Monologe mit dir

Evilsmile

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Meine Smartwatch erlöst mich mit einem Piepsen und ich seufze. Fünf Kilometer liegen hinter mir, bloß die halbe Strecke. Mehr wäre heute Folter. Meine Route habe ich wie immer so gelegt, dass genau hier mein Zielpunkt ist, wo das kleine Waldstück beginnt.
Immer langsamer werden meine Schritte. Die Sohlen meiner Laufschuhe sind matschverkrustet, denn der Park ist heute Morgen nass vom Regen in der Nacht. Der Himmel ist eine zähe graue Suppe, die einem das Draußensein verleidet.
Ich streife durch die Wiese, wo kleine Zweige unter meinen Schuhen knacken, zwischen schmalen jungen Bäumen hindurch, bis ich zu deinem komme.
Mein Puls rast noch und Atemwölkchen wabern vor meinem Gesicht, ich schwitze trotz Kälte. Ein kleiner Schock, als ich meine Zeit vom Display ablese: Sechsundzwanzig Minuten, so langsam war ich noch nie! Kein Wunder, es tut immer noch ein bisschen weh, mein Laufstil sah von Weitem sicher aus wie ein Cowboy im Galopp ohne Pferd... Aber wenigstens war ich joggen gewesen!
Nicht selbstverständlich für jemanden wie mich. Jeden Tag der Kampf, sich zu motivieren, nicht immer gewinne ich ihn, auch, wenn ich jetzt noch einen Grund mehr dazu habe. Aufstehen. Anziehen. Rausgehen. Loslaufen. Durchhalten. Auf Durchzug schalten, wenn Leute einem entgegenkommen und etwas murmeln, nicht darüber nachdenken, dass man gerade einen knallroten Kopf vor Anstrengung hat. Froh darüber zu sein, kurzsichtig zu sein, denn manchmal möchte man lieber nicht genau hinsehen und das Stirnrunzeln sehen.
All das können normale Menschen nicht nachvollziehen. Jene, die keine Tabletten schlucken müssen, um halbwegs zu funktionieren; und sich nicht vorkommen wie eine tickende Bombe, weil sie nie wissen, wann sie die nächste Panikattacke überfallen wird. Die keine Angst vor anderen Menschen haben, oder vor dem Leben an sich, sondern es einfach genießen.
Die dunkle, verschwitzte Lauftight klebt mir am Körper, sie sitzt mir einen Ticken zu eng. Das kommt daher, weil ich lieber online bestelle statt ins Geschäft zu gehen und anzuprobieren, um Gespräche mit Verkäufern zu vermeiden.
Da ist der ganz bestimmte Baum: Schmaler weißer Stamm, eine Birke, hübsch anzusehen, im Frühling wie im Winter. Das vertraute Schild mit deinem Foto, das ich mir eingeprägt habe, erwartet mich. Ich kneife die Augen zusammen, sehe dein verschmitztes Lächeln, dein Geburtstag, dein Todestag und die Grabinschrift darunter.
Ich kenne dich nicht, habe dich zu Lebzeiten nie kennenlernen dürfen. Seit gut einem Jahr bist du tot. Vor einiger Zeit, an einem unerträglich öden Wochenende, ging ich auf Streifzug und entdeckte dich.
Wenn ich deinen Nachnamen lese, fallen mir sofort die Beleidigungen ein, mit denen du in der Schule gehänselt worden sein könntest, dafür ist dieser Name leider prädestiniert. Denn Mitschüler, sowie Jugendliche im Allgemeinen sind Ratten, die es förmlich riechen, wenn jemand anders ist und schwächer als sie.
Ich habe kaum anderes Verhalten kennengelernt in meinen Klassen, und mittlerweile nehme ich schon von selbst die Rolle ein, die immer für mich vorgesehen war, mache mich klein und unbedeutend gegenüber meinen Kommilitonen. In der Grundschule hieß ich Mülli, in dessen Schulranzen man Mülleimer ausleerte. Keine Ahnung, welches kranke Hirn beim Allerweltsnamen Müller auf diese Idee gekommen ist. Dann erreichte ich das nächste Level, das Gymnasium, und wurde Schwuchtel gerufen, was beinahe einer selbsterfüllenden Prophezeiung glich, denn sie wussten das früher als ich selbst. Die Mülleimer wurden von da an über meinem Kopf ausgekippt, und in meinem Rucksack entdeckte ich sogar mal eine verschissene Unterhose.
Jetzt, in der Großstadt, an der Universität, habe ich endlich das Stadium erreicht, wo man mich bloß ignoriert, schlimmstenfalls meidet, und kann damit gut leben.
Dich haben sie früher bestimmt Hansworscht, Würstchen oder Kackwurst gerufen. Passt doch: Mülli und Kackwurst! Ich wünschte, ich hätte dich in meiner Klasse gehabt. Oder zumindest an meiner Uni. Du hättest meine Einsamkeit beenden können, und mich verstanden wie kein anderer. Hast du dasselbe durchgemacht wie ich, Sebastian? Dich mit meinen Problemen herumgeschlagen? Bist du mir einen Schritt voraus? Weil du vor deiner Zeit gegangen bist, mit gerade mal zwanzig Jahren? Oder warum liegst du hier? Das ist doch echt beschissen.

