DJMusicLine
Mitglied
3. Die Falle
Steffen Peters kam von der Arbeit nach Hause. Für heute reichte es ihm. In der Bäckerei ging es mal wieder besonders hektisch zu. Da freute er sich auf das Wochenende. Er zog seine Schuhe aus, fütterte den Mini-Disc-Player und warf sich aufs Bett. Er wollte sich ausruhen und dann noch ein wenig durch die Gegend fahren. Es war auch besser wenn er nicht zu Hause war, wenn seine Eltern wiederkamen. Die konnten einem schon auf den Geist fallen.
Steffen beschloss Dirk anzurufen, dort war es ruhiger als zu Hause, man konnte sich entspannen, ohne dauernd genervt zu werden.
Er griff zum Telefon und betätigte die Taste, wo Dirks Nummer gespeichert war. Steffen hatte Glück und erreichte ihn sofort.
„Hallo, hier ist Steffen Peters.“
„Hi Peetz Wie geht’s?“
„Gut, hast du gleich Zeit?“
„Ja, du kannst ruhig vorbei kommen. Kerstin ist bei Svenja und hier ist sowieso nichts los.“
„Gut, in Ordnung!“
„See you ...“
Steffen wollte keine Zeit verschwenden. Er hatte ein Problem, das er mit Dirk bereden wollte. Es betraf Tom und Rico. Steffen hatte schon bemerkt, dass irgendetwas mit den beiden nicht stimmte. Er wusste nur nicht, was es war. Die beiden ließen sich auch nur noch selten bei ihm blicken. Eigentlich nur noch dann, wenn er sie irgendwo hinfahren sollte. Steffen fühlte sich langsam ausgenutzt. Meist wollten die beiden nach Roermond, und er diente nur als Chauffeur. Waren sie dann dort, war er es meistens, der im Zelt saß und sich langweilte. Sie nahmen ihn nie mit auf Tour. Er sollte sie immer nur durch die Gegend kutschieren. Die erste Zeit ging Steffen zum Fluss, aber das war allein auch langweilig. Es gab mit der Zeit keine Saufabende mehr, man unternahm nichts gemeinsam und das nervte ihn. Er verstand nicht, warum die beiden sich so verändert hatten. Deswegen wollte er sich auch mit Dirk treffen, vielleicht konnte er ihm etwas dazu sagen, obwohl er nicht so recht daran glauben wollte.
Steffen stand auf, zog seine Jacke an, schnappte sich den Sturzhelm und verließ das Haus. Er schwang sich auf seinen Roller und fuhr nach Dülken. Fünfzehn Minuten später erreichte er sein Ziel. Er klingelte bei Dirk.
Er öffnete die Tür und ließ Steffen herein. Er kam gleich zur Sache:
„Dirk, ich habe ein Problem, und ich hoffe, dass du mir dabei helfen kannst, es zu lösen.“
„Um was geht es denn?“
„Es dreht sich um Tom und Rico. Du weißt doch, dass wir öfter in Holland waren, in Roermond. Die beiden sind jetzt nur noch alleine auf Tour. Ich soll Rico und Tom immer nur fahren, aber die beiden sind immer unterwegs und nehmen mich nie mit! Ich sitze nur noch im Zelt rum oder gehe gelangweilt zum Fluss. Ich bringe die beiden dorthin, bin aber selbst immer der Outsider.“
„Aber wieso?“, fragte Dirk.
„Ich weiß es nicht. Wir sitzen auch abends nicht mehr zusammen und trinken uns einen. Meist sind die beiden die ganze Nacht unterwegs, und dann fahren wir morgens sofort wieder zurück.“
„Irgendwas stimmt da nicht. Das klingt ja fast so, als hätten sie bestimmte Gründe, immer wieder dorthin zu fahren.“
„Denkst du an Haschisch?“, fragte Steffen.
„Kann ich mir nicht vorstellen, nicht bei Tom und Rico, es muss dennoch einen Grund geben, warum sie sich so abseilen.“
„Den könnten wir beide doch herausfinden.“
„Wie stellst du dir das vor?“
„Ich sag dir Bescheid, wann es wieder soweit ist, und du könntest doch dann mit dem Rad nach Roermond kommen. Dann werden wir beide mal nachforschen, was das ganze soll.“
„Ich soll fünfundzwanzig Kilometer mit meinem Fahrrad nach Roermond fahren?“, entrüstete sich Dirk.
