Modri und das Läutewerk der Kindheit am Ostermontag

GerRey

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Als Modri am Ostermontag früh morgens aus der Bahn gestiegen war, begann sich von Westen her eine bleigraue Wolkendecke, langsam in sich verdichtend und bedrohlich, über den Vorort, in dem er lebte, zu schieben. Im Osten, da wo der Tag begonnen hatte, war es noch sonnig. Aber den Anblick hatte er erst wirklich genießen können, als er aus dem Ort, in dem der Bahnhof lag, herausgekommen war und die Häuser ihm nicht mehr die Sicht verstellten. Die etwa zehn Minuten Fußmarsch auf freiem Feld, das zwischen dem alten und neuen Teil des Vororts lag, zeigten dann genug Ausblick, als er ebenfalls in dessen Ackerfurchen bereits die ersten Pflanzen ersprießen bemerkte. Aber da war es schon kein Ankommen mehr, sondern eine Flucht (was nicht nur mit dem Wetter zu tun hatte)!
Die Sonne stand erhöht über dem Schloss, über dem sie aufgegangen war, und in dem Modri die noch fern der Schulzeit liegenden Tage seiner Kindheit bei seinen Großeltern verbrachte, die im Schloss, das damals als Gutshof geführt worden war, eine Wohnung hatten. Nicht nur die verwilderten Parks boten dem Jungen die Grundlage zu seiner Phantasie; an der Ecke, wo die Weingartenallee in die Hauptstraße mündete, stand einst ein Haus, das man aber bereits vor mehr als dreißig Jahren abgerissen hatte, weil es bis in die Straße hineinragte, sodass man an ihm nur über den schmalen Seitenrand der Fahrbahn vorbeikam, da kein Platz für einen Gehsteig blieb. Mit zunehmendem Durchzugsverkehr - der Ort bot kaum Gelegenheiten zu verweilen - musste dieses Manko natürlich reguliert werden - schon allein darum, um Leib und Leben der Fußgänger zu schützen; die Vorherigen hatten sich nicht daran gestoßen. Aber da war der Verkehr auch noch nicht so ausufernd wie heute, wo man Autobahnen, Schnellstraßen und noch mehr Straßen und Straßen brauchte, um alles bewältigen zu können.
In diesem Stockhaus hatte Modris Großonkel Stanislaus, den alle nur “Stani” nannten, das Schlosscafé geführt. Der Schankraum unten war nicht sehr groß, trotzdem konnte man damals noch gut davon leben. Während er im oberen Trakt des Hauses, den man über eine schmale, finstere Treppe erreichte, seine Wohnung hatte. Dreimal war er verheiratet gewesen, und man erzählte sich, dass diese drei Frauen nach seinem Tod in das Haus eingefallen waren, und alles mitgenommen hätten, was nicht niet- und nagelfest gewesen wäre; wie nach einem Einbruch habe die Wohnung hinterher ausgesehen. Man munkelte über irgendwelche Schätze, die Stani in seinen guten Tagen, in denen er als Kapellmeister weit bekannt war, gehortet habe, und mit denen es ihm auch gelungen sei, diese drei Frauen an sich zu binden und eine Weile in Bann zu halten. Und nun wären sie gekommen, um sich für die ihm feilgebotene Liebe, die sie ihm geopfert hatten, zu entschädigen. Auf seinem Begräbnis war keine von ihnen. Da hatten nur die zahlreichen Stammgäste mit ihrem Erscheinen für ein würdiges Begräbnis gesorgt.
Aber dieses Schlosscafé, das im Sommer einen Schanigarten zur Weingartenallee hin hatte - gleich der Polizeistation, die es damals dort noch gegeben hatte, gegenüber -, war ein merkwürdiger Ort für die Magie eines jung aufkeimenden Lebens. Um zur Toilette zu kommen, musste man durch zwei Veranden und über den Hof, um in einen stinkenden, von Fliegen belagerten Abort zu kommen, der im hintersten Teil des Hofes lag und von dem Schlosspark durch einen rostigen Maschendrahtzaun abgesondert war. In der Nacht, bei Trunkenheit, Schlechtwetter oder sonstiger fauler Ausrede machten sich die männlichen Gäste kaum die Mühe, bis ganz nach hinten zu laufen, sondern stellten sich breitbeinig an den Zaun, wo sie ihr Geschäft verrichteten, vom verwilderten Schlosspark zusätzlich durch Blicke geschützt (man soll dort auch schon weibliche Gäste hockerln gesehen haben, wovon Modri, der von der zweiten Veranda, wo er oft mit Laubsägearbeiten beschäftigt saß, einen guten Ausblick auf den Hof hatte, nicht bestätigen konnte - was ihm jedoch unbedingt aufgefallen wäre, da er bereits für solche Situationen sensibilisiert worden war).