Ich setze mich auf die Bank da, umringt von Bäumen mit anderen Urnengräbern in diesem Friedwald im hinteren Teil des Stadtparks, und begrüße dich wie einen alten Freund: Hallo Sebastian.

Hallo Linus, lang nicht gesehen! antwortest du mir, und erscheinst vor meinem geistigen Auge. Du bist in etwa so groß wie ich, vielleicht ein wenig kräftiger und sportlicher, mit einem Lächeln, das man gesehen haben muss. Laufklamotten und Sportschuhe trägst du, ebenfalls am Ende deiner Laufroute.

Aus der Tasche seitlich am Bein hole ich die Energieriegel, löse sie aus der Verpackung. Zwei Stück, ich esse für dich einen mit, wie immer, wenn ich dich besuche nach dem Laufen.

Und? Was gibt’s Neues? fragst du mich und deine Augen blitzen, du überschlägst die Beine. Was macht David? Bist du nun zur Party gegangen, oder nicht? Erzähl schon!

Du weißt es ja noch nicht...

Was?

David liegt im Krankenhaus. Seit Samstagabend. Weil er auf seiner Geburtstagsparty aus irgendeinem Grund Drogen genommen hat, verlor er das Bewusstsein. Und ich einfach nicht klar damit. Er ist der einzige Freund, den ich hier an der Uni gefunden habe.

Was? David nimmt Drogen?

Ich kann es auch nicht glauben. Das muss alles ein Missverständnis sein, denn David ist keiner, der Drogen nimmt, eher unterjubelt bekommt, weil sich jemand einen Scherz erlaubt!

Er mag ja noch nicht mal Alkohol. Er ist uncool, er ist Oldschool, hat noch nicht mal ein Smartphone, sondern ein uraltes Handy, und er ist katholisch und studiert auch noch Theologie!

Aber für mich ist er noch viel mehr als bloß eine nette Bekanntschaft: Er hat mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben. Weil er ein wunderbarer Mensch ist und Gott in jedem Winkel sucht, von Jesus so angetan ist, ohne mich je zu seinem Glauben zu bekehren. Es war völlig in Ordnung für ihn, dass ich sein Angebot abgelehnt habe, mit ihm den Gottesdienst zu besuchen. Es stört ihn nicht, dass ich irgendwie komisch bin, denn er ist auch auf seine Art komisch. Bei Gleichaltrigen bin ich mir nie so ganz sicher, ob sie mich wirklich mögen oder nur so tun, weil sie irgendwas von mir wollen. Aber bei David spüre ich deutlich Sympathie, nicht erst, seit er mir diese Kekse geschenkt hat, weil sie nicht vegan waren. Oder mich anspornte, ebenfalls bei der Klimademo mitzulaufen. Bei seiner Geburtstagsparty sollte ich auch auf jeden Fall dabei sein. Er hat mir anvertraut, dass er nur sehr wenige Freunde hat und es ihm daher sehr wichtig ist, dass ich erscheine. Ich habe ihn beim Wort genommen, er sollte auf mich zählen können. Und was war? Wir waren dort zu acht!