Steffen seufzte.
„Wenn es nicht wichtig wäre, würde ich mich nicht mit dir darüber unterhalten.“
„Okay, wenn es sein muss, sag mir Bescheid, wann es losgeht, ich bin einverstanden.“
Dirk und Steffen unterhielten sich noch über die neuesten Videospiele und auch über Musik, die er gelegentlich mit seinem Computer produzierte. Schließlich musste Steffen aufbrechen und meinte:
„Ich werde dann mal wieder fahren, werde dich aber über weitere Aktionen auf dem Laufenden halten. Wir müssen rausbekommen, was da in Roermond abgeht.“
„Okay, machen wir.“
Steffen ging zu seinem Roller, verabschiedete sich und fuhr los. Er ahnte nicht, dass er beobachtet worden war, und auch die letzten Worte, die die beiden gesprochen hatten wurden von der dunkel gekleideten Gestalt deutlich vernommen.
Der Beobachter löste sich aus dem Schatten eines Baumes und sprach leise zu sich selbst mit einem grimmigen Unterton in der Stimme:
„Wartet nur ihr beiden! Wir werden euch gehörig in die Suppe spucken! Das schwöre ich euch!“
Kerstin holte den Schlüssel aus der Tasche und betrat wieder die Wohnung.
*
Zwischenzeitlich:
Kerstin ging in den Keller und holte ihr Fahrrad. Sie machte sich Sorgen um Svenja. Der Anruf gab ihr zu denken. So sehr, dass sie sich entschloss, sofort loszufahren. In knapp fünfzehn Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Svenja wartete im Garten auf sie.
„Hallo, Svenja.“
„Hi, Kerstin, lass uns nicht hier bleiben, Lass uns irgendwo hinfahren, wo uns niemand stört.“
„Wo willst du denn hin?“
„Wir könnten zum Hohen Busch raus fahren. Ich nehme mein Fahrrad mit, da könnten wir uns dann darüber unterhalten.“
„Soll ich nicht doch lieber mit Dirk darüber reden?“
„Auf keinen Fall! Ich will nicht, dass Dirk was davon erfährt. Vielleicht später, aber jetzt noch nicht!“
„Okay. Wie du meinst!“, sagte Kerstin.
Die beiden fuhren los. Sie nahmen den gleichen Weg, den Svenja vor einer Woche des Nachts mit Rico zu Fuß zurückgelegt hatte, durch den Stadtgarten am Stadion vorbei zur „Todesbahn“. Sie stoppten dort und gönnten sich eine kleine Pause.
Kerstin war neugierig:
„Also, Svenja, was ist denn nun eigentlich passiert?“
„Ich bin letzten Freitag in der Nacht mit Rico hier gewesen. Wir haben eine Nachtwanderung unternommen und wollten uns auf einer Lichtung noch mit anderen treffen. Wir haben hier pausiert und Rico hat mir aus einer Flasche einen seltsamen Trunk angeboten, den man nur in den Niederlanden erwerben kann.“
„Und wo liegt das Problem?“
„Ich habe mich seit dem verändert und suche nach Gleichgesinnten. Alle Leute, die mittlerweile so sind wie ich, suchen nach einem neuen Meister, der uns anleitet und dem wir gehorchen. Du kennst den Mann und sollst ihn in unseren Kreis hineinführen. Wir haben die Fähigkeit, die Menschen zu verändern und in unseren Bund aufzunehmen. Ich bitte dich hiermit unsere Kontaktperson zu sein, die uns an unseren Meister heranführt.“
Kerstin war im Moment etwas überfordert.
„Wie, was, wovon redest du eigentlich?“
„Machst du nun mit oder nicht?“
„Ich weiß nicht, aber ...“
„Also gut!“, meinte Svenja, „Wenn du nicht für uns bist, dann bist du gegen uns, und wir haben sehr überzeugende Argumente, dass du es dir sehr schnell überlegen wirst.“
Bevor Kerstin etwas erwidern konnte, hörte sie hinter der Holzhütte plötzlich Schritte aufklingen. Ricardo und Tom erschienen im Eingang.
