Mystik des Waldes - 10. Die Meisterkrönung

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10. Die Meisterkrönung​

André schritt auf den Höhleneingang zu. Auch er hatte sein menschliches Dasein völlig über Bord geworfen. Ihn reizte es, eine solch gewaltige Macht erhalten zu haben. Angst kannte er nicht mehr, und jegliches Gefühl war ihm fremd geworden. Als er die Höhle betrat, vernahm er von einem Moment zum anderen die Stimmen in seinem Kopf. Obwohl es ein heilloses Durcheinander Gerede war, verstand er dennoch genau, was sie von ihm wollten. Sie wiesen ihm den Weg. Nebel waberte in diesem Bereich des zeitlosen Ortes. Hier gab es auch wieder die Pflanzen rechts und links des Weges. Sie leiteten ihn und plötzlich schälte sich aus dem Nebel ein steinerner Aufgang, der zu einem ebenfalls steinernen Altar führte. Darauf stand ein bronzener Kelch, in dem der Kopf eines Wolfes eingraviert war.

Er hörte die Stimmen und verstand, was sie wollten.

„Erfülle Toms Vermächtnis! Trinke das Elixier aus diesem Kelch und der erste Teil ist vollbracht.“
„Wieso der erste Teil?“, fragte André.
„Dieses Elixier wird dich unverwundbar für nahezu alles machen, was es auf dieser Welt gibt. In nur wenigen Jahren wirst du diese Kräfte voll entwickeln.“

„Und der zweite Teil?“

„Es befindet sich noch ein Mensch am zeitlosen Ort, mit dem Ziel die Macht des Wolfsbundes zu ersticken! Man wies ihm den Weg zum Rad der Zeit, welches hier irgendwo verborgen ist. Doch der Zugang ist ein anderer. Er wird es zurück drehen, und damit eine magische Entladung freisetzen, die du in dich aufnehmen kannst.“

„Was habe ich davon?“
„Du kannst ebenfalls der Herrscher eines zeitlosen Ortes werden.“
„Was für ein Ort wird das sein?“
„Kannst du dir das nicht denken?“
„Nicht wirklich.“
„Es ist deine Heimat! – Die Erde! Und jetzt trinke aus dem Kelch!“
„Ja, das werde ich!“

André schritt die Stufen zum Altar herauf. Vorsichtig nahm er den Kelch in beide Hände und setzte ihn an seine Lippen. André trank ihn bis auf den Grund leer und stellte das Gefäß wieder auf der Steinplatte ab.

Ein weiterer Schritt der unheiligen Prophezeiung war getan.

*​

Die letzten Worte klangen in meinen Ohren nach! Aber ich wollte es riskieren, trat näher an das Rad heran und streckte meine Hand danach aus. Vorsichtig drehte ich es jetzt entgegen dem Uhrzeigersinn. Trotz seiner Größe ließ es sich leicht bewegen. Nach einer Viertelumdrehung stoppte ich, und hörte in mich hinein. Hatte sich etwas verändert?

Und wieder vernahm ich etwas in meinem Kopf!

„Wenn du mit so wenig Feingefühl arbeitest, landest du noch im alten Rom!“

Wie von selbst blickte ich auf die Datumsanzeige meiner Uhr. 01.01.1950. Weiter zurück ging sie nicht.

„Oh verdammt.“

Das würde eine echte Justage-Arbeit werden. Hoffentlich schaffte ich es überhaupt. Also drehte ich das Rad wieder in die Gegenrichtung. Ein weiterer Blick zur Uhr verriet mir, dass ich jetzt in den späten 60ern gelandet war. Also weitermachen.

Erneut, äußerst vorsichtig veränderte ich die Stellung des Rades um nur wenige Millimeter nach rechts, und ich hatte Erfolg.

Es war Freitag, der 02. Juni 1995 um 08.00 Uhr morgens. Doch die Uhr stand immer noch. Im nächsten Moment erhielt ich hierfür eine weitere Erklärung.

„Gehe jetzt den gleichen Weg zurück und verlasse mein Reich durch das Tor, durch das du hereingekommen bist. Viel Glück bei deiner Mission!“

Ich ärgerte mich in Grund und Boden. Den gleichen Weg musste ich also wieder zurück rennen. Und kein Mensch interessierte sich für meine Socken, die fortwährend vor sich hin qualmten.

Was half es, sich darüber aufzuregen. Sogleich brach ich auf, um meinen Weg zurückzulegen. Der Wald, den ich vor kurzem noch gesehen hatte, war verschwunden. Alles war wieder so spartanisch wie auf meinem Hinweg. Ich zählte die Schritte nicht, aber unter normalen zeitlichen Bedingungen wäre sicherlich ein ganzer Tag vergangen. So jedoch war es immer noch 08.00 Uhr morgens, des 02. Juni 1995 als ich mein Ziel erreichte.

