DJMusicLine
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2. Die Nachtwanderung
Ein Monat später
Svenja kam von der Schule nach Hause und warf ihre Tasche in die Ecke. Was war das heute wieder ein Scheißtag. Die Schule ging ihr auf den Nerv, und sie dachte schon an ihr Praktikum, was nach ihrer Schulzeit anstehen würde. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg, erst einmal mussten noch einige Noten auf Vordermann gebracht werden, und da hieß es natürlich pauken, was das Zeug hielt.
Anschließend musste sie noch ihr Zimmer aufräumen, denn heute Abend würde Rico, ihr Freund noch vorbeischauen.
Svenja hatte sich dazu überreden lassen mit ihm eine Nachtwanderung zu unternehmen. Ihnen würden sich später noch einige Leute anschließen, wie sie wusste. Rico versprach ihr, dass es eine Überraschung geben würde. Man wollte sich auf einer Waldlichtung im Gebiet des Hohen Buschs treffen, alles klang sehr geheimnisvoll.
Svenjas Eltern waren zwar nicht gerade begeistert, aber sie hatte auch ihren eigenen Kopf. Es würde bestimmt lustig werden.
Sie setzte sich an den Tisch und erledigte erst mal den Schulkram. Sie wusste auch nicht mehr, wie sie sich ihre Zeit einteilen sollte. Man wollte ja schließlich auch noch ein wenig Freizeit haben, die konnte man sich ja nur noch nachts nehmen. Es dauerte nicht allzu lange, denn heute hatte sie nicht so viel aufgebrummt bekommen. So konnte sie sich direkt im Anschluss an ihr Zimmer machen. Das Chaos, was da oben herrschte, war sie mittlerweile selbst leid. Also wurde das als nächstes in Angriff genommen.
Es vergingen die Stunden, und das Zimmer sah zusehends besser aus. Um 18:00 Uhr wollte Rico kommen, worauf sie sich schon freute. Sie schaltete die Stereo-Anlage an, legte eine CD ein und ließ sich erst mal, auf dem Bett liegend von der Musik berieseln. Einfach mal nichts tun, das musste auch mal wieder sein. Es lag ja auch genug Arbeit hinter ihr. Es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen. Das machte nichts aus, denn die Nacht würde eh noch lang genug werden. Morgen war Samstag, da konnte sie so lange schlafen wie sie wollte.
Erst als es klingelte, fuhr sie aus dem Bett hoch und rieb sich verschlafen die Augen. Dann stand sie auf und ging zur Tür. Es war bereits 18:00 Uhr. Das konnte nur Rico sein, der da draußen stand. Sie ging die Treppe hinab und öffnete.
„Hi, du siehst müde aus.“
„Ich hab auch geschlafen. Erst mal hab ich den Mist für die Schule erledigt und dann noch ein wenig aufgeräumt. Jetzt kann man mein Zimmer wieder betreten. Das ging einfach nicht mehr. Danach habe ich mich hingelegt, damit ich nicht noch nen Schnarchanfall bekomme.“
„War ja nicht falsch, ich denke, dass wir noch einen Moment nach oben gehen sollten. Wir können ja dann so gegen halb Acht losziehen. Die anderen freuen sich auch schon alle auf dich.“
„Wie meinst du das denn jetzt?“
„War nur Spaß.“, meinte Ricardo abwinkend.
Sie gingen nach oben. Svenjas Eltern hatten ein eigenes Haus. Man hatte ihr zwei Zimmer im Dachgeschoss überlassen, wo sie sich auch gut ausbreiten konnte. Ihr Bruder Dirk hatte dort oben früher mit seiner Freundin zusammengelebt, aber die Unabhängigkeit rief, und so zogen sie aus, um sich ihr eigenes Leben aufzubauen.
Svenja und Rico warfen sich beide aufs Bett und machten es sich erst einmal eine zeitlang bequem. Es war schließlich noch zu früh um loszuziehen. Sie unterhielten sich noch kurz über allgemeine Schulangelegenheiten, doch das Thema war natürlich nicht gerade interessant.
In den nächsten beiden Stunden liefen noch mehrere diverse CDs durch, bis es dann soweit war loszugehen. Sie wollten über den nahe gelegenen Stadtgarten zum Hohen Busch gelangen und sich schließlich auf den Süchtelner Höhen auf einer Lichtung treffen. Sie gingen in Richtung Stadtgarten, eine viel befahrene Straße hinab, die auf direktem Wege dorthin führte.
„Wer kommt denn nun alles zu dem Treffen?“, fragte Svenja, die natürlich neugierig geworden war.
„Warte es doch einfach ab, du wirst es noch früh genug erfahren. Sei doch nicht so ungeduldig.“, erwiderte Rico mit einem süffisanten Lächeln.
Svenja sah ihrem Freund in die Augen und bemerkte so etwas wie ein triumphierendes Aufblitzen in seinen Pupillen.
