Murmeln

Greenypsi

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Murmeln

Melanie bemerkt die Wut in sich aufsteigen. Hat er das wirklich gesagt? Sie sitzt gegenüber ihrem Freund Hannes im Restaurant. Hannes hat sie mal wieder zurechtgewiesen: „Man spricht nicht so laut, wenn man in einem Lokal ist. Wirst du das irgendwann noch lernen?“ Sie hat es zunächst für möglich gehalten, sich einfach verhört zu haben, doch eigentlich weiß sie, dass er genau das gesagt hat. Er hatte sich schon öfter so benommen und es hatte schon zu echt fiesen Streits geführt. Sie hatte geweint, er sich entschuldigt. Er hatte gesagt, er sei so erzogen worden, er meine es nicht so, er wolle Melanie auf keinen Fall heruntermachen oder bloßstellen. Es sei einfach unbedacht gewesen, er werde sich bessern. Tut mir leid, Schatz. Aber es kommt immer wieder vor, wenn sie zusammen ausgehen. Und immer wieder unterdrückt Melanie ihre Wut, auch heute. Sie sind in einem sehr guten Restaurant, das Essen ist schon bestellt und soll bald kommen. Sie sitzen draußen im Biergarten, der Wein schmeckt und es ist eigentlich ein so schöner Abend. Sie will den Abend und ihre eigene gute Stimmung nicht mit einem Streit kaputt machen. Und vielleicht reagiert sie auch zu empfindlich. Sie versucht also, darüber hinwegzusehen. Sie nimmt noch einen Schluck Weißwein. Die Pasta ist hervorragend, und der Wein beginnt zu wirken. Sie sitzen nach dem Essen noch eine Weile dort und reden über alles mögliche.

Am nächsten Morgen wacht Melanie wie gerädert auf. Sie spürt den pochenden Schmerz ihrer Tränen bereits hinter den Augen, Wuttränen. Wuttränen sind aggressiv, sie bauen einen extremen Druck auf. Melanie steht in der Küche und schaut nach draußen, als Hannes fragt: „Ist alles okay?“ „Nichts ist okay.“ Ihre Tränen kullern wie Murmeln ihre Wangen herunter. „Wie kannst du mich so mies behandeln, mich wie ein Kind zurechtweisen, vor anderen Leuten?“ „Was, ich weiß gar nicht, was du meinst.“ „Na gestern im Restaurant, hast du das wirklich nicht mitbekommen?“ Sie schluchzt, die Tränen laufen. Sie wischt sich einige von den Wangen. „Wie kannst du mich so von oben herab behandeln: das lernst du schon auch noch. Wieso musst du mich immer so fertig machen? Weil du kein Selbstbewusstsein aufbauen konntest, muss ich jetzt das Opfer sein?“ „Das habe ich doch gar nicht so gemeint. Ich habe das doch mit einem Lächeln gesagt. Ich wollte dich nicht schlecht behandeln, wirklich.“ „Nicht so gemeint? Was dachtest du denn, wie das bei mir ankommt? Hast du dir überlegt, jetzt sag ich mal „das lernst du schon noch“ und sie findet das bestimmt witzig?“ Melanies Stimme wird lauter und aggressiver. Sie spürt in ihrer Brust wieder das Gefühl, das sie gestern noch erfolgreich unterdrücken konnte. „Ich habe gar nichts gedacht,“ Hannes versucht zu beschwichtigen, „mir fiel das in dem Moment ein, und ich kenne das so, dass man sagen kann, was man denkt. Nicht böse gemeint, ehrlich. Das kommt nicht wieder vor.“ „Kannst du mir also versprechen, dass das nie wieder vorkommt? Das ist ja nicht das erste Mal. Wir hatten schon so oft Streit deshalb. Und inzwischen meide ich öffentliche Situationen mit dir aktiv, aus Angst, dass du mich zurechtweist.“ Stille. Doch dann fährt Melanie fort: „In solchen Situationen versuche ich dann, die Stimmung nicht zu versauen und sage nichts. Aber ich staue das in mir an, das tut mir nicht gut. Warum soll ich mich selbst bestrafen, weil du so ein mieses Arschloch bist?“ „Das finde ich jetzt gemein, ich habe das nicht mit Absicht gemacht und ich bemühe mich wirklich, dass das nicht mehr passiert.“ „Aber wenn das aus Versehen ist, wie willst du das dann kontrollieren? Jetzt plötzlich? Die letzten Male hast du genau dasselbe gesagt. Ich habe auch keine Lust, dieses Gespräch immer und immer wieder zu führen.“ Hannes will sie in den Arm nehmen, doch sie dreht sich weg. „Ich brauche erstmal frische Luft.“ Sie nimmt ihre Jacke und Handtasche und stürmt hinaus.

