Mitleid

texxxter

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"Wie nennt dein Vater dich?", fragte Markus und schüttelte grinsend den Kopf.

"Hab ich doch gesagt. Er nennt mich Fickfehler"

Die umstehenden Schüler brüllten vor Lachen.

"Was stimmt nicht mit dir? Warum erzählst du uns das auch noch?" rief Markus fassungslos. Sebastian errötete und schwieg. Er war in einem solchen Ausmaße ehrlich, dass man es nur als Naivität bezeichnen konnte. Hatte er ernsthaft Mitleid von seinen Klassenkameraden erwartet? Hätten die letzten beiden Schuljahre ihn nicht eines Besseren belehren sollen?

Jetzt trat Juri an Sebastian heran und musterte ihn mit schönen, aber grausamen Augen. "Wie wird man nur so ein Loser wie du?" fragte er, ohne den Anflug eines Grinsens. Er schien die Frage todernst zu meinen.

Juri war, wie die meisten in seiner Klasse, 14 Jahre alt. Von seinen Kameraden hob er sich durch eine außergewöhnliche Intelligenz ab. Außerdem war er schön, sehr schön sogar. Er hatte schwarze Haare und stechend blaue Augen.

Sebastian wand sich unter Juris Blick und schwieg beschämt.



Maria wollte, seit sie sich erinnern konnte, Lehrerin werden. Dabei ging es ihr nicht in erster Linie um die Übermittlung von Wissen. Sie war der Überzeugung, dass Kinder von Natur aus grausam sind und nur durch strenge, aber liebevolle Erziehung zu zivilisierten Erwachsenen heranreifen würden.

Als sie um 7:40 Uhr das Klassenzimmer betrat, hörte sie lautes Schluchzen.

"Fickt euch alle, wirklich, ich geh nach Hause!" rief Sebastian mit tränenerstickter Stimme. Maria bemerkte seinen durchnässten Hintern.

Sie wusste, was geschehen war. Irgend jemand hatte Wasser auf seinen Stuhl gekippt und er hatte sich unbedarft darauf gesetzt. Es war nicht das erste mal, dass so etwas passiert war. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, da es unmöglich war, den Schuldigen auszumachen.

"Dass ihr euch nicht schämt", sagte sie mit bebender Stimme.



In dieser Nacht hatte Maria einen Albtraum. Sie war wieder ein siebenjähriges Mädchen und lief an der Hand ihres Vaters eine Dorfstraße entlang. Da hörten sie auf einmal einen Mann, der seinem Hund Anweisungen zubrüllte. "Sitz jetzt endlich, du verdammtes Mistvieh"

Der Hund zeigte keine Reaktion. Da zog der Mann seinen Gürtel aus und schlug ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Der Hund winselte und blickte sein Herrchen mit ungläubigen Augen an.

"Du bist nichts wert, du Scheißköter!" brüllte der Mann und bearbeitete den Hund mit harten Gürtelschlägen. Maria drückte sich näher an ihren Vater heran und betrachtete das Geschehen entsetzt.

Jetzt legte der Hund sich direkt vor sein Herrchen und winselte. Er konnte offenbar nicht verstehen, was er falsch gemacht hatte.

Der Mann holte mit dem Fuß aus und brach sein Genick. Jetzt lag der Hund reglos zu seinen Füßen.

"Nein!!" schrie Maria und erwachte. Ihr Schlafanzug war durchgeschwitzt.



Am nächsten Tag hatte Maria die Pausenaufsicht. Sie knabberte an einem Apfel während sie den Schülern bei ihren diversen Spielen beobachtete.

Bald bemerkte sie Juri mit seiner Clique, die sich im Kreis um Sebastian aufgestellt hatten. Maria beschloss, die Lage erstmal zu beobachten, bevor sie einschreiten würde. Jetzt vernahm sie klar Juris Stimme.

"Hey Sebastian, ich hab einen Vorschlag für dich. In der Schweiz ist jetzt Euthanasie legal. Wäre das nicht was für dich? " Die umstehenden Schüler lachten hämisch. Markus sagte etwas verlegen "Übertreib es nicht Juri, das ist doch Tierquälerei."

Maria spürte, wie ihr Blut ins Gesicht stieg. Ihr Herz hämmerte. Sie trat auf die Jungen zu und ehe sie sich versehen konnten, gab sie Juri und Markus eine schallende Ohrfeige. Für einen Moment blickte Juri sie völlig perplex an, als würde er nicht begreifen, was gerade vorgefallen war. Dann gewann er seine Beherrschung zurück und sagte grinsend: "Das wird Konsequenzen für sie haben, Frau Walther"

Maria ging nicht darauf ein. Sie war derart wütend, dass sie sich im Augenblick keine Gedanken um mögliche Folgen ihres Handelns machen konnte.

"Wie kann man nur so sein?", rief sie. "Hast du keinen Funken Mitleid in deinem Körper?"

Juri lachte hämisch auf. "In der Natur gibt es auch kein Mitleid. Die Stärkeren setzen sich durch, das ist die Evolution. Wenn das nicht so wäre, gäbe es keinen Fortschritt."

Maria war fassungslos. Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können.



Nach dem Ende des Nachmittagsunterrichts nahm sie Sebastian unauffällig beiseite. Sie hatte das Bedürfnis, ihm irgend etwas Tröstliches zu sagen.

"Hör mal", begann sie. "Was Juri und seine Freunde sagen, muss dich nicht interessieren. Kinder in dem Alter sind grausam. Sie suchen sich irgendwen als Opfer. Es ist nicht deine Schuld. Ignoriere diese Idioten einfach"

Sebastian blickte sie mir gerötetem Gesicht an. Dann schluchzte er auf.

"Aber ich liebe Juri doch! Ich liebe ihn, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe."

Maria hatte es die Sprache verschlagen. Sie saß noch einige Minuten beim schluchzenden Sebastian und streichelte ihm den Rücken, bis dieser sich wieder beruhigt hatte. Dann fuhr sie nach Hause. An diesem Tag schlief sie erst spät ein.
 
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