Montags im Museum

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VeraL

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Mein Vater ist verschwunden. Manche Väter verschwinden, weil sie eine andere Familie in der Nachbarstadt haben. Andere verlieben sich in ihre Sekretärin und fliegen mit ihr auf die Malediven. So war es zumindest bei zwei Mädchen aus meiner Klasse. Bei mir war es anders. Mein Vater löste sich vor meinen Augen in Luft.

Als ich klein war, dachte ich, mein Vater hätte den coolsten Job der Welt. Er arbeitete im Naturkundemuseum. Nach der Schule besuchte ich ihn dort oft. Bevor ich in den Keller in sein Büro ging, blieb ich immer in der Eingangshalle stehen und beobachtete, wie das Sonnenlicht durch die Glaskuppel auf das riesige Dinoskelett fiel. Manchmal schien es, als würde der Schädel mir zuzwinkern. Ich verbrauchte Stunden bei Papa, atmete den Geruch von staubigem Papier ein, half ihm, Knochenstücke zu sortieren und zu reinigen. Dabei erzählte er mir von seinen Exkursionen an die abgelegensten Orte der Welt. Später hatte ich weniger Zeit ihn zu besuchen, weil ich viel für die Schule lernte und andere Hobbys entdeckte. Deswegen merkte ich nicht, was mit ihm passierte.

Am Tag seines Verschwindens saß ich in der Schule und bekam keine Luft mehr. Es fühlte sich an, als hätte das Dinoskelett seinen langen Hals um mich geschlungen und drückte, so fest es konnte. Ich rannte aus der Klasse und blieb erst vor Papas Bürotür stehen. Ich stieß sie auf und jetzt verpassten mir die imaginären Dinoknochen einen Schlag auf den Kopf. Ich erkannte nichts in dem Raum wieder. Die Steine und Werkzeuge waren verschwunden, die Pflanzenschaublider an den Wänden und die Regale ebenfalls. Überall hingen Zettel mit Formeln. Auf dem Boden schlängelten sich Kreidesymbole. Und in der Mitte stand mein Vater mit einem übergroßen Rucksack.
„Papa! Was machst du da?“
„Lexi, du kommst gerade richtig.“
„Was, wozu? Bist du einem Kult beigetreten?“
Mein Vater lachte. „Nein, ich habe etwas entdeckt. Eine Möglichkeit zur Zeitreise. Stell dir das vor, ich könnte Dinosaurier beobachten.“
In meinem Kopf kicherte das Dinoskelett. „Du bist übergeschnappt. Selbst wenn das klappen würde, was es nicht wird. Dinos sind nett als Knochen. Oder in Büchern. Es sind Monster. Sie fressen dich auf oder zertreten dich. Komm sofort aus dem Ding da raus.“
Die Linien und Muster aus Kreide machten mir Angst, auch wenn ich natürlich nicht glaubte, dass sie funktionierten. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche, um die Linien wegzuwischen.
Mein Vater brüllte: „Lexi, rühr das Portal nicht an.“
Zu spät. Mit einem Finger hatte ich den äußersten Schnörkel berührt. Sofort schossen grüne Flammen aus den Symbolen. Und dann war mein Vater weg.

Ich sank zu Boden. Auch das Feuer erlosch. Ich wollte diese verfluchten Linien wegwischen. Aber wie sollte er dann zurückkommen? Weil ich den Anblick nicht ertrug, raffte ich mich auf und ging in die Eingangshalle. Montags war das Museum für Besucher geschlossen und war allein.
„Das kann doch nicht sein“, sagte ich zu dem Skelett. „Bestimmt träume ich nur.“
Der Schädel, der auf dem massigen Körper winzig wirkte, grinste mich an.
„Meinst du, er kommt zurück?“
Der Dino sagte nichts.