Was erlaubt sich dieser Arsch, gerade er meint, mir benehmen beibringen zu können? In Melanies Kopf rauschen die Gedanken in einem Mordstempo, als sie durch die Straße läuft. Ihre Schritte werden immer schneller, als versuchten sie, mit den Gedanken mitzuhalten. Sie spürt schon wieder den Druck in den Tränenkanälen, möchte aber nicht draußen weinen. Das Unterdrücken schmerzt. Sie kommt an einem 1-Euro-Laden vorbei und schaut beiläufig in die Auslagen. Eine Tüte Murmeln für einen Euro. Ein großer Berg von dünnen Plastiknetzen liegt dort, jedes gefüllt mit den blaugrün glitzernden Kügelchen. Sie kauft ein Netz und geht nach Hause zu Hannes. Der liegt auf dem Sofa und schaut in sein Handy. „Wie geht’s dir?“ fragt er ohne aufzuschauen. „Es tut mir wirklich leid, ich fühle mich ganz schrecklich.“ „Schön, dass du dich schrecklich fühlst.“ Melanie streckt ihren Rücken gerade und schaut aus dem Fenster. Ihre Tränen sind trocken, ihr Gesicht fühlt sich taub an. „Ich habe inzwischen unser Problem gelöst.“ Sie hält die Tüte Murmeln hoch. „Was meinst du damit?“ Wenn er so verwirrt guckt, ist er kaum von einem Gorilla zu unterscheiden. „Ich trage diese Murmeltüte nun in meiner Handtasche. Und immer, wenn du dich daneben benimmst und mich runtermachst in der Öffentlichkeit, dann gebe ich dir eine Murmel. So bekommst du eine Rückmeldung über dein Verhalten, ich muss nicht wütend werden und es wird nicht peinlich.“ „Das ist doch albern.“ „Ich bin offen für alle besseren Ideen.“ Stille. „Na dann muss das wohl so sein,“ räumt Hannes schließlich ein. Melanie hat Kopfschmerzen vom Tränen unterdrücken. Sie legt sich ins Bett.

Am Wochenende gehen sie in der Innenstadt spazieren. Melanie bleibt an einem Sonnenbrillenständer stehen und schaut sich ein paar Exemplare an, probiert eines aus. „Würdest du vielleicht nicht mitten auf dem Weg stehenbleiben? Hier wollen auch noch andere Leute entlanggehen,“ richtet Hannes mehr an die umstehenden Menschen als an seine Freundin. Melanie kramt in ihrer Tasche. „Bitte“, sie überreicht die erste Murmel und geht weiter, ein paar Meter vor ihm. Er holt sie ein, atmet laut und schnell, „es tut mir leid, das wollte ich nicht.“ „Schon gut, steck die Murmel ein, ich kontrolliere am Ende, ob du alle behalten hast. Wenn nicht, gehe ich nie wieder mit dir essen.“ Hannes steckt sie in die hintere Hosentasche. Als er sich später im Cafe darauf setzt, zuckt er vor Schmerz zusammen, sagt aber nichts.

