht mehr, während sie noch am Morgen gar nicht genug von der gemeinsamen Zukunft hatte schwärmen können. „Dort gehörst du mir ganz allein!“, hatte sie gesagt.
Besorgt fragte er sich, ob sie sich vielleicht nicht damit abfinden konnte, dass er halt viel unterwegs war, und nun gehofft hatte, das würde sich in Zukunft ändern. Denn es konnte sich daran nichts ändern. Es gehörte zu seinem Beruf. Würde sie ihm nun den ganzen Tag verderben mit ihrer plötzlichen schlechten Laune, nur weil er nicht „einfühlsam“ genug gewesen war, etwas in der Art zu antworten wie: „Ich lasse dich nie mehr allein.“? Ihm waren solche Lügen zuwider. Außerdem gab es dann später nur Streit, wenn man sein Versprechen nicht einhielt.
Jetzt lächelte sie plötzlich wieder, wie aus einer Art Benommenheit erwacht. Sie hatte wohl vermutet, da er unwillkürlich Sorgenfalten auf der Stirn bekommen hatte, dass er sich Gedanken darüber machte, wie lange die Arbeiten am Haus wohl dauern würden, und ob es noch vor dem Winter fertig sein konnte.
Sie strich ihm übers Haar und sagte: „Das geht schneller, als du denkst! Man muss einfach nur fest an das glauben, was man erreichen will und, wenn es nötig ist, Hilfe in Anspruch nehmen - auch wenn es die wahrhaftig nicht umsonst gibt… Dann nehmen die Dinge ihren Lauf. Auch wenn es alle Welt für unmöglich hält. Du wirst schon sehen. - Ich fahre kurz nochmal in den Ort. Bleib du hier. Dann gewöhnst du dich gleich daran!“
Froh und erleichtert, dass die bedrückende Atmosphäre so schnell verflogen war, schaute er sie liebevoll an.
Sie zögerte einen Augenblick. Dann drehte sie sich schnell um, stieg rasch ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Hatte er eben wirklich einen Anflug von Traurigkeit in ihrem Gesicht bemerkt? Seltsam. So kannte er sie nicht. Normalerweise war sie weder bedrückt, noch neigte sie zum Grübeln, wie vorhin auf der Herfahrt. Er hatte vielmehr ihren erfrischenden und, wie er fand, manchmal geradezu kindlich naiven Optimismus zu schätzen und zu lieben gelernt. Ein Optimismus, mit dem sie ihm die Kraft gab, schwierige Dinge leichter zu nehmen. Sie brachte es fertig, ihn mit ihrer unbedarften Zuversicht derart anzustecken, dass es ihm manchmal fast scheinen wollte, als würde die schlichte Überzeugung, dass etwas einfach gelingen müsse, genügen, um selbst die größten Schwierigkeiten im Nu zu bewältigen. Quasi das Non Plus Ultra des berühmt/berüchtigten „Positiven Denkens“: „Wünsch dir was – schon hast du das!“
Freilich ließ er sich von solchen Stimmungen nie wirklich zum Leichtsinn verführen, gab sich ihnen nur so lange hin, bis es ernst wurde und gewann seine Wachsamkeit und seinen analytischen Verstand sofort zurück, wenn wichtige Entscheidungen zu fällen waren.
Mit einer Ausnahme, wie er zugeben musste: Dem Kauf dieser Immobilie hier. Aber auch dabei hatte er nicht den Verstand in Urlaub geschickt. Liebe machte ihn nicht blind, sondern großzügig. Finanziell jedenfalls. Er konnte es sich leisten und sein Gewinn dabei war ihre Freude, mit der sie ihm zeigte, dass er sie glücklich machte und auch außerhalb der verschwiegenen vier Wände des Schlafzimmers kein Versager war. Und wenn sie ihm dann zuflüsterte, wie stolz sie war, sein größter Schatz zu sein, hätte er es am liebsten in riesigen Lettern am Himmel gelesen. Sichtbar für alle Welt.
Wenn sie sich aber über eine noch so kleine Aufmerksamkeit eines anderen Mannes freute, wenn sie diesem auch nur ein noch so sparsames Lächeln schenkte, spürte er, wie ihm glutheiß wurde vor nur schwer beherrschbarer Wut.
Nun, im Augenblick gab es keinen Grund für solche zerstörerischen Gefühle, und wenn sie erst einmal hier, weit entfernt vom nächsten Nachbarn, ihr abgeschirmtes Domizil haben würden, konnte er sich ihrer hingebungsvollen Liebe um so sicherer sein. Ihre manchmal etwas zu leichtsinnige Sicht der Dinge und des Lebens überhaupt konnte so keinen Schaden anrichten. Und wenn sie mit der Zeit nicht von selbst ein wenig erwachsener werden sollte, nun, er würde sie schon nach seinen Vorstellungen formen. Er war es ja gewohnt, mit widerspenstigem Material umzugehen, und liebte Herausforderungen dieser Art. Nur in einem einzigen Fall war ihm bisher etwas dabei unrettbar missraten. In besinnungsloser Wut über seine Niederlage hatte er es zerschmettert und dann die Trümmer an einem nur ihm bekannten Ort aufbewahrt. Als Mahnung, dass ihm nie wieder etwas misslingen, dass er nie wieder versagen durfte.