Irgendwann ging ich nach Hause. Mama war auf einem Kongress. Ich überlegte, ob ich sie anrufen sollte. Aber wer sollte mir glauben, dass Papa in den grünen Flammen verschwunden war? Ich hoffte, dass er wieder kam. Dass er abends einfach am Tisch sitzt. Doch nichts passierte. Also schwänzte ich die Schule und schlich mich in sein Büro. Dort war alles unverändert. Ich studierte die Formeln auf den unzähligen Blättern. Ich wurde aus ihnen nicht schlau. Vieles war in einer Schrift geschrieben, die ich nicht lesen konnte. Wieso kam er nicht zurück? Funktionierte das Portal für den Rückweg nicht? War er an einem anderen Ort, in einer falschen Zeit gelandet? Oder hatte ein T-Rex ihn verspeist? Nein, so wie ich meinen Vater kannte, war etwas anderes das Problem.

Ich ging zu meinem Knochenfreund und erzählte ihm, was ich dachte. Er nickte mir zu.
„Soll ich es tun?“, fragte ich.
Wieder ein Nicken.
„Kann ich dir was mitbringen?“
Er grinste. Ich musste auch lachen. Wir verstanden uns.
Ich lief zurück zu dem Feld aus Kreidelinien und stellte mich in die Mitte. Ich atmete tief ein und berührte mit den Fingern das Muster.

Mir war warm. Hier war es schwül-heiß. Ich stand in einem Dschungel, umgeben von riesigen Blättern. Irgendetwas war merkwürdig. Ich musste kurz überlegen, bevor es mir auffiel. Ich hörte keine Vögel singen. Natürlich nicht. Ich schaute mich um. Wo konnte mein Vater sein?
„Papa!“, versuchte ich es mit einem gebrüllten Flüstern. Ich stolperte durch das Unterholz und kam mir dabei sehr laut vor. Wenn es hier Dinosaurier gab, hatten sie mich jetzt sowieso gehört. Also schrie ich in voller Lautstärke: „Paaaapaaa!“
„Lexi. Du bist gekommen.“ Mein Vater klang erfreut. Er saß am Rande einer kleinen Lichtung und zeichnete eine Gruppe Iguanodons.
Ich ermahnte ihn: „Papa, du bist seit einer Woche hier. Komm jetzt mal wieder zurück.“
„So lange schon? Kam mir nicht so vor.“ Das war absolut typisch.
„Papa, komm! Bevor hier ein T-Rex auftaucht.“
„Ach, mein Schatz. Die gibt es hier nicht. Setz dich zu mir und schau dir diese wunderbaren Tiere an.“
Gegen meinen Willen setzte ich mich und war sofort verzaubert. Trotz ihrer Größe bewegten sie sich anmutig und schienen sich an uns nicht zu stören. Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen, als die Herde plötzlich unruhig wurde. Es knackte und raschelte im Wald und drei Raubsaurier, die ich nicht kannte, die es aber eindeutig auf die weidenden Iguanodons abgesehen hatten, brachen auf die Lichtung.
„Los, Papa, komm! Wir gehen jetzt nach Hause, bevor die Biester da feststellen, dass wir auch gut schmecken.“
Ausnahmsweise hörte mein Vater auf mich, schnappte sich seine Sachen und lief hinter mir her.
Ich drehte mich um und sah, dass uns doch einer der Raubsaurier folgte. So schnell ich konnte, rannte ich weiter. Wo war unser Portal? Kurz bevor ich es erreichte, stolperte ich. Mein Vater zog mich hoch, dabei verwischte mein Arm eine der Linien. Ich wollte sie nachziehen, aber der Raubsaurier fauchte. Er war nur noch zwei Meter von uns entfernt. Mein Vater aktivierte die Linien und die grünen Flammen loderten auf, als der Saurier zum Sprung ansetzte. Ich schloss die Augen.

Einen Moment später spürte ich festen Boden statt Erde unter meinen Füßen. Zögernd öffnete ich die Augen. Wir waren in Papas Büro, aber es sah anders aus. Sehr anders. Mein Vater fluchte und lief Richtung Eingangshalle. Von dem Dinoskelett standen nur die Beine. Der Rest lag auf dem Boden und in Kisten verteilt herum. Es war kein Mensch zu sehen.
Mein Vater sagte trocken: „Scheinbar hatte das Museum 1905, als sie das Ding aufgebaut haben, auch schon montags geschlossen.“
Oh nein, die verwischte Linie. Aus einer der Kisten ertönte ein leises Kichern.
 



 
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