Am Sonntagnachmittag sind Freunde zum Kaffee zu Besuch. Melanie räumt die Küche auf, saugt das Wohnzimmer, putzt den Tisch ab, backt einen Kuchen, bereitet den Kaffee vor. Sie hat sogar Eis besorgt für die Kinder ihrer Freunde. Hannes sitzt auf der Couch und schaut in sein Handy. Als die Freunde da sind und sich ins Wohnzimmer setzen, geht Melanie in die Küche und füllt die Kaffeebecher. Sie bringt zwei herüber ins Wohnzimmer, beim Abstellen schwappt einer etwas über. „Oh sorry,“ sagt sie zu ihrer Freundin Sandra. Und Hannes meint: „Wie wäre es, wenn du die Tassen beim nächsten Mal nicht so voll machst? Aber das lernst du schon auch noch.“ Wortlos geht sie ins Schlafzimmer, kramt in ihrer Handtasche und überreicht Hannes eine Murmel, der sie – genauso wortlos – in seine vordere Jeanstasche steckt. „Was bedeutet das denn?“ fragt Sandra. „Ach, frag nicht,“ flüstert Melanie ihr mit eingefrorenem Lächeln zu.

Sandra hat den beiden Theaterkarten mitgebracht, Restplätze für Dienstag abend. Ihr selbst war etwas dazwischen gekommen. Also gehen Melanie und Hannes ins Theater. Melanie freute sich, denn sie war lange nicht dort. Pack deine Murmeln ein, erinnert sie sich selbst. Bei dem Gedanken kriecht die Wut wieder ihren Bauch hinauf. Was für ein Arsch. Was tut er mir wohl heute an? Der Sack Murmeln ist griffbereit in ihrer Handtasche. Hannes hat seinen einzigen Anzug angezogen, sitzt im Wohnzimmer und tippt in sein Handy. Melanie trägt das roséfarbene halblange Kleid, das sie für die Taufe von Sandras jüngerer Tochter gekauft hat – das war auch schon wieder zwei Jahre her. Sie hat ihre Haare hochgesteckt und die neuen silbernen Ohrringe angelegt, die sie am Samstag gekauft hatte. „Wir können gehen,“ ruft sie ins Wohnzimmer. Beim Greifen ihrer Tasche hört sie die Murmeln rascheln. Wie die Kugeln aneinander vorbeifließen und sanft aufeinander prallen, ein schönes Geräusch, fast befriedigend. Am Theater angekommen gehen sie direkt zu ihren Plätzen. Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis der egozentrische Arsch mich wieder demütigt, denkt Melanie. Das Licht wird gedimmt, der Vorhang öffnet sich ein Stück. Melanie möchte ihre Handtasche unter ihren Sitz verstauen und stößt dabei mit ihrem Nachbarn zusammen. „Oh entschuldigen Sie, das ist aber auch eng hier,“ kichert sie. Wohl wieder etwas zu laut, denn Hannes sieht sie strafend an: „Sei bitte leise, wir sind hier im Theater.“ Sie greift nochmal nach ihrer Tasche unter dem Sitz, holt eine Murmel raus, überreicht sie Hannes wortlos und stellt ihre Tasche – sehr vorsichtig – zurück. Hannes möchte ansetzen etwas zu sagen, doch er bleibt stimm und steckt die Murmel in seine Hemdtasche, wo sie eine Beule in den dünnen Stoff macht.