Ja, es ist immer komisch, wenn Leute sagen, sie haben nicht viele Freunde und dann stellen sie so große Partys auf die Beine, stimmst du mir zu. Die wissen nicht, was es bedeutet, keine Freunde zu haben.

Ich habe heute von der Party geträumt, dass ich wieder dort am Tisch sitze, als er umgekippt ist, die Trivial-Pursuit-Karte noch in der Hand. Die Panik, die unter den Gästen losgebrochen ist und das Gewusel dann... Ich bin schweißgebadet aufgewacht. Weißt du, wenn David stirbt, dann habe ich niemanden mehr!

Es ist doch noch gar nicht an der Zeit, sich solche Gedanken zu machen, Linus. Das zieht dich doch nur runter.

Das tue ich aber trotzdem! Werde ich bald zwei Gräber besuchen müssen? Dich habe ich zumindest nie kennengelernt und somit nicht gewusst, was ich verloren hätte, wären wir befreundet gewesen.

Kanntest du noch andere Leute auf dieser Party?

Ich kannte außer David nur zwei Studenten von der Klimademo, das war´s schon. Wir gehen ja auf verschiedene Fakultäten. Eigentlich alles ganz nette Leute auf der Party, sind ja schließlich alles Freunde von David, da hätte ich nichts anderes erwartet. Aber da war noch jemand… Er schien mich zu kennen, er wusste, dass ich schwul bin, ohne mir je begegnet zu sein. Okay, ist nichts ungewöhnliches, das riechen manche Leute einfach. Aber dieser Dominik hat mir sogleich unterstellt, was mit David zu haben, kaum dass ich im Haus war! Das ist doch die Höhe! Was bildet der sich ein?!

Womöglich Eifersucht?

Kann ich mir gut vorstellen, dass es das ist, denn er hatte selbst was mit David! Das kann ich mir immer noch nicht so recht vorstellen! Du etwa?!

Wirklich? Wie hast du das rausgefunden, und wann soll das begonnen haben?

Das war nicht zu überhören. Kaum dass David auf der Party aufgetaucht ist… und er kam nicht alleine, er hatte einen Freund dabei: Pablo! Der wohl in ihn verliebt ist, glaube ich.

David und Pablo? Das redest du dir ein, oder?

Nein wirklich, es hat mir das Herz gebrochen, diese beiden zu sehen, wie sie da reinkamen, das war einfach so deutlich, dass sie eine tiefere Verbindung haben. Ob die jetzt intim oder platonisch ist, geschenkt! Pablo spricht kein Deutsch, aber sie waren so vertraut miteinander, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Da ist Dominik durchgedreht und hat David in der Küche zur Rede gestellt, ihn aufs Übelste beleidigt, er wäre so ein Heuchler, weil niemand was von ihrer Affäre wissen soll, er dann aber Pablo zur Party mitbringt. Ich war einfach nur fassungslos. David hat mir nie von Pablo erzählt, oder von Dominik, und auf dieser Party erfahre ich dann alles so nebenbei.

Was für ein Drama!

Das kannst du laut sagen! Weißt du was ich denke? Es war Dominiks Schuld, dass David sich zu diesen Drogen hat verleiten lassen. Wegen diesem Drama.
Schuld - dieses Thema hattest du doch neulich in der Vorlesung, davon hast du mir erzählt.

Ja. Die Einführung ins Schuldrecht hat der Dozent fast schon philosophisch gestaltet, da hat mir Jura fast gefallen! Aber ich schweife ab.

Richtig. Wir waren bei Dominik – sieht der wenigstens gut aus?

Naja, er sieht so mittelgut aus, eine Fünf von Zehn, ein Durchschnittsgesicht, jemand, bei dem ich spontan gar nicht wüsste, ob ich ihn in der App nach links oder rechts wischen soll.
Wohin würdest du dich selbst denn wischen?