Endlich fand ich das Tor und drückte die Hand auf die Klinke. Die Tür schwang auf. Ein wolkenverhangener Himmel empfing mich, als ich wieder aus dem Baum heraustrat. Ein Blick zur Uhr sagte mir alles. Der Wettlauf mit der Zeit hatte just in dem Moment begonnen, als ich den Waldboden betreten hatte.

Ich blickte mich um. Steffen, Dirk und Jürgen waren jetzt selbstverständlich nicht mehr da. Auch das Auto würde mir nicht zur Verfügung stehen. Da blieb mir nur der Linienbus, der mich hier herausbringen konnte.

Obwohl ich müde war schlug ich mich quer durch den Wald und erreichte nach einem mir endlos erscheinenden weiteren Fußmarsch die Straße. Gott sei Dank gab es in der Nähe eine Haltestelle. Doch ich hätte vielleicht das Zeitlimit zwei Stunden später einstellen sollen, denn der erste Bus fuhr erst kurz nach zehn. Zwei Stunden, die ich damit vergeudete, hier auf dem Hintern festzusitzen und zu warten.

Die Müdigkeit übermannte mich nun vollends und ich nickte ein. Erst das Herannahen eines Fahrzeugs riss mich aus dem Schlaf, den ich eigentlich auch mehr als verdient hatte. Der Omnibus! Endlich!

Ich stieg ein und löste eine Karte bis Viersen. Dann ließ ich mich in die zerschlissenen Polster fallen und schlief erneut ein. Erst als der Fahrer mich antippte wurde ich munter.

„Endstation, Junger Mann!“, bedeutete er mir in einem tiefen Brustton.

Ich war am Süchtelner Busbahnhof angekommen.

„Entschuldigen Sie.“, fragte ich den Mann, „wie komme ich jetzt am besten weiter nach Viersen Stadt?“
„Wissen Sie, da steigen Sie einfach direkt da vorne an dem Bussteig in die Linie 009 oder 019 ein. Die bringen Sie auf direktem Weg dort hin. Aber nicht wieder einschlafen, der Weg ist nicht allzu weit, sonst stehen Sie gleich mit Ihrem Kaplansgemüt in Mönchengladbach.“

Der Fahrer lachte dreckig und wandte sich ab. Höflich wie ich war bedankte ich mich dennoch und verließ das Fahrzeug. Die weiteren Verbindungen nach Viersen waren in Ordnung. Mein erstes Ziel würde der Rathausmarkt sein, denn dort wollte ich mir von Jürgen Tom Clarks Adresse geben lassen. Gott sei Dank kannte ich ihn schon seit 1990. Damals hatte ein Dämon ebenfalls in der Umgebung von Dülken und der Viersener Wälder sein Unwesen getrieben. Jürgen und ich hatten seine Spur aufgenommen und ihn letztendlich in einem harten Kampf besiegt. Ich konnte also auf seine Hilfe zählen.

Die Fahrt war echt nicht lang. Wieder blickte ich auf die Uhr. Genau Elf. Also noch einundzwanzig Stunden. Ich stellte meinen Zeitmesser auf die Countdown Funktion und gab 21:00:00 ein. Dann startete ich den Timer. Von jetzt an konnte ich mit jeder Sekunde die verging erkennen, wie mir meine Zeit unerbittlich unter den Nägeln zerrann.

*​

Freitag, 02. Juni 1995, um 08.00 Uhr Ortszeit​

Tom Clark drehte sich im Bett herum. Heute war der Tag. Was zuerst ein Spaß war, war für ihn zu einem echten Abenteuer geworden. Als er damals durch einen alten Niederländer die Geschichte erfuhr, hatte er es noch als Spinnerei abgetan.

„Das Erdbeben von 1992. Glaub es mir, damit hat alles angefangen! Die Geister der Natur rächen sich fürchterlich an uns allen!“
„Ach Unsinn, Alter!“, hatte Tom entgegnet. „Erzähle deine verfluchten Hirngespinste doch denen, die es hören wollen. Ich bin jedenfalls nicht dran interessiert, merke dir das!“

Aber der Alte gab damals nicht auf und überredete Tom zum Stadtarchiv nach Roermond zu fahren. Dort zeigte man ihm den Lageplan einer recht gut versteckt gelegenen Höhle. Na ja, und dann fing es ihn doch an, zumindest spaßeshalber zu interessieren.