Kerstin kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Ihr beiden? Was ist hier los?“ Kerstin war sichtlich überrascht.
Tom übernahm das Wort:
„Wir wollen den Meister krönen, und du wirst uns dabei helfen!“
„Das werde ich nicht!“
Svenja sprang auf.
„Haltet sie fest! Mir reicht es jetzt!“
Tom und Svenja packten zu und warfen Kerstin zu Boden. Im gleichen Moment holte Rico aus seiner Tasche eine kleine Flasche hervor.
„Trink davon, zum letzten Mal!“
Als Kerstin um Hilfe rufen wollte, schlug Rico Terstappen zu. Benommen blieb sie liegen. Tom hielt ihr die Nase zu, damit sie die Flüssigkeit schlucken musste. Svenja öffnete ihr den Mund und Rico flößte ihr das teuflische Zeug ein.
Instinktiv wusste Kerstin, dass auch sie verloren hatte und ein teuflisches Spiel bereits mitten im Gange war.
Als sie nach etwa dreißig Minuten wieder zu sich kam, war sie allein. Sie fand eine Nachricht, die jemand hinterlassen hatte.
Auf dem Zettel stand:
KOMM NOCH HEUTE NACHT ZUR LICHTUNG: WIR TREFFEN UNS
IMMER IN DER NÄHE DER KLEINEN KAPELLE
AUF DEN SÜCHTELNER HÖHEN!
UND BRING MEINEN BRUDER MIT! DU WEISST WIE ICH
DAS MEINE!
SVENJA
IMMER IN DER NÄHE DER KLEINEN KAPELLE
AUF DEN SÜCHTELNER HÖHEN!
UND BRING MEINEN BRUDER MIT! DU WEISST WIE ICH
DAS MEINE!
SVENJA
„Ja!“, sagte Kerstin mit fest entschlossener Stimme, „ich werde euch nicht enttäuschen!“
Dann nahm sie ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg nach Hause. Kerstin spürte eine ungeheure Kraft, die sie durchströmte. Sie trat in die Pedale und fuhr zurück nach Dülken. Als sie vor dem Haus angekommen war, sah sie Steffens Roller vor der Türe stehen. Schnell brachte sie ihr Rad in den Keller und versteckte sich dann hinter einen Baum.
So bekam sie die letzten Worte mit, die Dirk mit Steffen wechselte, bevor er abfuhr. Die Haustür wurde geöffnet und Steffen trat heraus. Nach einigen abschließenden Worten setzte er sich auf seinen Roller und fuhr los. Dann schloss Dirk die Tür.
Kerstin hatte die Szene kalt lächelnd beobachtet. Sie wusste bereits, was die beiden vorhatten, ohne dass Dirk etwas ahnte. Sie trat aus ihrer Deckung hervor und sagte mit grimmiger Stimme zu sich selbst:
„Wartet nur ihr beiden! Wir werden euch gehörig in die Suppe spucken! Das schwöre ich euch!“
*
Steffen fuhr die Straße entlang Richtung Süchteln, wo er wohnte. Er machte sich seine Gedanken. Tom und Rico hatten sich verändert, daran gab es nichts zu rütteln, und er war froh, dass Dirk sich auf seinen Plan eingelassen hatte. In den letzten Monaten war ihm diese Erkenntnis immer stärker bewusst geworden. Man unternahm nichts mehr, und ständig wollten die beiden nach Roermond. Waren sie dann angekommen, hatten sie sich auch schon aus dem Staub gemacht und gingen ihre eigenen Wege. Das nervte ihn. Er war der Outsider, sollte nur noch Chauffeur spielen, doch das musste hiermit ein Ende haben. Steffen hatte jedenfalls keine Vorstellung davon, was ihn erwarten würde. Die andere Seite war stark und duldete keine Neugier. Die Falle war vorbereitet, und er sollte keine Chance haben, ihr zu entkommen. Dafür hatten andere schon gesorgt, denn er war beobachtet worden, wie er das Haus verließ, und die Gefahr sollte von einer Seite kommen, von der er es am wenigsten erwartete.
