Mordsgeschichten

Seien Sie froh, wenn Sie in Düsseldorf oder einer anderen großen Stadt leben. Hier – hier im Kurort ist es wirklich gefährlich. Sie glauben mir nicht? Dann will ich mal den Namen Zurwehme* fallen lassen … Sie erbleichen: der Serienmörder? Genau der.

Auf seiner Flucht quer durch Deutschland hinterließ er damals diese furchtbare Blutspur – und er war auch hier. Zwar ist bei uns niemand ernstlich zu Schaden gekommen, doch das verdanken wir womöglich allein dem Krach durchratternder Züge. Unsere kleine Stadt liegt an der Strecke von Hamburg nach Hannover, eine der am stärksten befahrenen im Land. Besonders die Güterzüge erzeugen Tag und Nacht infernalischen Lärm, der weit zu hören ist.

Dieter Zurwehme ist natürlich nicht in einem Hotel abgestiegen. Er brach in ein Gartenhäuschen ein und machte es sich da gemütlich. Diese Laubenkolonie ist keine zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt, nur der Bahndamm liegt dazwischen. Zittern Sie mit mir, wenn wir uns vorstellen, wie groß die Gefahr für mich war.

Ich bevorzuge nämlich Stoßlüftung, reiße morgens als Erstes alle Fenster und die Terrassentür weit auf und mache mir dann im Bad zu schaffen. Fast fertig dort, höre ich ein Geräusch aus der Küche. Ich durchquere die Diele und rufe schon: „Moritz, bist du heut aber früh unterwegs!“ Das ist ein Kater aus der Nachbarschaft, der mich ab und zu besucht. Er bekommt sein Futter in der Küche und wartet dort auf mich, bis ich komme. Aber statt des Katers finde ich den schrecklichen Zurwehme, wie er auf einem Stuhl sitzt und mit dem Daumen die Schärfe meines Brotmessers prüft …

Ich glaube, er ist wirklich nur abgereist, da es ihm hier zu laut war. Ansonsten hatte er wenig zu befürchten. Unsere Mordaufklärungsquote, sonst um neunzig Prozent, beträgt exakt null Komma null. Ja, doch. In vielen Jahren hat es nur einen Mord gegeben – und der blieb bis heute unaufgeklärt.

Das Opfer war ein Schuldirektor. Das entschuldigt nichts, dafür gibt es noch keine mildernden Umstände. Ich selbst habe ein Alibi. Ja, Lehrer machen sich oft unbeliebt. Es drangen Gerüchte in die Öffentlichkeit, und zwar aus den Mauern einer Jugendstrafanstalt, dass ein ehemaliger Schüler ihm nicht nur in Liebe und Verehrung zugetan gewesen sei. Die Ermittlungen verliefen insoweit im Sand. Und die Polizei hatte bereits einen Hauptverdächtigen. Cherchez la femme! Obwohl nämlich unser Schuldirektor CDU-Mitglied war – ich bin heute etwas indiskret -, soll es ihm beliebt haben, seines Nächsten Weib zu begehren. Sie wohnte zwar weiter weg, dennoch kam der Gehörnte hinter den Sachverhalt. Und es gab Schmauchspuren im Auto dieses Verdächtigen …

Schneller, kommen Sie zu Ende, aus Ihnen wird nie ein guter Krimiautor, höre ich rufen. Also, ein Gutachten im Gerichtsverfahren ergab, dass die Schmauchspuren nicht zwangsläufig mit der Mordnacht in Verbindung zu bringen sind. Der Angeklagte wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Inzwischen war viel Zeit vergangen, Erfolg versprechende Ermittlungsansätze gab es nicht mehr. Der wahre und einzige Mörder läuft immer noch frei herum. Bedenken Sie das, falls Sie hier eine Kur planen.

Es dämmert schon. Sind Türen und Fenster geschlossen? Ich drehe mal eine Runde durch die Wohnung.


*Dieter Zurwehme (1942 - 2020) war 1999 nach einem Ausbruch aus einer Strafanstalt als Serienmörder in Deutschland unterwegs.
 
Zuletzt bearbeitet:

petrasmiles

Mitglied
Ich nehme mal an, dass es Dir einen Mordsspaß gemacht hat, diesen Text zu schreiben.
Ich habe ihn mit Vergnügen gelesen und stelle fest, dass Du den Ton gut durchgehalten hast.
Besonders komisch: dass dann bei der Begegnung Aug' in Aug' NICHTS passierte. Da plappert die Person munter weiter ... an der 'Abbruchkante' sieht man erst, dass er wohl stiften gegangen ist. Und warum, weiß sie dann auch gleich - einfach zu laut.

Du hast es erreicht, dass ich sicher nicht dorthin fahren werde :)

Liebe Grüße
Petra
 
Du hast es erreicht, dass ich sicher nicht dorthin fahren werde
Ach, das ist doch alles schon so lange her, Petra. Der Text ist ungefähr siebzehn Jahre alt und sein Verfasser hat den Tatort der Niederschrift längst verlassen. Recherche im Internet ergab jetzt ein weiteres Tötungsdelikt dort: 2014 Muttermord mit nachfolgender Brandstiftung, Täter hat sich selbst gestellt. Ergo: Mordstatistik hat sich wesentlich verbessert: 50% aufgeklärt!