Tatsächlich fand er den Ort, hatte ihn aber bis heute nicht betreten. Irgendetwas hatte ihn gestört. Tom hatte nachgedacht. Ein rötlicher Nebel zirkulierte um den Eingang, deshalb blieb er dort erst einmal fern, da er für diese Erscheinung bis jetzt keine logische Erklärung finden konnte.

Doch wenn er den Ort mied, bekam er das Geheimnis auch nicht heraus. Also hatte er beschlossen, heute endlich der Sache auf den Grund zu gehen. Er wollte zu diesem Zweck Steffen Peters mitnehmen. Ein Freund, der quasi bei ihm um die Ecke wohnte, und er besaß einen Motorroller. Mit ihm wollte er dort hinfahren.

Aber umsehen wollte er sich erst einmal allein, da Steffen auch für sein großes Mundwerk bekannt war. Er wollte sich nicht von ihm beeinflussen lassen, denn wenn er den Ort betrat, sollte es seine ureigene Entscheidung sein und nicht in einer Mutprobe enden, nur um Steffen zu beweisen, wie viel Mumm er doch in den Knochen hatte.

An diesem Tag hatte Steffen frei, da konnte er ihm diesen Gefallen doch tun – so dachte er jedenfalls. Nachdem er seine erste Zigarette des Tages geraucht hatte, wollte er sich reisefertig machen und bei Steffen vorbeischauen, um ihn zu dieser Tour zu überreden. Gegen zwölf Uhr war es dann soweit. Tom öffnete die Haustüre, um die Wohnung zu verlassen, doch dazu kam es nicht. Ein großer blonder Mann versperrte ihm den Weg. Und dieser Mann war ich!

*​

Ich betrat das Polizeirevier.

„Guten Tag, ich muss dringend mit Jürgen Schmitter sprechen.“, sagte ich dem Beamten am Empfang.
„In welcher Angelegenheit?“
„Mein Name ist George Logan. Schmitter und ich sind alte Freunde, mein Besuch aber momentan dienstlich.

Der Beamte griff zum Telefonhörer, sprach ein paar Sätze und legte dann auf.

„Er kommt sofort.“, informierte er mich knapp.
„Danke sehr!“

Wieder vergingen fünf Minuten meiner kostbaren Zeit. Dann erschien er im Türpfosten.

„Hey George, du alter Haudegen! Wie geht es dir?“
„Leider nicht gut, Jürgen. Ich muss auch sofort zur Sache kommen. Organisiere mir so schnell wie möglich die Adresse von einer Familie Clark aus Süchteln. Und beeile dich, davon hängt verdammt viel ab!“
„Ja gut, George, ich bin sofort zurück.“

Ohne eine weitere Frage zu stellen drehte er sich um, um meine Bitte zu erfüllen.

Zwanzig Minuten später kam er mit einer Erfolgsmeldung zurück.

„Los, wir nehmen deinen Wagen, Jürgen. Wir müssen sofort da hin, sonst ist alles verloren!“

*​

Nun stand ich vor Tom Clarks Haustüre. Schmitter war im Auto geblieben. Das hier musste ich allein regeln. Langsam hob ich die Hand um auf den Klingelknopf zu drücken, als die Tür plötzlich aufgezogen wurde. Im Türrahmen stand die Person, von der bald alles Unheil in meiner Zeitebene ausgehen würde. Der Gründer des Geheimbundes. Tom Clark!

„Oops, guten Morgen. Wollen Sie zu mir?“
„Ja, das muss ich. Mein Name ist George Logan und ich bin Privatdetektiv. Darf ich hereinkommen?“
Tom kniff die Augen zusammen. „Um was geht es denn?“

Um meine eben gesagten Worte zu unterstreichen, zeigte ich ihm meine Lizenz.

„Ich muss mich mit Ihnen unterhalten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre, würde ich Sie nicht stören.“
„Nun gut.“, knirschte er hervor. Es schien ihm nicht zu passen, aber er ließ sich darauf ein.
„Aber warten Sie, wir gehen nicht ins Haus, sondern bleiben hier draußen. Wir können auch hier miteinander reden.
„Ja, ist gut, das geht auch.“

Tom ließ die Tür ins Schloss schnappen und wir gingen gemeinsam los.

„Also.“, ergriff Tom das Wort, „was gibt es denn so wichtiges?“
„Ich will gleich zur Sache kommen. Waren Sie jemals im Roermonder Stadtarchiv?“

Überraschung zeichnete sich auf Toms Gesicht ab. Mit einer solchen Einleitung hatte er wohl im Leben nicht gerechnet.