„Warte es einfach ab, heute gibt es noch richtig Action, die du nicht so schnell vergisst.“
Rico hatte einen seltsamen Unterton in der Stimme, den sie vorher bei ihm noch nicht gehört hatte. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich nicht wohl fühlte. Überhaupt hatte er sich in letzter Zeit verändert, aber sie konnte es sich auch nicht genau erklären.
Sie erreichten den Stadtgarten und tauchten in das mittlerweile düster gewordene Gebiet ein. Es war ein relativ großer Park im Stadtteil Dülken (wenn man bedenkt, dass es in diesem Nest zumindest noch kleinere gab.) von dem man den Hohen Busch schnell zu Fuß erreichen konnte. Umso länger sie dort mit ihrem Freund entlang ging, desto unwohler fühlte sie sich. Sie war sich mittlerweile unsicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, ja, eigentlich bereute sie es jetzt, sich auf diese Nachtwanderung eingelassen zu haben, aber das würde sie jetzt auf keinen Fall zugeben, sie hatte „A“ gesagt und musste nun auch “B“ sagen, also hielt sie sich mit Äußerungen zurück und ging widerwillig weiter mit immer tiefer in den Wald hinein. Hinter einem Sportplatz lichtete sich das Waldgebiet und wenig später, nachdem sie unter einer Brücke durchgingen, erreichten sie eine Straße die sie überqueren mussten.
Als sie das Stadion des 1. FC Viersen, einem kleinen Amateurfussball-Verein erreichten, war es bereits dunkel, bald würde auch der Mond aufgehen. Von dort aus ging es dann nur noch durch den düsteren Wald, zu den Süchtelner Höhen, wo das geheimnisvolle Treffen stattfinden sollte.
Svenja und Ricardo erreichten die „Todesbahn“, ein steiler Pfad, auf dem sich im Winter die Rodler vergnügten, aber nicht umsonst hatte der Pfad diesen Namen erhalten. Hier hatte es leider schon oft Unfälle gegeben. In der Nähe gab es auch eine kleine, runde und türlose Holzhütte, wo man sich bei schlechtem Wetter unterstellen, oder sich einfach nur hinsetzen und ausruhen konnte. Auch die beiden gönnten sich jetzt eine Pause und setzten sich dort hin.
„Svenja, hast du Durst? Ich habe etwas zu trinken dabei. Wenn du willst gebe ich dir was ab.“
„Gern.“
Rico gab ihr die Flasche, die etwas seltsam aussah.
„Wo hast du die denn her?“, fragte sie.
„So etwas kann man in Holland kaufen. Da ist auch schon was drin, schmeckt echt stark, probier einfach mal und sag mir, ob’s dir schmeckt.“
Svenja setzte die Flasche an und trank einen kräftigen Schluck. Sie verzog das Gesicht.
„Was ist das denn für ein Zeug? Das schmeckt ja widerlich!“
„Da gewöhnst du dich dran, ganz bestimmt.“
„Ich weiß nicht, das schmeckt wie Blut!“
„Ach Unsinn, das ist kein Blut gewesen. Das redest du dir nur ein, weil die Flasche rot aussieht. Und übrigens, Blut schmeckt anders.“
Rico setzte die Flasche an, trank sie mit einem Zug leer und wischte sich den rötlichen Saft von den Lippen. Tatsächlich sah es so aus, als hätte sich Rico gerade eine Flasche Blut in seinen Körper geschüttet. Svenja lief bei diesem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Sie merkte, wie etwas in ihren Adern brannte. Es verstärkte sich!
Svenja sah Rico verständnislos an. Die Welt begann sich plötzlich vor ihren Augen zu drehen. Schwer fiel sie zu Boden. Ricardo hob sie auf, grinste und sagte:
„Willkommen in unserem Kreis!“
Dann verließ er die Hütte und setzte seinen Weg ohne sie fort. Er ließ sie einfach dort liegen, wo sie hingefallen war.
Die Höhle in Roermond hatte ein weiteres Opfer erhalten.
*
Eine Woche später
Wütend warf Dirk die beiden Briefe auf den Tisch. Beim ersten handelte es sich um eine Nebenkostennachzahlung von mehreren hundert DM L zum zweiten um eine weitere Absage auf seine Bewerbungen.
„Der Scheiß kotzt mich langsam an. Alles wird teurer, nur das verdammte Einkommen bleibt im Keller.
„Bleib cool.“, meinte Kerstin. „Es hat keinen Sinn sich darüber aufzuregen, es ist nun mal so, und irgendwann werden wir es schon schaffen.“
„Ja klar, wenn nachher nichts mehr übrig ist und wir die Miete nicht mehr bezahlen können, dann wird es logischerweise immer weiter gehen.“
„Noch haben wir Geld, sieh dir mal andere Leute an, die haben Schulden, die wir nun nicht haben. Unsere Konten sind noch nicht einmal überzogen. So schlecht geht es uns nicht.“
„Ich will aber nicht mehr länger jede Mark umdrehen und dreimal überlegen, ob ich sie ausgebe oder nicht.“
„Lass es gut sein, es bringt uns nicht weiter, wir probieren einfach weiter, Arbeit zu bekommen, und irgendwann wird es auch funktionieren, da bin ich mir ganz sicher.“
Die Situation war schwierig geworden, was sollte man daran ändern, man konnte es nur immer wieder probieren, und er wusste, dass seine Freundin Recht hatte.