Er liebte das Schöne. Und das Schöne war für ihn identisch mit Perfektion. Jede Veränderung am einmal vollendet Gelungenen hätte es unvollkommen gemacht. Fehler und Mängel, die ihm – an Dingen wie an Menschen - auffielen, beleidigten ihn geradezu, als wären sie einzig deshalb in der Welt, um sein Wohlbefinden zu beeinträchtigen. Sie mussten nach Kräften behoben werden. Wo das unmöglich war, hörte er nicht auf, sie mit, oft überheblichen und beleidigenden, Äußerungen der Verachtung und mit beißendem Spott in aller Öffentlichkeit so lange an den Pranger zu stellen, bis ihre Wertschätzung, ihr Ansehen gänzlich ruiniert waren. Denn seine Stimme hatte Gewicht. Sowohl in verschiedenen honorigen Gremien als auch in den diversen Talkshows der Fernsehsender. Neue Freunde gewann er damit allerdings nicht, verlor vielmehr manche alten. Und seine Feinde erfuhren eine nicht eben wundersame dafür aber stetige Vermehrung. Er glaubte, darauf nicht Acht geben zu müssen.
Auch dieses alte Gebäude, das er gekauft hatte, war ihm auf den ersten Blick wegen seiner unübersehbaren Mängel hässlich erschienen und hatte seinen Abscheu erregt. Je länger er sich jedoch zwang, es anzuschauen, desto mehr verschwand dieses Gefühl und machte dem Bild Platz, das er vor seinem geistigen Auge sah: Den vollständig wiederhergestellten Moorhof in seiner einfachen und ursprünglichen herben Schönheit. Inwendig natürlich mit allem nur erdenklichen Luxus der Gegenwart ausgestattet.
So näherte er sich, wieder gut gelaunt und mit gestärkter Zuversicht, dem uralten Gebäude, dessen Aussehen ihn eben noch erschreckt und angewidert und ihm sogar ein ihm sonst völlig fremdes, irrationales Unbehagen eingeflößt hatte.
Als er die Hand um die Klinke der Haustür legte, zuckte er zurück. Er hatte sich an dem rostigen Metall so unglücklich geschnitten, dass sein Zeigefinger heftig blutete. Nur gut, dass er gerade wieder seine Tetanusimpfung hatte auffrischen lassen! Sein misstrauisches Sicherheitsbedürfnis, das selbst seine wenigen Freunde oft störte, hatte sich wieder einmal ausgezahlt! Man wusste zwar nie, wann und wo das Schicksal zuschlagen würde, aber es war sicher, dass es geschah. Also immer wachsam bleiben!
Während er die Verletzung provisorisch mit einem Stofftaschentuch „verband“, ließ er seinen Blick über die Vorderfront des Hauses wandern. Dabei folgte er unwillkürlich dem Verlauf der vielen großen und noch weit zahlreicheren kleinen Risse in dem roten Backsteingemäuer. Es sah aus, als überziehe, nein, durchdringe, diese ganze, in der Mitte schon fast zum Bersten nach außen vorgewölbte Wand ein mit dunklem Blut gefülltes Adernetz, das sich von starken, breiten Strömen aus bis in winzige „Kapillaren“ verzweigte, die einzelne Mauersteine zu „versorgen“ schienen. Obwohl von Weitem alles so wirkte, als habe die Zerstörung ihr Werk vor langer Zeit vollendet, gab, aus der Nähe besehen, irgendetwas dieser Mauer, die längst hätte zusammengestürzt sein müssen, einen widernatürlichen Zusammenhalt. Es war, als pulsiere tatsächlich eine Art Leben darin, als fließe, wenn auch mit unendlicher Langsamkeit, eine erhaltende Energie durch dieses Haus. Wie in einem unauslotbar tiefen Schlaf schien das ganze Gebäude befangen, einem Schlaf, der es erhielt für den Augenblick, in dem es erwachen würde.
„Und genau das wird auch geschehen“, dachte er entschlossen. Hier wird wieder das Leben die Herrschaft übernehmen!
Dass dieses Haus selbst lebendig erschien, war natürlich eine Illusion. Auch wenn er sich mit Unbehagen eingestehen musste, dass diese Illusion ihn für einen Augenblick gefangen genommen hatte.
„Nein“, sagte er halblaut, und erschrak über seine eigene, ungewohnt brüchige, Stimme, „Ich lasse mich nicht gefangen nehmen! Von niemandem und nichts!“ Weder würde er sich von diesem unheimlichen Haus über Gebühr beeindrucken lassen, einem baufälligen Gebäude, das ihn sicher nur an irgendein gruseliges Märchen erinnerte, mit dem ihm als Kind Angst gemacht worden war, noch von dessen, möglicherweise interessanter, Vergangenheit! Es hatte, wie jedes alte Haus, seine Geschichte. Aber er würde dafür sorgen, dass deren bester Teil erst noch kam! Mit jetzt wieder gewohnt fester, entschlossener Stimme sagte er laut, ja rief er fast: „Und was ich will, das erreiche ich auch!“
Aber ein paar Wochen würde es schon dauern, bis es sich hier wieder leben ließ.