„Wie kommen Sie darauf? Was ist daran so schlimm?“
„Was haben Sie dort herausgefunden, Tom, es ist wirklich wichtig!“
„Also gut, wenn Sie mich so fragen, werde ich Ihnen die Geschichte erzählen.“

*​

Was Tom Clark erlebte:

Samstag, 27. Mai 1995​

Was für ein blöder Tag. Ich ärgerte mich. Meine Freunde waren alle ausgeflogen und ich war nicht dabei. Jetzt saß ich zuhause und langweilte mich. Aber das sollte nicht so bleiben. Eigentlich war es die Ausnahme, dass ich daheim blieb. Mein Halbbruder Rico war momentan im Praktikum und somit für mich nicht erreichbar. Und Steffen Peters ... Na ja, ich hatte bei ihm geklingelt, doch auch er war nicht da.

„Jetzt muss ich mich wohl allein auf mein Mofa schwingen und einfach irgendwo hinfahren.“, dachte ich. Im nächsten Moment setzte ich meinen Gedanken auch schon in die Tat um, holte die Maschine und startete. Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht, Hauptsache fahren. Es vertrieb die Langeweile. Ich durchquerte Dülken und hielt mich Richtung Elmpt. Vielleicht war das ja einmal eine Gelegenheit bis nach Roermond herüberzufahren. Ja, das war die Idee!

Nachdem ich angekommen war pausierte ich an einem Patat-Store und bestellte mir dort ein Mittagessen. Mit einem Mofa hatte ich bis hierher doch eine längere Fahrtzeit, jetzt war erst mal Entspannung angesagt.

Doch mit der Ruhe war es bald vorbei, denn plötzlich wurde ich von hinten angesprochen.

„Endlich habe ich dich gefunden!“, vernahm ich in meinem Rücken eine kratzige Stimme.

Ich sah mich um und blickte in das Gesicht eines alten Mannes. Ich wusste sofort, dass ich diesen Menschen in meinem Leben noch nie zuvor gesehen hatte.

„Was wollen Sie denn von mir?“
„Du bist der, auf den wir warten, der den Stein ins Rollen bringen wird!“
„Hast du einen Lattenschuss oder was, Alter? Ich kenne dich nicht, geh mir nicht auf die Nerven und hau ab!“
„Nein!“, erwiderte er bestimmend „Das werde ich nicht! Du musst die Höhle aufsuchen, am zeitlosen Ort wird dir alles erklärt werden!“
Ich wurde allmählich sauer: „Zeitloser Ort! Du Spinner! Verzisch dich!“

Da kam doch tatsächlich dieser Penner daher und wollte mich hier zutexten! Aber er gab verdammt nicht auf!

„Sieh dich ruhig mal im Stadtarchiv um, ich habe dort schon vor zwanzig Jahren den Lageplan hinterlegt. Du musst den zeitlosen Ort besuchen. Der Zugang ist seit 1992 frei!“

So langsam aber sicher konnte ich über das abnorme und offensichtlich geistig verwirrte Verhalten dieser Person nur noch müde grinsen. Du meine Zeit war der hartnäckig! Da ich sowieso nichts anderes vor hatte konnte ich mir ja mal den Spaß machen.

„Also gut, Alterchen, ich werde es mir mal ansehen.“

Die nächste Reaktion verstand ich noch weniger. Wortlos drehte sich der Mann um und war verschwunden. Auch ich wollte hier nicht bleiben, stand kopfschüttelnd auf und nahm mir vor, mal beim Stadtarchiv vorbeizufahren.

Kurze Zeit später stellte ich mein Fahrzeug vor dem Rathaus ab und betrat das wuchtige Gebäude. Das Stadtarchiv befand sich tatsächlich hier. Ich war also am richtigen Ort und wandte mich in die entsprechende Richtung. Großen Bock hatte ich nicht darauf, das gesamte Archiv nach einer lächerlichen Karte zu durchkämmen, deswegen fragte ich den Archivar nach diesem komischen Lageplan.

„Ja ja!“, erklärte er mir, „da war vor kurzem jemand hier, der hat gesagt, dass jemand kommen und danach fragen würde. Ich zeige es Ihnen.“

Ein wenig wunderte ich mich nun doch. Man hatte hier also mit meinem Besuch gerechnet.
„Hier ist der Plan, in diesem Umschlag. Er ist noch versiegelt. Sagen Sie, ist Ihr Name zufälligerweise Tom Clark?“
„Ja, woher wissen Sie?“

Der Mann hielt mir den Umschlag entgegen.

„Weil er hier drauf steht, junger Mann.“

*​

Mir verschlug es jetzt doch die Sprache!
„Wie lange haben Sie den Umschlag schon?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Der Mann, der mir sagte, dass Sie kommen würden, hat mich zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht.“
Danke, ich muss jetzt los. Vielen Dank.“

Jetzt hatten sie es geschafft. Die Neugier brannte in mir. Ich verließ das Rathaus und trat an mein Mofa heran. Ich setzte mich darauf und brach das Siegel des Kuverts, als ich erneut angesprochen wurde.