Puh, du stellst Fragen! Das mit meinem Gesicht drauf auf jeden Fall nach links. Das, auf dem meine Beine zu sehen sind, nach rechts, vielleicht.

So, so.

Guck nicht so. Weißt du, ich wäre noch nicht mal auf die Idee gekommen, dass David schwul oder bi sein könnte. Er hat mir gegenüber nie Andeutungen in diese Richtung gemacht. Das Thema Sex und alles was dazu gehört, haben wir eigentlich immer ausgeklammert und das war voll okay für mich, ich kann da eh nicht mitreden. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich ihn als asexuell angesehen, seit er mal meinte, dass er überlegt, Priester zu werden! Dann wäre er ohnehin tabu. Wie könnte ich ihn also anflirten! Da wäre Frust und Liebeskummer ja vorprogrammiert, wieso sollte ich mir das antun?

Aber du empfindest doch was für ihn. Das hab ich immer so rausgehört in deinen Erzählungen über ihn, oder nicht?

Ja. Ich liebe David! Ich liebe ihn so sehr, dass es für mich in Ordnung ist, dass es nur platonisch ist. Solang wir einfach nur befreundet sind. Dass er sich Intimitäten einfach bei Dominik geholt hat, verstehe ich nicht. Ich war wohl einfach nicht auf seinem Radar, hab keine Signale ausgesendet, weil ich so unerfahren bin, dass ich selbst wie asexuell wirken muss.

Und dann kommt Dominik daher, schnappt sich einfach, was ihm gar nicht zusteht, und veranstaltet ein Chaos…

Du kannst Dominik nicht wirklich leiden, oder?

Da hast du recht, ich kann ihn nicht leiden! Von der ersten Sekunde an nicht! Und das Beste, er hatte nicht nur bis vor kurzem eine Freundin, sondern steht auch noch auf einen anderen Typen, von dem hat er mir ein Foto gezeigt. Jemand wie er hat David gar nicht verdient! Aber immerhin hat er mir meine Tavor gebracht, als ich sie dringend brauchte.

Nett von ihm.

Er hat mich an dem Abend sogar nach Hause begleitet, nachdem David dann mit Blaulicht abtransportiert worden ist, denn die Party hat sich im Nu aufgelöst. In der U-Bahn schlug er vor, David am nächsten Tag im Krankenhaus zu besuchen. Das haben wir auch gemacht. Es war definitiv besser, als alleine hinzgehen, vor allem, weil Davids Eltern dort waren. Die uns natürlich ausgequetscht haben, was genau sich dort abgespielt hat mit David, und alleine mit ihnen wäre es sehr unangenehm geworden.

Wenn das so ist… Gib ihm noch eine Chance! Vielleicht ergibt sich ja doch eine neue Bekanntschaft oder sogar Freundschaft?

Jetzt klingst du wie mein Therapeut, der ist auch so ein furchtbarer Optimist! Es besteht rein rechnerisch betrachtet, mit genau so hoher Wahrscheinlichkeit die Chance, dass es eine schlechte Erfahrung wird mit ihm. Ich kann es aber nicht gebrauchen, dass an der Uni mein Ruf geschädigt wird, die Schulzeit reicht mir fürs restliche Leben… Übrigens haben wir uns noch einmal getroffen, Dominik und ich, falls es dich interessiert.

Ach ja? Wann?

Montagabend. Ich habe schon geahnt, dass dieser Tag richtig beschissen wird nach diesem Wochenende, aber er hat meine Befürchtungen übertroffen… eine Panikattacke abends nach der Uni, das war die zweite in einer Woche, weil wohl einfach alles zu viel für mich war. Diese ganzen dunklen Gedanken in meinem Kopf… Die Enge in meiner Brust; das Gefühl, als müsste ich sterben! Ich habe richtig Schiss bekommen, dass das Tavor nicht wirkt und ich in die Notaufnahme muss, wo sie mich wieder wegschicken, weil es ja nichts Lebensbedrohliches ist und ich übertreibe und es mir bloß einbilde… Ich hab mich so einsam gefühlt wie noch nie. Da war wirklich niemand auf diesem verdammten Planeten! Ich bin einfach nur bescheuert, mich selbst so zu isolieren, wo ich doch schon Einzelkind bin…

Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können.

Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Sebastian, Mensch, du bist tot… Irgendwie hab ich es geschafft, Dominik eine Nachricht zu schicken. Er hat mir seine Nummer gegeben, und ich soll mich melden, wenn was ist. Wie man das halt so daher sagt, viel Gelaber, nichts dahinter. Ich hab ihn aber beim Wort genommen, um ihm zu zeigen, dass man darüber keine Scherze macht.

Ist er wirklich zu dir gekommen?

Tatsache! Es wäre ok gewesen, wenn er bloß angerufen, oder mich auch nur mit Sprüchen vertröstet hätte. So wie meine Mutter, die mich schon längst aufgegeben hat, ihr ewiges Stell dich nicht so an, Linus. Du musst nur wollen, komm doch mal aus dir raus! Anderen geht es viel schlechter! Was soll denn aus dir mal werden? Du musst doch was aus dir machen! Jedenfalls, ich habe nichts von Dominik erwartet, rein gar nichts. Aber kaum dass er meine Nachricht gelesen hat, ist er in die Bahn gestiegen. Zu mir. Nur weil ich ihm geschrieben habe, dass es mir nicht gut geht! Wo gibt es denn sowas?

Vielleicht ging es ihm auch nicht gut nach dieser Partynacht und er hat jemandem zum Reden gebraucht.

Ja, er war auch wirklich nicht so gut drauf. Irgendwas ist unheimlich an ihm. Ihm entgeht nichts, er scheint Gedanken lesen zu können. Wie ein Hund, der rumschnüffelt und einer Fährte folgt, die anderen entgeht. Nach einem Gespräch weiß er mehr über dich, als du über ihn. Er hat mir zwar auch von sich erzählt… Aber das ist ein Fliegenschiss im Vergleich zu den Dingen, die er von mir weiß, zum Beispiel das mit David und dem Tavor, und ich hab mir noch viel mehr aus der Nase ziehen lassen, das kotzt mich jetzt total an. Wenn es einer verdient, so viel von mir zu wissen, dann nur du oder vielleicht auch David.

Wie verlief denn der Abend mit ihm?

Also… Schau mich nicht so an, ich bin da wirklich nicht stolz drauf. Ich hab mich von ihm anstiften lassen, den teuren Single Malt aufzumachen. Das Geschenk von Opa Thaddäus zum Abi. Der sollte eigentlich wissen, dass ich Hochprozentiges nichts abgewinnen kann, und jetzt steht die Flasche schon ewig hier rum... Opa. Er ist so alt. Wer weiß, ob er meinen Abschluss noch erlebt… Jedenfalls, Alkohol trinken ist das eine. Das Beste kommt noch! Wir haben geredet, ich kann mich nicht an alles erinnern, Familie und so und auch über Jungs…

Aha…

Nein, ich habe ihm nichts erzählt, was du nicht schon längst weißt! Du hast zwar mit deinen Erfahrungen nicht so rausgerückt, aber das ist vollkommen okay für mich. Wie der drauf ist! Stellt mir die intimsten Fragen einfach so, obwohl wir uns erst einen Abend kennen, das ist doch total schräg! Und wir haben zusammen fast die halbe Flasche ausgetrunken!

Ernsthaft?

Ja, du hast richtig gehört! Das Ding hat über vierzig Prozent! Wir haben uns so die Kante gegeben! Wir wollten eigentlich nur einen Schluck, ich bin ja nicht lebensmüde. Es ging mir eh schon scheiße, da besäuft man sich doch nicht auch noch.

Unter der Woche? Wenn du am nächsten Tag Vorlesungen hast?! Und auch noch nachdem du Tabletten genommen hast? Sag, dass das nicht wahr ist, Linus!

Ja, ich weiß! Du hast ja mit allem Recht! Das hätte im Krankenhaus enden können! Hochriskant.

Das war wirklich leichtsinnig von dir.