Onkel Stani war in den letzten Tagen seines Lebens, die als die ersten Tage von Modris Leben zählten, nachdem er Laufen gelernt hatte, allein und kümmerte sich auch nur mehr alleine um die Belange seines Cafés. Für das Putzen der Toiletten blieb da wenig Zeit. Er schüttete allmorgendlich ein paar Kübel Wasser, die er vom Hofbrunnen schöpfte, hinein und legte in die Ablaufrinnen chemische Pillen, die allerdings kaum ausreichten, um die dortige Luft zu verbessern. Und die beiden Veranden, die eigentlich für Feste gedacht waren, verkamen zu Rumpelkammern. In der vorderen hatte Stani einen Flügel stehen, auf dem Modri gerne herum klimperte, was Onkel Stani überhaupt nicht gefiel, da der Flügel einer seiner Frauen gehörte. Ein Hochzeitsgeschenk von ihm, wie man sagte, weil ihm diese Frau ihre eigene Liebesart geschenkt hatte (Modri hatte erst viel später das schmutzige Grinsen, das dabei auf den Lippen der Erzählenden lag, verstanden, obschon er nie dahintergekommen war, welche Art von Liebeskunst es gewesen sein mochte), die dem Onkel Stani damals immer noch fehlte. Modri hätte es gerne gehabt, wenn Onkel Stani ihm das Klavierspielen beigebracht hätte; aber Onkel Stani wollte ihm lediglich Violine spielen lernen - das Modri für ein altertümliches Instrument verachtete, das seiner jungen, wilden Magie kaum die Klänge abverlangen konnte, die in seiner Seele zum Ausdruck drängten. So war weder eines noch das andere, und Modri konnte nur sehr vorsichtig an den Flügel heran, da man ein volleres Greifen in die Tasten, gepaart mit den danach aufschreienden Tönen im anschließenden Schankraum gehört haben würde - auch wenn dort die Musikbox permanent mit den neuesten Liedern lief.
In dieser Veranda gab es auch einen Billardtisch - der aber seiner Art entsprechend kaum genutzt wurde, da Stanis Gäste eher zum Trinken kamen als zum Billardspielen. Hin und wieder schlief darauf einer seinen Rausch aus; aber Modri hatte an diesem Billardtisch auch schon gesehen, wie sich ein Kerl an einer Frau zu schaffen machte. Zu Onkel Stanis Schätzen gehörte auch ein alter Sack, in dem ein ganzer Haufen verschiedener Wecker waren, die Onkel Stani einstmals gesammelt haben musste. Zu der Zeit war der Sack bereits in Modris Schatzkiste eingegangen; Onkel Stani hatte sie ihm geschenkt, und er durfte daran herumschrauben, so viel er wollte. Als das mit der Frau war, saß Modri unter einem Tisch, der zu einem Stapel gehörte, die man in einer Ecke zusammengeschoben und aufeinandergetürmt hatte. Er wollte gerade eine Feder aus einem der Wecker lösen, als die Tür vom Schankraum aufgegangen war und ein Mann und eine Frau die Veranda betraten. Modri verhielt sich ruhig unter den Tischen, wunderte sich jedoch, dass die beiden nicht zur Toilette weitergingen. Wollten sie am Ende Billard spielen? Solange konnte Modri in seinem Versteck nicht warten.
Als er bereits hervorkriechen wollte, um sich bemerkbar zu machen, sah er etwas, das ihn elektrisierte. Der Mann hatte der Frau, die auf dem Billardtisch mit geöffneten Beinen saß, den Rock hochgeschoben und war gerade dabei, ihr die Unterhose über die Beine runter zu ziehen. Modri sah das dunkle Dreieck der entblößten Schamhaare zwischen den haut-weißen Schenkeln der Frau und fühlte sich davon wie magisch angezogen. Eine solche Frau würde er später einmal haben und lieben wollen!
Leider ging in diesem Moment eines der Läutewerk von einem der Wecker im Sack los, und der magische Moment endete damit, dass Modri unter dem Tisch hervorgezogen wurde und sich eine Ohrfeige einfing, weil er hier herum schliche, wo er nichts verloren hätte. Später erzählte Modri gerne, wie er diese schöne Frau vor dem Unhold gerettet habe, in dem er sich, um sich die Zuneigung der Frau zu sichern, mutig auf diesen Mann gestürzt und ihn in die Flucht geschlagen habe. Die Geschichte hatte nur einen Haken; niemand glaubte ihm, dass die Schöne, die nun allein bei Modri zurückgeblieben war, ihn mit ihren süßen Härchen spielen hatte lassen.
“Ja, eh klar … träum’ weiter”, hatten seine Freunde die Geschichte abschmettern lassen. Aber das Erzählen hatte zumindest bewirkt, dass diese Frau - die mittlerweile uralt oder verstorben sein mochte - noch heute in Modris Erinnerung tief verankert war und dafür Beweis sein mochte, wie Magie wirkte.