„Lass die Finger von der Sache, Junge, die Geister der Natur werden sich schrecklich an uns rechen. In Gottes Namen, lasse diese Sache ruhen!“

Ich brauste auf: „Verdammt noch mal, gibt es denn nur noch Spinner hier? Verpiss dich!“

Ich trat in die Pedale, der Motor kam sofort, ich hatte es so satt, dauernd von diesen Figuren hier belästigt zu werden und drehte am Gaszug. Das Mofa fuhr an. Aber ich musste zugeben, dass mich die Sache zu interessieren begann. Nach Haten Boer, zu dem Campingplatz, fiel mir ein. Da konnte ich bestimmt mal in Ruhe den Inhalt des Umschlages studieren.

*​

Erzählungen aus der Sicht George Logans:​

Freitag, 02. Juni 1995, 12.40 Uhr​

„Was geschah dann?“
„Ich fand die Höhle in der Nähe des Platzes, wo ich hingefahren war. Dank der Karte brauchte ich nicht lange zu suchen, aber wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre mir ein solcher Ort bestimmt niemals aufgefallen.“
„Haben Sie sich dort hineingewagt?“
„Nein, da war dieser merkwürdige, rote Nebel vor dem Eingang, da habe ich es dann lieber sein lassen, da ich für dieses Phänomen keine Erklärung finden konnte.“
„Dann lassen Sie es auch sein, deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.“
„Oh Teufel noch mal, noch einer!“
„Ich sage Ihnen nochmals: Unterlassen Sie es. Gehen Sie nie wieder dort hin, sonst werden Ihnen und Ihren Freunden schlimme Dinge widerfahren.“

Tom sah mich spöttisch an und meinte: „Ja ich weiß, die Naturgeister sitzen im Nebel um sich gegen die Menschheit zu verschwören. Jetzt hören Sie auf! Ich will mir den Ort doch nur mal ansehen. Da ist doch nichts Schlimmes dabei.“
„Leider doch!“
„Wieso, Mann?“
„Weil ich euer Grauen bereits gesehen habe.“
„Wie? Gesehen?“ Tom verstand es nicht.
„Tom, ich bin nicht aus dieser Zeit.“
„Wie?“

Tom musste lachen, doch danach war mir nicht zumute.

„Du sollst mir zuhören! Ich komme aus dem Jahr 1997 um zu verhindern, dass du den Wolfsbund gründest und deine Freunde allesamt ins Verderben stürzt.“
„Du blöder Sack!“, fuhr mich Tom in einer proletenhaften Form an. „Jetzt reicht es mir! Halt jetzt ...“

Barsch unterbrach ich ihn!

„Halt jetzt den Rand! Die Reihenfolge ist Tom Clark, Rico Terstappen, Svenja, Kerstin, Dirk und ein Typ namens Thomas hat auch noch eine Rolle zu spielen. Klingelt da was bei dir? Sie alle werden Opfer, aber es sind noch nicht die letzten. Sprechen wir mal weiter von Johannes und Steffen Peters! Und eines sage ich dir, wenn du Steffen Peters das antust, dann werde ich dich in der Luft zerreißen, das glaube mir, ich habe das Grauen gesehen, das von diesem Ort aus über die Menschen dieses Ortes kam und du hast es mitgebracht! Du allein trägst die Verantwortung für ihr Leiden!“

Jetzt war der Junge doch erstaunt.
„Das gibt es doch nicht, woher kennen Sie diese Leute verdammt!“
„Du kannst jeden anrufen, sie werden mich nicht kennen, da wir uns wegen dir, mein Lieber, erst in der Zukunft begegnet sind um das Grauen zu bekämpfen. Doch für viele wird es nach meiner Ankunft in Deutschland schon zu spät sein. Sie gehören dann dem Wolfsbund, und auf sie würde der Tod warten, die einzige Erlösung die Werwölfen den Frieden gibt.“

Tom schüttelte immer noch ungläubig den Kopf.

„Angenommen ich würde Ihnen diese Geschichte glauben. Könnten wir dann nicht zusammen an diesen Ort fahren?“
„Nein, du solltest unbedingt dort fern bleiben, denn auch für dich geht es nicht gut aus.“
„Was ist mit mir geschehen?“
„Ich werde es dir mal so erklären. In der Zukunft hat mich einst ein Werwolf angegriffen, der Tom Clark hieß. Er starb in den Straßen von Oberhausen, da ich ihn ausschalten musste.“
„Sie binden mir einen Bären auf!“
„Was ist mit den permanenten Warnungen, von dem Alten vor dem Archiv, jetzt von mir. Denke mal darüber nach!“
„Ich weiß nicht. Seemannsgarn oder so. Die Holländer leben ja an der Nordsee, atmen wohl zuviel Luft davon ein, oder sie rauchen zu viel Gras. Das vernebelt ihre Sinne und dann entstehen die Geschichten.“

Tom versuchte zu grinsen, was ihm aber nicht mehr so recht gelingen sollte.