Steffen erreichte eine Kreuzung, und bog nach links ab. Er hatte nicht den direkten Weg nach Hause genommen, sondern war über Viersen gefahren. Manchmal brauchte er das. Einfach nur mal mit seinem Roller durch die Gegend kurven. Vor allem lenkte es ihn ein wenig von seinem eigentlichen Problem ab. Da konnte er im Moment sowieso nichts ausrichten.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis er zu Hause war. Wenige Minuten später bog er in die Straße ein, wo er wohnte. Er stellte seine Maschine vor der Haustür ab, und kramte den Wohnungsschlüssel hervor, als er die Schritte hinter seinem Rücken hörte. Steffen drehte sich um:
„Hi Peetz!“, wurde er angesprochen.
„Hallo Ricardo, was gibt es neues?“
„Nichts Besonderes. Bald ist’s wieder soweit.“
„Was?“
„Zeit für eine kleine Tour über die Grenze.“
„Aber wieso ...?“
Rico unterbrach ihn in einem barschen Tonfall:
„Ich will nicht, dass du Fragen stellst, verstanden? Bring uns dorthin, mehr brauchst du nicht zu wissen!“
„Und was macht ihr, wenn ich das nicht mehr tun werde?“, fragte Steffen lauernd.
„Das wäre nicht gut, überhaupt nicht!“
„Für wen?“
Da grinste Ricardo nur, drehte Steffen den Rücken zu, und sagte im Weggehen:
„Bringe uns hin, sonst geschieht ein Unglück!“
In Steffen fuhr die Wut hoch:
„Soll das eine Drohung sein?“
„Nein, nur ein gut gemeinter Rat.“
Rico schritt seines Weges. Steffen sah ihm hinterher, bis ihn die Dunkelheit verschlang. Dann schob er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Mit einem Klicken öffnete sich die Tür und ein sehr nachdenklich gewordener Steffen Peters betrat die Wohnung...
*
Kerstin hatte im Schutz des Baumes gewartet, bis Steffen abgefahren war. Es war besser, sich in dieser Situation nicht zu erkennen zu geben. Schließlich wusste sie genau, worum es ging, die letzten Worte hatte sie gut gehört. Seit dem Ereignis mit Svenja und den anderen hatte sich ihr Leben um 180 ° gedreht. Sie hatte sich vorgenommen, Steffens und Dirks Plan sauber zu durchkreuzen. Niemand sollte ihnen in die Quere kommen, aber es gab noch einen Punkt. Ihr Freund musste ebenfalls zu ihnen stoßen. Damit hatten sie dann auch Steffen unter Kontrolle. Wenn der Dummheiten machte, würde es ihm an den Kragen gehen, er hatte seine Aufgabe und stand unter ständiger Beobachtung. Er konnte keinen einzigen Schritt gehen, ohne ausspioniert zu werden, doch das ahnte er nicht im Entferntesten. Das Netz war perfekt gesponnen. Jetzt war es ihr Auftrag, dafür zu sorgen, dass Dirk keine Gefahr mehr darstellte. Auch er musste zu dem werden, was sie jetzt war.
Kerstin schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Mit einem leisen Geräusch fuhr es zurück und die Tür ließ sich öffnen. Sie trat in den Hausflur und schloss kurze Zeit später die Wohnungstüre auf. Sie betrat den Raum und steuerte das Wohnzimmer an. Dirk saß am Computer, und arbeitete an einem neuen Musiktitel.
„Hi, da bist du ja wieder.“
„Ja, war Steffen hier?“
„Steffen rief mich eben an, und da du noch unterwegs warst, habe ich gesagt, er könne vorbei kommen. Und was gab es neues bei meiner Schwester?“
„Nichts was dich was angeht!“, sagte sie kalt.
Dirk war es nicht gewohnt, dass Kerstin so mit ihm sprach. Bisher hatte es nie irgendwelche Geheimnisse gegeben. Warum also auf einmal diese Reaktion?
„Was meinst du damit?“, fragte er.