„Für heute höre ich auf. Ich kann den Kram nicht mehr sehen. Ich sollte einfach mal eine Pause machen, damit man sich wieder sammeln kann.“
„Das meine ich auch.“
Dirk nahm die Fernsehzeitung und begann zu blättern. Es kam jedoch nichts Besonderes im Programm.
„Also vergessen wir es einfach, das Programm ist auch zum schnarchen!“
Plötzlich durchschnitt das Leuten des Telefons die Stille. Dirk griff zum Hörer und meldete sich.
„Hier ist André, wie geht’s euch?“
„Hallo André, wie steht’s bei dir?“
„Bei mir ist alles okay. Ich wollte euch fragen, ob ihr nicht in den nächsten Tagen bei mir vorbei schauen wollt. Dann könnten wir ja zusammen was unternehmen.“
„Ist mal wieder eine Idee.“
„Und, was macht die Arbeitssuche?“
„Wie immer, hier liegt eine Absage auf dem Tisch und eine Nachzahlung ist auch schon wieder fällig. Ist echt super, man traut sich gar nicht mehr zum Briefkasten, der könnte beißen.“
„Ja, es ist immer das gleiche, aber was will man machen?“
„Ich weiß es auch nicht mehr, aber dein Vorschlag ist okay. Macht es dir was aus, wenn wir uns dann den Fahrpreis teilen? Im Moment sieht es nicht so sehr gut aus.“
„Darüber können wir noch reden, jetzt kommt erst mal, sagen wir, vielleicht Dienstag vorbei und dann sehen wir weiter.“
„Okay, machen wir. Wir kommen dann ein wenig früher, damit es sich auch lohnt, sonst ist wieder alles dicht, bevor wir da sind.“
„Okay.“
„André, die Telekom ist ein teurer Verein, ich denke, wir beenden das Gespräch und bereden alles Weitere nächsten Dienstag.“
„Okay, und tschüß dann.“
„Und tschüß.“
Dirk hatte André während eines Lehrgangs kennen gelernt. André war älter als er, aber das machte nichts aus. Sie verstanden sich gut und waren auch beide immer gut drauf und ein wenig abgefahren, wie das eben so sein musste, denn ohne Spaß war das Leben langweilig. Dirk hatte André während des Lehrgangs einige Computertricks gezeigt und auch seinen privaten Rechner ins Rollen gebracht, der nicht gerade besonders gut konfiguriert war.
In diesem Bereich konnte ihm dort kaum jemand etwas vormachen. Wenn irgendwo im Gebäude ein Computer seinen Geist aufgab, kümmerte er sich darum und in den meisten Fällen konnte er auch erfolgreich helfen, ohne dass alles neu installiert werden musste.
Wer André Stein, so hieß er mit vollem Namen, nicht kannte, der konnte allein durch seine Erscheinung schon Respekt bekommen, aber wenn man dahinter blickte, erkannte man einen Menschen, der in Wirklichkeit kein Schläger war, sondern eine Menge Spaß verstand. Man musste ihn nur richtig kennen lernen.
„Habe ich das richtig verstanden? Wir fahren nächsten Dienstag zum André?“
„Ja, so ist es. Man muss mal wieder raus. Vor allem muss ich mal was anderes sehen. Mir fällt hier langsam die Decke auf den Kopf.“
„Stimmt schon, dann müssen wir aber früh losfahren, sonst lohnt es sich nicht.“, meinte Kerstin.
„Ist schon richtig, das machen wir auch.“
Wieder klingelte das Telefon. Diesmal griff Kerstin zum Hörer.
„Hallo, mein Schwesterchen ...“
Das konnte nur Svenja sein. Kerstin bezeichnete sie immer als Schwesterchen, obwohl er ihr Bruder war.
„Kerstin, ich muss mit dir was besprechen, kannst du zu mir kommen?“
„Ich weiß nicht, jetzt sofort?“
„Ja, bitte es ist dringend!“
„Okay, wir sind gleich da!“
„Nein, komm alleine, das kann ich nur mit dir bereden! Lass Dirk zu Hause!“
„Aber ich...“
„Kerstin, Bitte!“
„Okay, ich bin gleich bei dir, bis nachher!“
Kerstin hatte schon begriffen, dass sie am Telefon nichts erfahren würde.
„Hör mal, ich muss zu Svenja, sie hat mich aber gebeten, allein zu kommen. Ich weiß selbst nicht, was los ist.“
„Ist schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Fahr einfach mal hin und stelle fest, was sie hat.“
„Okay, werde ich tun.“
Kerstin griff zu ihrem Mantel, gab Dirk noch einen Abschiedskuss und verließ dann die Wohnung um Svenja zu besuchen.
Das hätte sie nicht tun sollen!
*