„Und was ist mit mir? Ich bin Engländer, kein Holländer!“
„Ich glaube Ihre Geschichte nicht! Jetzt lassen Sie mich in Ruhe, ich habe noch zu tun!“

Es war zum verzweifeln, ihn zu bekehren würde noch ein hartes Stück Arbeit werden.

*​

„Also gut, fahren wir zusammen.“, lenkte ich ein.
„Unter einer Bedingung.“, entgegnete Tom.
„Welche?“
„Ich will Steffen Peters, einen Freund von mir mitnehmen.“
„Begeistert bin ich davon nicht.“
„Er kommt mit, oder ich fahre mit ihm allein dorthin.“

Ich gab nach. Wieder einmal musste ich Steffen da mit reinziehen.
„Gut, gehen wir hin.“
„Ich rede mit ihm alleine, Sie warten!“

Tom war nervös. Ihm war die ganze Sache unheimlich geworden. Er wollte sich bei Steffen über George Logan erkundigen.

„Also gut!“

Tom spielte nach seinen eigenen Regeln. Wenn ich nicht mitmachte, war ich aus dem Rennen, für Zwangsmaßnahmen hatte ich keine Zeit, ich brauchte seine Kooperation. Deshalb ließ ich ihn gewähren, nickte und ging zum Wagen zurück. In dieser Zeit würde ich Schmitter erzählen, was in meiner Zukunft hier geschehen würde, wenn ich Tom nicht davon abbrachte, seinen Plan weiter zu verfolgen.

Tom näherte sich dem Haus der Familie Peters. Steffen öffnete ihm selbst und ließ ihn herein.

„Grüß dich Tom.“
„Hallo Steffen. Hast du heute irgendetwas vor?“
„Nicht wirklich!“
„Hättest du Bock, nach Roermond zu fahren? Brauchst keinen Roller. Ich habe eine Fahrgelegenheit.“
„Wer ist es denn?“
„Den hab ich vor einiger Zeit mal kennen gelernt. Sagt dir der Name George Logan etwas?“
„Nein Tom. Sagt mir überhaupt nichts.“
„Wirklich nicht?“
„Nein. Nie gehört. Tom, was ist los?“
„Also gut, Steffen. Ich brauche deine Hilfe, und bitte lehne jetzt nicht ab.“
„Komm erst mal rein, dann reden wir.“

Steffen ging mit ihm die Stufen zum Keller herunter.

„Bist du mal wieder in Schwierigkeiten?“, begann Steffen das Gespräch.

Tom erzählte ihm die ganze Geschichte. Er ließ nichts aus.
„Und das soll ich glauben?“, entgegnete Steffen mit spöttischem Blick.
„Steffen – Nimm es als ein Abenteuer und komm doch mit. Dieser Logan ist Privatdetektiv. Er hat noch jemanden dabei, der den Wagen fuhr.“
„Also ich habe Zeit, erwarte aber nicht, dass ich dir alles glaube.“
„Gut, dann lass uns losziehen.“

Die beiden verließen das Haus um sich ins Abenteuer zu stürzen.

*​

Währenddessen hatte ich Schmitter über die Gründe meines Besuches aufgeklärt. Er hatte selbst schon das Grauen am eigenen Leib erfahren, deshalb zweifelte er meine Worte auch nicht an.
„Das Rad der Zeit. Ich habe immer gedacht, es wäre nur eine Redewendung.“
„Nein Jürgen. Es existiert an einem zeitlosen Ort, der Welt eines Waldschrates.“
„Den Waldgeistern?“
„Ja, sie sind die Hüter der Zeit.“
„Und du hast einen von ihnen gesehen?“
„Das habe ich. Und sie gaben mir die Chance die Zukunft zu ändern, um zu verhindern, dass ein Zeitalter der Wölfe das der Menschen ablöst.“
„Das ist ja schrecklich, George.“
„Ich werde es verhindern.“

In diesem Moment erschienen Tom und Steffen.

„Okay. Die Reise kann losgehen.“
„Steigt ein.“

Wir fuhren los. Ich konnte diese Kinderei nicht verstehen, aber was sollte ich daran ändern. Manchmal mussten sich Menschen erst in Gefahr begeben, bevor sie vernünftig wurden.

Wir mussten auf sie Acht geben, brachten sie hin und waren gleichzeitig Begleitschutz.