„Du hast das nicht zu wissen, Svenja wollte nicht ohne Grund alleine mit mir reden!“
„Sag mal, was ...“
Dirk kam nicht dazu seinen Satz auszusprechen, Kerstin fuhr ihm voll in die Parade:
„Halt jetzt den Mund, und Steffen will ich hier auch nicht mehr sehen! Haben wir uns verstanden?“
„Ich hab dich laut und deutlich gehört, und ich rate dir, dass du mal rausgehen solltest und erst dann wieder kommst, wenn du zur Besinnung gekommen bist.“
„Ich ...“
„Nein, geh dich abkühlen, ich habe keinen Bock drauf, hier mit dir herumzustreiten! Geh jetzt, bitte!“
„Wie du willst.“
Sie lächelte ihn an und drehte sich um, nahm ihre Jacke und verließ die gemeinsame Wohnung. Sie hatte sich in den wenigen Stunden komplett gewandelt, war bereit, alles dafür zu tun, um dem dunklen Machtkreis zu helfen.
Die Tür schlug hinter ihr zu, und sie stand im Freien.
„Warte nur, Bursche! Komm du nach draußen, dann bist du geliefert!“
Mit diesen Worten entfernte sie sich vom Haus und ging langsam die Straße hinab.
*
Dirk war sauer!
So wollte er nicht mit sich reden lassen, und das hatte er auch nicht nötig! Dennoch machte er sich Gedanken über die Art und Weise, wie ihr Gespräch verlaufen war. Das war nicht Kerstins Art. Da musste etwas vorgefallen sein, das seine Freundin vollkommen aus dem Tritt gebracht hatte. Jedoch konnte er sich absolut nicht vorstellen, was es gewesen sein konnte.
Dirk trat an seinen PC heran, speicherte seine Arbeit, dann fuhr er den Rechner herunter und schaltete ihn aus. Er zerbrach sich den Kopf. Was war passiert? Er hatte Kerstin doch nichts getan. Da musste schon etwas Gravierendes vorgefallen sein. Und warum hatte sie auf einmal was gegen Steffen? Sie wollte ihn hier nicht mehr sehen. Das war schon äußerst eigenartig, hing das alles mit Svenja zusammen?
Dirk versuchte sich ein Bild von der Situation zu machen, aber wie er es auch drehte, er kam zu keinem Ergebnis. Das musste er aus Kerstin herausholen. Doch mit ihr wollte er im Moment nicht reden, es hatte keinen Sinn, wenn sie so aufgekratzt war. Dirk hatte sich dazu entschlossen, ihr Zeit zu geben. Sie würde schon wieder kommen.
Dirk schaltete den Fernseher ein. Das Programm war mies, aber immer noch besser, als die Stille des Hauses ertragen zu müssen. Er machte es sich auf dem Sofa bequem und ließ sich berieseln. Es dauerte nicht lange, da fielen ihm die Augen zu. Dirk war eingeschlafen.
Irgendwann erwachte er. Suchend sah er sich um, nein, Kerstin war noch nicht zurückgekommen. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass sie bereits seit drei Stunden weg war. Es ging auf drei Uhr morgens zu.
Jetzt wurde es ihm doch zu bunt. Außerdem machte er sich Sorgen, wenn Kerstin zu nächtlicher Stunde so lange fort blieb. Er entschloss sich, sie zu suchen. Das durfte doch nicht wahr sein! Erst dieser grundlose Ärger und jetzt das! So ging es nicht weiter. Dirk steckte den Schlüssel ein und trat nach draußen. Mit einem klatschenden Geräusch fiel die Tür ins Schloss. Er hatte die Falle betreten, steckte schon mittendrin, aber das ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht...