Das kommt nicht wieder vor, das kann ich dir schriftlich geben! Ich war noch nie so betrunken! Jedenfalls, die Hemmschwelle ist dementsprechend gesunken. Ich war so angeduselt, und dachte ich bilde mir ein, was ich da sehe. Halt dich fest!

Was hast du gesehen?

Also, Dominik ist aufgestanden, zu meinem Wandspiegel gegangen, und dort…

Dort macht er was?

Zieht er sich komplett nackt aus!

Was?! Nicht wirklich! Warum das denn?

Tja, ich weiß nicht, vielleicht der Alkohol? Er hat mehr getrunken als ich. Er inspizierte sich zuerst von allen Seiten, als hätte er sich selbst noch nie nackt gesehen. Das war echt verrückt! Als ich wieder zu Sinnen komme, steh ich ebenfalls nackt vor meinem Spiegel. Wie als würde mich jemand anderes fernsteuern. Ich tanze, Dominik tanzt, so verrückte Moves, jeder von uns tanzt für sich allein und irgendwie war es schon ganz lustig, noch lustiger als auf der Party. Wann habe ich sowas denn je gemacht? Mich gefühlt, als wäre ich die Hauptrolle in Dirty Dancing! Er hat das einfach aus mir rausgekitzelt, es fiel mir leicht, mich mal komplett fallen zu lassen. Alkohol halt. Aber an das Danach kann ich mich nicht mehr so gut erinnern. Ich lag in meinem Bett. Nackt. ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam…

Wozu kam es? Habt ihr gevögelt, oder was?

Puh. Du hast es erfasst, ja, er hat mich gevögelt!

Wolltest du das?

Naja… Ein Teil von mir schon. Weißt du, wenn er nichts mit David gehabt hätte, dann wäre ich sicher nicht neugierig geworden, aber so... das war wohl der ausschlaggebende Punkt.

Okay. Wie war es denn?

Es war… unspektakulärer, als ich es mir vorgestellt habe. Ganz anders als mit einem Toy, klar. Er war eher auf sich bedacht... Egal. Viel habe ich wegen dem Alkohol ja nicht mitbekommen. Hauptsache ich habe es jetzt endlich hinter mir, das war ja überfällig, in meinem Alter!

Hm. Bist du froh darüber?

Ich hätte mir zwar gewünscht, dass Dominik meine Situation nicht einfach ausnutzt, vor allem, da er ja wusste, dass ich vorher noch nie… Hallo, der war noch klarer als ich, und hat noch einen hochgekriegt und sogar an ein Gummi gedacht. Zum Glück! Ich lag da, hätte mich nicht mal wehren können. Ich hab mir mein erstes Mal nicht so vorgestellt! Und dann musste es auch noch mit Dominik sein!

Das erste Mal ist immer blöd…

Tja, da sagst du was. Er ist danach ganz schnell abgehauen. Aber besser, als wenn er die Nacht bei mir verbracht hätte! Am nächsten Morgen, also gestern, war ich nicht fähig zu joggen, geschweige denn aufzustehen, oder irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Lach nicht! Das war nicht nur ein Kater, ich war am Arsch, buchstäblich. Aber auch ein wenig stolz: Das erste Mal, dass ich wegen einem Kater die Vorlesung geschwänzt habe, und nicht, weil ich meinen bescheuerten Ängsten nachgebe! So wie ein ganz normaler Student!
Beides nicht erstrebenswert, oder? Hast du danach nochmal etwas von ihm gehört?

Er hat mir geschrieben, gefragt wie es mir geht, und dass er wegen dem Kater nicht auf der Arbeit war, das finde ich nur gerecht.

Er hat gefragt, wie es dir geht?

Naja, rein aus Höflichkeit eben. Egal. Sag mal, kennst du das Gefühl, Sebastian? Nicht den Kater, sondern dieses Danach-Gefühl, so platt zu sein und Schmerzen zu haben, erst am nächsten Tag hat es geschmerzt, im Eifer des Gefechts nicht, der Alkohol eben… Hast du schon mal etwas mit einem Mann gehabt, Sebastian?

...