Plötzlich fragte Steffen:
„Sie sind George Logan?“
„Ja, das bin ich.“
„Und ist es wahr, was Tom mir erzählt hat?“
„Ja, leider.“
„Warum fahren wir denn dann dorthin? Wenn dieser Ort so gefährlich ist, wäre es doch besser, sich davon fernzuhalten.“
„Typisch Peetz. Mach dir doch in die Hose!“

„Jetzt reicht es!“ Zum ersten Mal mischte sich Schmitter ein. Er fuhr rechts ran, holte seine Dienstmarke hervor und hielt sie Tom unter die Nase:
„Glauben Sie wirklich, ich wäre dabei, wenn ich meinen Freund für einen Spinner halten würde? Ich sage euch, jedes Wort ist wahr! Und ihr begebt euch in große Gefahr! Also sei gefälligst vorsichtig mit deinen Aussagen!“

Tom überlegte ... Ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
„Was soll ich denn tun?“, fragte er schließlich.
„Mein Vorschlag wäre, die Karte zu vernichten, damit sie nicht in falsche Hände gerät.“

Ganz plötzlich trat bei ihm die Wandlung ein, auf die ich so sehr gehofft hatte.

„Dann ist es jetzt vorbei. Ich will dafür was geschehen wird nicht verantwortlich sein.“

Tom zerriss das Papier in kleinste Fetzen und warf die Schnipsel aus dem Fenster.

Er hatte den Plan aufgegeben und hoffentlich der Welt damit einen Gefallen getan!

Jetzt war ich es, der den Ort noch besuchen wollte. Ich hatte den Verdacht, dass es sich bei dem Lageplan um ein schwarzmagisches Artefakt handelte!

Wir erreichten den Ort. Doch die Höhle war nicht mehr vorhanden.

„George! Sie hatten Recht. Die Höhle ist verschwunden!“

Da wusste auch ich, dass wir es geschafft hatten. Nur Steffen hatte dafür nur ein müdes Grinsen übrig.

„Habe ich es mir doch gedacht, wir fahren dorthin, und was ist? – Nichts!“
Wir ließen ihn in dem Glauben und auch Tom sagte dazu nichts mehr.

Ich fand, dass es für ihn das Beste war, dass ihm das, was ich über ihn wusste, ihm nun doch erspart bleiben würde.

Wir hatten die beiden nach Süchteln zurück gebracht. Steffen schüttelte den Kopf und verließ das Fahrzeug. Er hielt es für lächerlich, für mich war es okay.

Tom blieb noch sitzen.
„Ich glaube Ihnen jetzt und danke für alles. Ist es auch wirklich vorbei?“
„Ich hoffe es, aber ich denke schon.“

*​

Ich verabschiedete mich, hatte noch jede Menge Zeit übrig. Ich ließ mich von Jürgen nach Bracht bringen, um den Waldschrat erneut aufzusuchen. Und tatsächlich fand ich die Stelle so vor, wie ich sie verlassen hatte. Durch das Tor im Baum betrat ich die Welt des Waldgeistes und ging den langen Weg zur Burg zurück. Diesmal jedoch in der Hoffnung, etwas Großes vollbracht zu haben.

*​

André hatte es vollbracht, er hatte den Kelch geleert. Er spürte förmlich, wie ihn nie gekannte Kräfte durchströmten. Urplötzlich gab es eine Überblende, die Höhle verschwand und André stand im Freien. Er blickte sich um, suchte nach dem Eingang. Doch dieser war verschwunden. Er war wieder in seiner Zeit. Doch er spürte, dass diese Gegenwart eine andere war. Die Zeitkorrektur hatte stattgefunden, und seine Verbündeten gab es nicht mehr. Aber er selbst hatte es geschafft, den unheimlichen Keim der Vergangenheit mit in diese Welt zu bringen. Doch er würde noch warten, bis seine Kräfte voll entwickelt waren, und sein Leben bis dahin weiterführen wie bisher. Er musste hier weg, in seine Wohnung.

André konnte nicht hier bleiben, und setzte eine unheimliche magische Kraft zum vorläufig letzten Mal für einen Zeitsprung ein. André löste sich auf und erreichte sein Ziel.

Er war zum Herrscher über Raum und Zeit geworden, aber diese Kraft sollte ab heute sechs Jahre lang ruhen, bis sie voll zum Einsatz kommen würde.

*​

Es war eine echte Feinarbeit, das Rad der Zeit in die richtige Position zu bringen. Aber nach einigen Versuchen schaffte ich es. Ich wollte hier nur weg. Meine Mission war erfüllt. Nun wollte ich meine Arbeit kontrollieren und sehen, was aus der Welt geworden war. Ich wandelte auf dem Pfad bereit, diese Dimension für immer zu verlassen.