*
Als sich Kerstin weit genug vom Haus entfernt hatte, holte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine bestimmte Nummer. Eine dunkle Stimme meldete sich mit einem kurzen „Ja!“
„Hier Kerstin. Ich habe es geschafft, bin wieder draußen!“
„Hat Svenja...?“
„Ja, Tom, das hat sie. Ich wollte ...“
„Lass es gut sein, ich rufe dich gleich zurück, Moment.“
Tom hatte die Verbindung unterbrochen, und Kerstin war nun zum Abwarten verdammt. Sie war erst seit wenigen Stunden dabei, und sie war entschlossen bei der großen Aktion mitzuwirken. Was früher einmal war, interessierte sie nicht mehr. Sie würden wie ein Taifun über das Land kommen und die Menschheit unterdrücken. Nur das war ihr Interesse. Doch einige wurden gebraucht, diese wurden konvertiert und in ihrem Kreis aufgenommen. Genauso, wie es ihr passiert war. Auch sie sollte mit helfen, den großen Plan in die Tat umzusetzen, und sie war bereit, dafür alles herzugeben. Das Handy meldete sich wieder.
„Ja.“
„Ich bin’s, Tom. Pass auf: Du setzt dich an die Haltestelle Buscher Weg, ich schicke dir Thomas vorbei, er sagt dir, wie wir weiter verfahren werden.“
„Gut, tu das. Ich will endlich zuschlagen!“
„Nicht auf eigene Faust. Er darf nicht entkommen, bevor er konvertiert ist!“
„Meinst du, ich werde mit dem Typen nicht allein fertig?“
„Ich will nur sicher gehen. Keine Alleingänge, verstanden?“
„Gut, ich werde mich daran halten.“, entgegnete sie.
„Okay, dann geh jetzt und setze dich dort hin.“
„Alles klar, ich warte.“
Kerstin drückte auf die Handytaste und unterbrach die Verbindung. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Die Haltestelle lag an einer Hauptverkehrsstraße, die um diese Uhrzeit jedoch nicht mehr so stark befahren war. Sie setzte sich dorthin und wartete. Die Minuten vergingen. Da bog der letzte Bus um die Ecke und hielt direkt bei ihr an. Der Busfahrer öffnete die Türe:
„Was ist jetzt, steigst du ein oder nicht?“, fragte er in einem ziemlich unfreundlichen Ton.
„Zisch ja ab, sonst setzt’s was!“, entgegnete sie kalt.
„Was willst du?!“
Der Fahrer erhob sich und wollte den Bus verlassen.
„Bleib sitzen, oder du bereust es!“
„Nein, dir bringe ich Manieren bei!“ Der Fahrer stand auf und verließ den Bus, aber auch Kerstin reagierte.
Sie packte zu! Sie griff voll in seine Seite und drückte sie mit einer unmenschlichen Kraft zusammen! Der Fahrer schrie auf!
„ZISCH JA AB, bevor mir noch ganz andere Ideen kommen!“
Sie schleuderte den Mann von sich, der hart mit seiner Schulter auf die Stufen zur Eingangstür des Busses knallte.
„Mach dass du weg kommst, sonst geht es dir dreckig! Los! Hau ab!“
Der Fahrer war vorsichtig geworden. Sie strahlte eine dermaßene Entschlossenheit aus, dass er es tatsächlich vorzog, die Tür wieder zu schließen und weiterzufahren. Er wusste, dass er gegen sie nicht ankommen würde. Der Bus entfernte sich, und Kerstin wartete, etwas ungeduldig geworden, auf die Ankunft von Thomas. Sie hatte Dirk gegenüber ziemlich deutlich gezeigt, dass so einiges nicht stimmte. Sie wollte nicht, dass er so schnell hinter ein Geheimnis kam, das sich wie ein düsterer Schatten über der Stadt ausgebreitet hatte. Es war unsichtbar, im dunklen verborgen, aber dennoch vorhanden. Und es sollte vorerst noch unsichtbar bleiben. Sie hoffte jedenfalls nicht, dass er Verdacht geschöpft hatte. Alles war gut durchorganisiert, sie sollte die Verbindung zu einem Menschen herstellen, an dem sie so sehr interessiert waren. Er sollte den Geheimbund später anführen. Doch noch war es nicht soweit, erst einmal mussten sie eine Verbindung zu ihm herstellen. Dabei war er ihnen sogar noch entgegengekommen, denn er hatte sie und ihren Freund zu sich eingeladen. Am Dienstag sollte es geschehen. Es würde ihre große Stunde sein, und niemand sollte sie aufhalten!