Musst du jetzt nicht verraten, ist ja auch noch früh am Tag. Ich hoffe echt, dass das schnell wieder verschwindet. Ich hab ja echt Nerven, dich sowas zu fragen. Dich! Der längst Asche ist.



Hör auf zu lachen! Mann! Ja, es ist schon echt grotesk! Aber weil ich die Jungs auf Grindr lieber ghoste, statt zu den Treffen zu kommen, wäre ich auf ewig Jungfrau geblieben… Ja, vielleicht melde ich mich nochmal bei Oliver, wenn er jetzt noch will, er hat mir mal seine E-Mail gegeben, weil wir uns so nett unterhalten haben. Wenn das mit Dominik geht, dann geht es auch mit ihm.
Aber mal genug von mir jetzt. Du hast das letzte Mal gesagt, du willst mir bald erzählen, was du studiert hast. Und sag bitte nicht Jura! Sag lieber Mathematik! Ich will, dass du als Mathematikstudent gestorben bist. Weil Mathematik faszinierend ist: Abstraktes, logisches Denken. Überprüfbar, wiederlegbar, wiederholbar, eine Naturwissenschaft. Es steckt in allem, was wir tagein, tagaus nutzen, keiner kommt drum herum. Und das Beste, da gab es nie Gruppenarbeiten oder Referate damals im Leistungskurs, bei meinem Lehrer, wo der Unterricht trockener als eine Scheibe Knäcke war. Ich möchte wissen, was ich alles verpasst habe, weil ich mich auf Vaters Geheiß hin gegen Mathematik und für Jura entschieden habe. Was vielleicht ein Fehler war. Mir liegt das einfach nicht im Blut, vor anderen zu sprechen! Allein schon der Gedanke, im Gerichtssaal frei reden zu müssen, während alle zuhören, ist Stress pur! Mir liegen die Zahlen, alles Rationale… während ich mir paradoxerweise mein Leben von irrationalen Ängsten vermiesen lasse und ich führe Dialoge, nein eigentlich Monologe, mit einem Toten!


Ich erhebe mich von der Bank, gehe ein paar Schritte auf den Baum zu, auf dein Foto. Stelle Blickkontakt mit dir her, versuche zu erahnen, wer du warst, was du mochtest, worin du gut warst, was du werden wolltest, und in wen du verliebt warst. Alles Fragen, auf die ich keine Antworten erhalte. Denn du lebst nicht mehr. Ich bin hier ganz alleine, mit einer Fantasie über dich, die bloß in meinem Kopf existiert, lade meinen Kummer bei dir ab und du kannst dich nicht dagegen wehren. Niemals werde ich mit dir eine Schachpartie spielen können, durch den Park joggen oder über Jungs quatschen.
Nächstes Jahr, wenn ich von meinen Eltern zurückkomme aus den Weihnachtsferien, bin ich älter, als du es geworden bist. An Neujahr Geburtstag zu haben, hat zumindest den Vorteil, dass es immer ein Feuerwerk gibt, auch wenn man mit niemandem feiert. Ich habe schon lange nicht mehr gefeiert.
Mir wird es mies gehen, weil ich an den Feiertagen wieder ganz im Zentrum von Vaters Aufmerksamkeit stehen werde, wie Frodo vor Saurons Auge. Denn ich habe ja keinen Bruder, der mich mal ablösen könnte. Er wird nachbohren bis Öl kommt, was die Uni macht und was ich schon alles gelernt habe, da wette ich drauf.

Ich sehe es erst jetzt, als es auffällig im Wind weht: Da hängt etwas! Eine Paketschnur ist um deinen Baumstamm gebunden, daran befestigt ist eine Klarsichthülle mit einem Karozettel darin, beim Näherkommen wird es schärfer.
Für Linus, steht gut sichtbar von außen lesbar daran, handschriftlich geschrieben, und mich fröstelt, bin schon ganz ausgekühlt. Für mich?! Als Antwort an den Brief, den ich dir vor ein paar Wochen dagelassen habe, weil ich so vieles loswerden musste, was scheiße in meinem Leben läuft?
Ich hole den Brief aus der Folie und falte ihn auf. Mit Kuli und einer eckigen Schrift, bei der die n aussehen wie die u, stehen dort ein paar Zeilen geschrieben:

Lieber Linus!