„Wollen hoffen“, brummte er, „dass nicht doch noch etwas einstürzt, wenn…“
Bei diesem Gedanken hatte er skeptisch die besonders marode Haustür gemustert. Der Teufel mochte wissen, wie lange sie nicht geöffnet worden war. Schief hing sie im wurmstichigen hölzernen Rahmen. Vorsichtig, ganz langsam, öffnete er sie und…


Wochen später – oder waren es Monate? Oder Jahre? - erinnerte er sich nur an den grellen Blitz und dass ihn etwas mit ungeheurer Wucht getroffen hatte.
Das Haus war jetzt renoviert. Aber es „lebte“ nicht mehr, geschweige denn, dass es nun Wärme und freundliche Behaglichkeit ausgestrahlt hätte. Die Wände waren glatt und kahl. Das mochte hingehen. Aber die Möbel entsprachen nicht seinem Geschmack. Sie waren zweifellos teuer gewesen, stammten aber aus einer Zeit, deren Stil er abscheulich fand. Er hätte nicht einmal zu sagen gewusst warum, denn sie waren ja perfekt von Meisterhand hergestellt worden. Es war einfach so und damit gut. Vielleicht lag es gerade an diesen Möbeln, die er nicht anschauen mochte, dass ihm das Zimmer irgendwie leer vorkam. Zudem war es hier kalt. Die Heizung funktionierte nicht. Und es gab kein Licht außer dem fahlen Schein, der durch das einzige Fenster fiel. Ruhelos ging er auf und ab in diesem Raum, in dem er sich so unbehaglich fühlte, dass er sich an keinen Ort erinnern konnte, der ihm noch mehr zuwider gewesen wäre. Nur selten schaute er noch hinaus in die immer gleiche Nacht. Auf den Mond, der sich nie von der Stelle bewegt hatte, seit…
Wie schon ungezählte Male blieb er auch jetzt wieder stehen und starrte wie hypnotisiert auf das einzige Bild im Raum. Es zeigte sie. Aber auch ihr Bildnis strahlte nichts Lebendiges aus. Ihre Gesichtszüge waren starr wie die einer Toten. Ebenmäßig, makellos, schön. Wahrhaftig schön, aber ohne Wärme in ihrer Vollkommenheit. Auch ihr Kleid saß tadellos. Allerdings gehörte sein Schnitt seltsamerweise jener längst überlebten Moderichtung an, der auch die Einrichtung des Zimmers entstammte.
Wieder und wieder fragte er sich, wer…
Langsam, unendlich langsam dämmerte die Erinnerung herauf. Aus größerer Tiefe, als er es je für möglich gehalten hätte. Dennoch wusste er, dass es seine Erinnerung war. Sie fraß sich, wie ein kaltes Feuer in seinen todmüden und doch auf schreckliche Weise schlaflosen, hellwachen Geist.

Moorbote vom 22.06.2002: In einem gestern nach der Detonation eines Sprengsatzes vollständig niedergebrannten alten Bauernhaus nahe Torfsoden wurden die vom Feuer entstellten Überreste des bekannten Bildhauers Ernst K. gefunden, der das Anwesen erst vor Kurzem erworben hatte. Als Brandexperten nach Beendigung der Löscharbeiten die Trümmer untersuchten, srürzte eine Ziegelwand im Inneren des Hauses ein. In dem dahinter befindlichen engen Hohlraum wurde eine weitere, mumifizierte, Leiche gefunden, bei der es sich um das Opfer eines 150 Jahre zurückliegenden Eifersuchtsmordes handeln dürfte. Ein Mann hatte seine Frau als vermisst gemeldet, sie aber offenbar mit einem Schlag auf den Kopf schwer verletzt und, noch lebend, eingemauert. Letzteres wurde erschreckend klar, als an den zerbrochenen Ziegelsteinen der eingestürzten Mauer Zeichen gefunden wurden, die mit der scharfen Kante einer bei der Mumie gefundenen Brosche eingeritzt worden sein mussten. Die Bedeutung der Zeichen ist unbekannt und auch kein Gegenstand von Nachforschungen, wie der leitende Kripobeamte vor Ort, Kommissar Kehding, erklärte. Man habe genug mit dem aktuellen Fall zu tun, und zu diesem hätten die „Kratzspuren“ offensichtlich keinerlei Bezug. Es gehe jetzt zu allererst darum, mögliche Hinweise auf die Identität des oder der Bombenleger zu finden.
Sowohl von diesen als auch von der Lebensgefährtin K’s, die gemeinsam mit ihm zur Besichtigung des Gebäudes angereist war, fehlt bislang jede Spur.
 



 
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