Plötzlich sah sie in der Ferne ein Scheinwerferpaar aufleuchten. Kerstin hoffte, dass es Thomas war, sie hatte keine Lust mehr, noch länger hier herumzusitzen. Sie war ungeduldig geworden. Der Wagen näherte sich und reduzierte sein Tempo. Dann steuerte er auf die Haltebucht zu, und hielt dort an.
Thomas öffnete von innen die Beifahrertür.
„Grüß dich, steig ein.“, sagte er.
„Ja, mach ich.“
„Hast du Dirk schon draußen gesehen?“
„Bis jetzt noch nicht. Aber er wird irgendwann anfangen, nach mir zu suchen. Dafür kenne ich ihn gut genug.“
„Dann haben wir ihn!“
„Ich würde den Typen am liebsten quer über die Felder hetzen!“
„Bremse dich Kerstin. Das ist dein Jagdinstinkt, der langsam erwacht. Aber die Zeit ist noch nicht gekommen.“
„Ja, ich weiß.“, erwiderte sie knurrig.
„Bleibe ruhig, bringe die Aktion nicht in Gefahr!“
„Es fällt mir schwer, abzuwarten.“
„Aber wieso? Bedenke, Zeit spielt für uns keine Rolle.“
„Na gut, warten wir auf den Burschen!“
„Dafür dass er dein Freund ist ...“
„Na und? Er ist ein Mensch, und Menschen ...“
„Bald nicht mehr, das versichere ich dir! Wann findet das Treffen statt?“
„Jetzt am Dienstag!“
„Optimal, du hattest schon Kontakt?“
„Er rief vor kurzem bei uns an.“
„Das ist schnell, hätte ich nicht gedacht.“
„Je früher, desto besser.“
„Dann müssen wir unsere Vorbereitungen zu Ende bringen.“
Thomas fuhr die Straße wo sie wohnten hinauf.
„Wo können wir uns hier verstecken? Ich will nicht, dass man uns zusammen sieht.“
„Stell den Wagen in der Seitenstraße dort ab. Da ist es sicher.“, sagte Kerstin.
„Bleibe du gleich hier. Ich fange ihn ab, wenn er raus kommt.“
„Du kennst ihn?“
„Ich habe mich informiert.“
„Gut, wie du meinst.“
Thomas verließ den grauen Passat, der in der Dunkelheit durch seine Farbe gut getarnt war, ging ein kleines Stück die Straße hinab, und setzte sich auf eine dort befindliche Bank, wo er auch das Haus gut im Blick hatte. Dort wollte er Dirk auflauern und dann hinterrücks zuschlagen. Geduldig wartete er ab, um ihn abzufangen.
*
Dirk schüttelte den Kopf. Er bekam es nicht in sein Hirn. Kerstin hatte wegen einer Nichtigkeit einen massiven Streit angefangen. Das war nicht ihre Art. Seit dem sie bei Svenja war, hatte sie sich stark verändert. Das war ihm direkt aufgefallen. Irgendetwas stimmte da nicht. Was hatten die beiden beredet? Das musste er aus ihr herausbekommen. Aber erst einmal musste er sie finden, um sie zur Rede zu stellen.
Dirk sah sich um. Keine Spur von seiner Freundin. Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt war sie abgehauen. Ob sie wieder zu seiner Schwester gegangen war? Das konnte er um diese Uhrzeit nicht mehr herausfinden. Er war einfach zu lange weggetreten, um jetzt noch irgendjemand anzurufen.
Da fiel es ihm ein. Kerstin hatte bestimmt ihr Handy mitgenommen. Er beschloss wieder in die Wohnung zu gehen, und seine Freundin anzurufen. Dirk drehte sich wieder zur Tür und kramte den Schlüssel aus seiner Jackentasche hervor, um die Tür aufzuschließen, als er hinter sich die Schritte hörte.
Dirk wollte sich umdrehen, doch dazu kam er nicht mehr. Der Schlag traf ihn mitten in der Bewegung, quer über dem linken Ohr. Der Schmerz explodierte in seinem Kopf, Sterne blitzten vor seinen Augen auf. Dirk war zu keiner Reaktion fähig. Der nächste Schlag krachte in sein Gesicht. Aus – vorbei, was war ... Er konnte nicht mehr denken und knallte mit dem Kopf vor seiner Wohnung auf den Gehsteig.