Ich bin Simone, die Mutter von Sebastian, und der lange Brief, den du an diesen Baum gepinnt hast, hat mich sehr gerührt! Ich habe lange überlegt, ob ich ihn lesen darf…
Ich dachte zuerst, es wäre von einem Freund von ihm oder von seiner Freundin... Sebastian hat viele Freunde gehabt, bei uns war immer jemand zu Besuch gewesen, das Haus erfüllt von seinem Lachen und jetzt kommt niemand mehr und diese Stille ist kaum auszuhalten. Er würde sich darüber freuen, dass du ihn oft besuchst und ihm etwas erzählst!
Die Musik, die er zuletzt so gehört hat, ich weiß nicht genau, ich hatte keinen Zugang dazu, sie klang düster und elektronisch, und hat mir eine ganz andere Seite an meinem Sohn gezeigt, aber jeder hat eben seine Musik, mit der er aufwächst, er konnte mit meiner auch nichts anfangen?
Es ist schlimm, seinen eigenen Sohn zu verlieren. Es kam aber nicht unerwartet, denn bei Sebastian wurde bei seiner Geburt eine Fehlbildung festgestellt und die Ärzte meinten, er würde nicht älter als 13 oder 14 werden! Er war schon ein paar Jahre auf den Rollstuhl angewiesen, und mußte jeden Tag viele Tabletten nehmen, davon war er oft müde, aber er war so neugierig auf das Leben und nie verbittert über sein Schicksal.
Er wollte schon immer Biologie studieren, weil er die Natur liebt, konnte es aber nie beginnen und auch sein geplantes FSJ beim Förster auch nicht mehr antreten, weil sich sein Zustand da verschlechtert hat. Er wollte nach dem Tod eins mit der Natur sein und hier begraben werden… So ist dieser Baum hier, Urnengrab und Lebensraum für Tiere gleichzeitig und ich kann den Baum wachsen und blühen sehen!
Schade, daß du dich hier in der Stadt noch nicht eingelebt hast, manche Menschen brauchen dafür ein bißchen länger? Könntest du nicht in einen Schachklub eintreten? Oder eine Selbsthilfe-Gruppe gründen?
Häng doch mal einen Zettel ans Schwarze Brett deiner Uni, ich bin mir sicher, dass es Studenten gibt, denen es genauso geht. Ich gebe dir gern meine E-Mail-Adresse, falls du noch mehr Fragen hast.

Liebe Grüße,
Simone Wurst

PS: Ich habe mich immer gewundert, warum all diese Plastik-Verpackungen hier rumlagen, waren die von dir ?? Hör bitte auf, deinen Müll in der Natur liegen zu lassen ! Sebastian hätte mit dir geschimpft, er hat immer mit seinen Freunden geschimpft, wenn sie Käfer oder Blumen zertreten oder Müll falsch entsorgt haben.


Die E-Mail-Adresse unten kann ich nicht mehr lesen, denn sie verschwimmt mir vor meinen Tränen. Ich wische sie mir aus den Augen, dann bücke ich mich, sammle die Verpackungen auf, denn sie hier hinzuwerfen war wirklich nicht in Ordnung. Da würdest du mich zu Recht anschnauzen, denn wofür war ich sonst auf der Klimademo?
Am Himmel lässt sich ein kleiner Fetzen Blau blicken. Vielleicht kommt heute doch noch die Sonne durch.

Ich komme jedenfalls wieder, Sebastian, das verspreche ich dir! Du bist zwar ganz ein ganz anderer Mensch gewesen, als ich mir es vorgestellt habe, gewünscht habe… aber das ist nicht schlimm. Im Gegenteil, das verrät mir so viel über mich selbst. Ich werde dich weiterhin besuchen und dir erzählen, wie es weitergeht mit David. Und vielleicht auch mit Dominik, wer weiß. Dich unter deinem Baum zu besuchen und Monologe mit dir zu führen, lasse ich mir nicht nehmen, weil es mir gut tut!
 
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