Da war das Tor. Ich öffnete es und schritt hindurch in meine Zeit zurück. Und kaum hatte ich den Waldboden betreten, da war der Eingang auch schon verschwunden und ich blickte wieder auf eine völlig normale Eiche.
Ich hatte hier nichts mehr zu suchen und wandte mich zum gehen ab, als plötzlich die Stimme des Waldschrates erklang:
„Du hast deine Sache gut gemacht und die Menschen gerettet. Dennoch wurden von mir Fehler im Zeitmuster festgestellt, die noch behoben werden müssen. Es wird auch dich und diesen Ort betreffen, den du so mutig gegen die Angriffe der Hölle verteidigt hast.“

„Das bedeutet also, dass ich es geschafft habe?“
„Ja und nein.“
„Wie meinst du das?“
„Etwas blieb zurück. Man hat dich in eine Falle gelockt. Du wirst von ihnen hören!“
„Kannst du mir nichts Näheres sagen?“
„Dafür ist die Zeit noch nicht gekommen, aber die entscheidende Schlacht steht noch aus. Wir haben ab jetzt einen Feind, der im Verborgenen lauert und darauf wartet, seine Chance zu ergreifen, die Herrschaft der Welt anzustreben.“

„Wer hat mir eine Falle gestellt?“
„Das musst du selbst herausfinden. Es ist jemand, dem du vertraust, doch noch ist es nicht soweit. Du musst dich gedulden und die Zeit abwarten. Der Tag wird kommen, wo wir wieder von einander hören werden.“

Die Stimme verhallte, Das Gesicht im Baum verschwand. Ich verließ den Wald und betrat die Straße. Da durfte ich wohl wieder den Omnibus nehmen.

Da erklang eine Autohupe, gleichzeitig blitzten die Scheinwerfer eines Wagens kurz auf.
Jürgen Schmitter!

Ich rannte über die Straße.
„Mensch! Wo kommst du denn her!“, rief ich und riss die Wagentür auf.
„Ich wollte dich nur abholen!“
„Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„Ganz einfach. Du hast es mir 1995 erzählt, dass du hier zu finden wärest. Und da dachte ich mir, du könntest vielleicht einen Fahrer gebrauchen.“

Schmitter hatte Recht. Ich hatte es ihm aus meiner Sicht noch vor kurzem erzählt, und er hatte es sich gemerkt.

„Und? Warst du erfolgreich?“
„Es war ein Teilsieg. Die Gefahr ist fürs erste gebannt, doch ich wurde gewarnt, nichts eindeutiges, aber bitte halte hier die Augen offen.“
„Das werde ich, George, das werde ich.“

*​

André hatte es nicht vergessen! Toms Vermächtnis lebte in ihm weiter. Doch er würde die Zeit abwarten, bis seine Kräfte voll entwickelt waren und seine Stunde anbrechen würde.

Er hatte Freunde, Freunde, die nicht wussten, was in ihm vorging, die ihn zu dem gemacht hatten, was er jetzt war.

Doch davon ahnten sie nichts mehr. Sie waren von ihrem Werwolfdasein erlöst worden. Doch er würde sie zurückholen und mit ihnen sein Schreckensreich errichten.

Das Jahr 2003. – So lange musste er noch warten, dann würde es geschehen. So lange würde er sich als Mensch tarnen und sich auch nicht anders verhalten. Sie brauchten sein Vertrauen, aber irgendwann ...

Die Saat war gelegt, und sie würde aufgehen, da war er sich sicher!

*​

Wir fuhren zu Dirk und Kerstin. Ich musste es wissen, ob ich es geschafft hatte. Wir fuhren in der entsprechenden Straße vor, zur Adresse der beiden.

Ich war etwas nervös als ich klingelte, aber ich wollte Gewissheit haben. Der Summton ertönte, und ich drückte die Haustür auf.

Dirk stand am Treppenaufgang.

„Sie wünschen?“, fragte er.

Da erschien auch Kerstin.

„Maus, wer ist das?“, fragte sie ihn.

„Ich weiß es nicht. Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?“

Ich sah, wie die beiden sich ansahen. Da wusste ich Bescheid. Wir hatten gesiegt.


„Entschuldigen Sie. Ich habe mich wohl in der Tür geirrt.“
„Das macht nichts.“
„Auf Wiedersehen.“

Ich verließ wieder das Haus. Noch einen Tag blieb ich in Viersen als Jürgen Schmitters Gast. Ich trat den Heimweg nach London mit einem guten Gefühl an, ohne zu wissen, dass sich bereits neue schwarze Wolken über unseren Köpfen bildeten.

*​

E N D E​
 



 
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