Was für ein blödes Arschloch, behandelt mich als wäre ich ein kleines Kind. Als müsste man mich erziehen. Der muss gerade reden. So wie der sich manchmal benimmt, schonmal was von Tischmanieren gehört. Oder davon, mal Platz zu machen, wenn jemand vorbei möchte. Oder davon, seine Partnerin respektvoll zu behandeln. Ihre Gedanken rasen. Sie schaukeln sich spiralförmig auf, wie ein Tornado, dessen Verwirbelung nach oben hin immer größer und schneller wird. Als sie fast oben im Tornado ist, erinnert sie sich, dass sie sich aufs Theater gefreut hat. Sie atmet dreimal tief durch und versucht, sich auf das Schauspiel einzulassen. Nach Ende des Stücks sucht Melanie nach ihrer Handtasche und folgt Hannes in der Menschentraube nach draußen. Auf der Straße stellt sie sich vor ihn. „Das Stück war wirklich interessant, und der kleine Junge im zweiten Akt hat echt nen guten Job gemacht. Wie alt mag der gewesen sein? Höchstens sechs, und dann schon ein Schauspieler…“. Melanie hat während des Stücks schon gemerkt, dass Hannes verstimmt ist, so wollte sie ein lockeres Gespräch beginnen. „Ja, war ganz gut.“ Hannes redet sonst auch nicht viel, ist aber selten so wortkarg. Sie gehen zu Fuß nach Hause, ca. zwei Kilometer. Die Wörter, die Hannes währenddessen sagt, hätten wahrscheinlich auf eine Seite eines Notizbuches gepasst.

Ein paar Tage später sind sie mit einigen von Hannes‘ Arbeitskollegen im Biergarten verabredet. Auf dem Weg dahin ist Hannes gut gelaunt und macht sogar ein paar Witze. Es ist eine nette Runde von vielleicht zehn Leuten, die am Tisch sitzen. Melanie unterhält sich angeregt mit dem neuen Azubi, Hannes schaut viel auf sein Handy. Als er aufs Klo geht, versteckt Melanie sein Handy in ihrer Handtasche, zur Belustigung des Azubis und der anderen Kollegen, die in der Nähe sitzen. „Sein Handy ist sein bester Freund,“ sagt der Azubi schelmisch, „neulich saß er verdächtig lächelnd in der Kaffeeküche und tippte in sein Handy, ich dachte schon, er hat eine Affaire oder schreibt dir schmutzige Nachrichten. Doch dann habe ich in der Fensterspiegelung gesehen, dass er Candy Crush spielt.“ Alle lachen. Hannes kommt zurück, setzt sich: „Na, was habe ich verpasst? Was lustiges?“ „Ach, deine Kollegen haben nur erzählt, wie du bei der Arbeit so bist“. Hannes sieht sich auf dem Tisch um, fasst an seine Hemdtasche, Hosentaschen. „Wo ist mein Handy?“ „Weiß nicht, vielleicht ins Klo gefallen?“ Melanie lächelt, denn genau das war vor einigen Monaten passiert. Hannes war damals sehr wütend, doch sie konnten das Ding zum Glück auf der Heizung trocknen. „Das ist nicht witzig, hilf mir suchen bitte.“ Hannes ist sichtlich aufgebracht. „Ne, keine Sorge, ich habe es in meiner Tasche. Ich dachte, bevor es vom Tisch fällt…“. Melanie tauscht einen grinsenden Blick mit dem Azubi aus, den Hannes bemerkt: „Findest du das witzig oder was? Du weißt genau, dass ich das Handy brauche, das habe ich dir mehrfach erklärt. So langsam reichts mir mit dir.“ Melanies Gesicht wird taub, als hätte sie die Kontrolle über ihre Mimik verloren. Sie braucht ein paar Sekunden, in denen sie in die Luft starrt – sichtlich ratlos, was sie sagen oder tun sollte. Dann steht sie auf, greift nach ihrer Handtasche, holt den Beutel Murmeln raus, dreht ihn um und lässt eine Murmel nach der anderen geräuschvoll auf den Tisch fallen: Plop, plop, plop, plop, plop, plop, plop. Dann lässt sie auch das Netz fallen, schaut Hannes tief in die Augen und sagt: „Wage es bloß nicht, mir zu folgen.“ Das ist das letzte Mal, dass sie Hannes‘ rot angelaufenes, verständnisloses Gesicht sieht.
 



 
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