Dessen war Modri sicher, der die sich schließende Wolkendecke hinter ihm hatte und auf seinen Wohnort zulief wie auf die im Verborgenen liegende Kindheit. Als er am Praterstern auf dem Weg zum Bahnsteig die Rolltreppe hochgefahren war, rempelten ihn drei Betrunkene aus der “Bruder-Bruder-Fraktion” an, da sie offensichtlich unbedingt vor ihm oben ankommen wollten.
“He”, rief Modri empört.
“Willst was, Alter?”
Basecap. wulstige Lippen, rundes Gesicht - Marke Riesenbaby. Drei dieses Kalibers hätte Modri nicht schaffen können, also hatte er entschuldigend abgewinkt und die Riesenbabys ziehen lassen, was ihm die etwa halbstündige Heimreise äußerst verdorben hatte.
Ein Hoch auf das Wiedereröffnen der Nachtgastronomie nach den Maßnahmen der Corona-Pandemie!
Für einen Augenblick wurde er dann später beim Aussteigen aus der Bahn entschädigt. Mit einem zweifelnden Blick auf die herankommenden Wolken ging er Richtung Abgang des heimatlichen Bahnsteigs, dessen Bahnhof derzeit mit den Bauarbeiten für Bahnsteig-Lifte belastet war. Hinter sich hörte er Schritte, die rasch näher kamen, ihn ein- und schließlich links überholten. Wer hatte es da so eilig, den Kopf unter einem schwarzen Hoodie verborgen? Und in einer hautengen Jeans, wie man sie in seiner Jugend getragen hatte, formte sich unter dem Stoff ein “Spitzen-Weiberarsch” - der schönste, den er seit einiger Zeit gesehen hatte, sodass er beinahe vergessen hätte, dass er in einem Monat seinen 61. Geburtstag feierte. Irgendwo steckte in den erwachenden Frühlingsgeistern noch ein Fünkchen Erinnerung an Jugend, Kraft und Ausdauer. Beinah wäre er dem Mädchen nachgelaufen, um es anzublödeln, getreu dem früheren Motto: Wenn man ausreichend Apfelbäume schüttelt. fällt auch irgendwo ein süßer Apfel herunter, der einem mundet. Aber sie lief zu schnell für seine alten Knochen. Modri war noch auf dem Stiegenabgang, sprang sie schon auf der anderen Seite hoch. Und als er endlich aus dem Bahnhof kam, rannte sie gerade die Straße weit vor ihm runter.
Aber er hörte noch ein Geräusch hinter sich; jemand redete unverständlich. Modri zuckte die Achseln und machte sich auf seinen Weg.
“He, hallo!” rief es dann hinter ihm, als er schon ein wenig vom Bahnhof entfernt war. Er blieb stehen und wandte sich um. Eine Frau winkte ihm und rief:
“Können Sie mir sagen, wie ich in diese Gasse komme?”
In der Hand hielt sie ein Handy mit einer geöffneten Straßennavigation-Seite. Er warf einen Blick darauf und sagte dann:
“Das muss gleich da vorne sein.”
“Wissen Sie, ich bin Heimhelferin”, sagte die Frau. “Acht Klienten haben sie mir am heutigen Feiertag gegeben, und ich habe so starken Durchfall.”
Darauf wusste Modri nichts zu sagen, sprachlos blickte er sie an.
“Wo ist den jetzt die Gasse?” fragte sie wieder.
“Da vorne”, sagte Modri und zeigte ihr mit dem Arm die Ecke einer Quergasse. Dann lief er los, weil er vor der Frau diesen Punkt, der ihre Wege kreuzte, passieren wollte. Aber sie hielt hartnäckig mit, sodass er sich schon fragte, ob er zu laufen beginnen sollte. Und er hätte es beinahe getan, als sie sagte:
“In Floridsdorf am Bahnhof habe ich mich schon zum dritten Mal angemacht. Und zu acht Klienten muss ich noch!”
Er war schon dem Gedanken, der ihm aus ihrer Rede entstand, soweit gefolgt, dass er sich fragte, ob sie eine Windelhose trüge, da hatten sie bereits das Eck erreicht. Aber die Frau folgte ihm weiter. Also blieb Modri stehen und sagte, mit der Hand jeweils die Richtung vorgebend:
“Du da - ich da!”
“Aber kann ich nicht mitkommen?” fragte die Frau verwirrt.
“Nein”, schrie Modri laut. Das schien sie aus der eingeschlagenen Bahn zu werfen.
“Ja, ich geh’ ja schon.”
Modri sah ihr nach, bis sie ungefähr zwanzig Schritte in die Gasse hinein gemacht hatte. Dann begann er tatsächlich ein Stück zu laufen. Aber ob er ihr entkommen konnte und sie ihn in ein paar Jahren nicht vielleicht doch noch einholte - daran wagte er nicht zu denken..

Geschrieben unter dem Feeling:
Rory Gallagher & His Band - Live At The Bluesrock Festival - Tegelen, 01.09.1984
 
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