Danke für die freundliche Textaufnahme.

Liebe Grüße
Arno
 

Anders Tell

Mitglied
Hallo Arno,
ich kann mich an Zurwehme noch gut erinnern. Und du hast Recht: In den Dörfern ist die Gefahr viel größer oder wird als größer empfunden. Ich wohne unweit einer größten forensischen Psychiatrien. Immer Mal wieder entweicht ein Patient und der Hubschrauber kreist über die umliegenden Ortschaften. Bei mir saß noch keiner in der Küche und ein Freund, der in der Klinik arbeitet, sagte einmal, dass es der sicherste Ort der Welt wäre, weil dort, wo der Rauch aufsteigt, kommt er nicht runter. Es hat schon bisweilen komische Seiten, wenn alles, was passiert, dem Entweicher zugeschrieben wird.
 
Danke, Anders Tell, für die interessanten Details. Größer empfunden ist wohl zumeist der zutreffendere Befund. Hier in Berlin kommt es auch hin und wieder zu Entweichungen aus Psychiatrie oder Strafanstalt, das wird dann bekannt gemacht, geht aber in der Nachrichten- und Informationsflut ein wenig unter. Der Fall Zurwehme war ein seltenes Extrembeispiel und gerade deshalb erinnern sich noch viele an den Namen.
 

Tonmaler

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Hallo!

Es hat mir Spaß gemacht, das zu lesen: tolle Formulierungen, Spannung, einfach elegant geschrieben.
Schon der erste Satz – und eigentlich der erste Absatz – ist gelungen, macht unmittelbar neugierig:
Seien Sie froh, wenn Sie in Düsseldorf oder einer anderen großen Stadt leben.
Da will ich gleich wissen, warum, denn normalerweise sieht es nach einer harten Strafe aus, wenn man in Düsseldorf (oder noch schlimmer: Duisburg) zu leben hat. Ich habe mal von einem Duisburger gehört, es könne eigentlich nicht sein, dass eine Stadt unabsichtlich so hässlich ist.


Textarbeit:
Hier – hier im Kurort ist es wirklich gefährlich.
Da scheint mir der 2. Bindestrich zu fehlen: Hier hier im Kurort ist es wirklich gefährlich.

stärksten befahrenen im Land. Besonders die Güterzüge erzeugen Tag und Nacht infernalischen Lärm, der weit übers Land zu hören ist.
Das zweite 'Land' klingt nicht gut in der Nähe des ersten, könnte aber einfach gestrichen werden (oder durch was anderes ersetzt).

Unsere Mordaufklärungsquote, sonst um neunzig Prozent, beträgt exakt null Komma null. Ja, doch. In vielen Jahren hat es nur einen Mord gegeben – und der blieb bis heute unaufgeklärt.
Irritiert ein wenig: Wo ist die Quote sonst bei 90 Prozent? In Deutschland? Man könnte meinen, in der Vergangenheit, aber dies stimmt ja nicht, denn in vielen Jahren gab es nur 1 Mord.

Das Opfer war ein Schuldirektor. Das entschuldigt nichts, dafür gibt es noch keine mildernden Umstände.
Wunderbar. Schöner Subtext, das mag ich: feine rhetorsiche Klinge!

Obwohl nämlich unser Schuldirektor CDU-Mitglied war – ich bin heute etwas indiskret -, soll es ihm beliebt haben, seines Nächsten Weib zu begehren.
Das ist nun allerdings übertrieben. Als ob irgendwas an der CDU – und darauf spielt es doch an – 'christlich' wäre. Falls das Satire ist, könnt man noch an der Formulierung feilen, um das witziger zu machen.

Insgesamt ein Lesevergnügen!

Gruß
tm
 
Danke, Tonmaler, fürs Lob und die Verbesserungsvorschläge, von denen mich der zweite gleich überzeugt hat. Die hässliche Wiederholung ist schon beseitigt. An der Stelle mit dem Bindestrich will ich nichts ändern. Das ist nicht als Einschub, sondern als neues Ansetzen zu verstehen. In einer gedachten Rede unterbricht sich der Erzähler nach dem ersten "hier", macht eine kurze Pause und dann geht es ohne Unterbrechung bis zum Satzende weiter.

Zu den übrigen angeschnittenen Themen: 1. Düsseldorf erklärt sich so: Text wurde seinerzeit für eine Online-Beilage der Rheinischen Post geschrieben. - 2. Die Mordaufklärungsquote lag damals bundesweit um 90% und sie liegt jetzt seit Jahren über 90%. - 3. Ein Zusammenhang zwischen der Partei und privater Moral wird hier natürlich nur ironisch angenommen. Feilen will ich da lieber nicht, es ist ja ein authentischer Fall. Aus Rücksicht auf mögliche Empfindlichkeiten habe ich bewusst zurückhaltend formuliert (Quelle damals: Prozessbericht in der Lokalzeitung).

Nochmals danke für die intensive Textarbeit.

Abendgrüße
Arno A.
 



 
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