*
In der Zwischenzeit
Thomas wartete geduldig die Zeit ab. Es spielte sowieso keine Rolle, wie lange er hier ausharren musste. Irgendwann würde Dirk seine Wohnung verlassen, und wenn er auch nur einen Fuß auf die Straße setzte, war er geliefert. Er würde ihn nicht entkommen lassen. Das schwor er sich.
Thomas blickte auf seine Uhr. Zwei Uhr fünfunddreißig. Hoffentlich war er nicht eingeschlafen, dann hockte er noch lange hier.
Aber er setzte auf das, was Kerstin gesagt hatte. Er würde kommen. Da war sie sich sicher gewesen. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er ihn einfach aus dem Verkehr gezogen, aber dann hätte er die anderen gegen sich gehabt, und das wollte er nun auch nicht riskieren. Aber auch er hatte das Warten allmählich satt. Die Aktionen hatten sich, seit dem Tod der großen Führerin stark reduziert. Viele waren getötet worden, ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen, und jeder war jetzt wieder auf sich allein gestellt. Es war aber einfach nicht das richtige. Es lag in ihrer Natur, gemeinsam zu kämpfen, und dies sollte auch wieder so kommen. Es konnte nicht ewig so armselig weiter gehen. Aber im Grunde genommen, dachte er genau so, wie Kerstin. Er hätte ihn am liebsten mit ihr zusammen quer durch die Gegend gescheucht. Doch vorrangig war erst einmal, dass Leute für die Aktion rekrutiert wurden. Dirk sollte ebenfalls in den Kreis aufgenommen werden, und er durfte keine Chance bekommen, sich dagegen zu wehren. Die Minuten verstrichen. Es dauerte eine ganze Weile.
Plötzlich war es soweit. Er hörte eine Tür ins Schloss fallen. Vorsichtig sah er um die Ecke.
„Endlich!“, dachte er. Dirk hatte das Haus verlassen. Aus sicherer Deckung beobachtete Thomas das Geschehen. Er wollte einen günstigen Zeitpunkt abwarten um zuzuschlagen.
Er beobachtete Dirk aufmerksam und wartete auf seine Chance. Thomas sah ihn, offensichtlich etwas unentschlossen, vor dem Haus stehen. Suchend blickte er sich um.
Schließlich drehte er sich und wandte sein Gesicht wieder der Haustür zu. Anscheinend wollte er wieder hinein gehen. Das durfte er nicht zulassen! Thomas griff unter seine Jacke und holte einen Gummiknüppel hervor. Dann setzte er sich in Bewegung.
Dirk wollte tatsächlich wieder ins Haus. Mit eiligen Schritten kam Thomas auf den Mann zu! Dann holte er aus und ließ den Totschläger herabsausen. Er hatte gut gezielt, und der Schlag traf ihn über dem linken Ohr. Dennoch war er noch nicht ausgeschaltet. Lässig ging Thomas um ihn herum und holte zu einem zweiten Schlag aus. Der knochenharte Prügel knallte in sein Gesicht. Dann brach der Mann in die Knie und kippte mit verdrehten Augen der Erde entgegen.
*
Steffen konnte nicht einschlafen. Immer wieder dachte er über die letzten Monate nach. Es ging ihm nicht aus dem Kopf. Alle hatten sich verändert. Sie waren so seltsam geworden. Eine kalte Aura ging von seinen Freunden aus. Waren es überhaupt noch seine Freunde? Er war sich nicht sicher. Andauernd drohte man ihm, setzte ihn unter Druck. Doch so wie vor ein paar Stunden, war es bisher noch nie gewesen.
Es sollte also ein Unglück geschehen. Steffen konnte es nicht fassen. Sie waren mal Freunde gewesen. Was war diese Freundschaft jetzt noch wert? – So gut wie nichts mehr. Vor einigen Stunden hatte er sich zwar mit Dirk getroffen, aber er hoffte auch inständigst, dass die „andere Seite“ keinen Wind davon bekommen hatte. Das brauchten sie nicht unbedingt zu wissen. Die Auseinandersetzung mit Rico war ein weiterer Beweis dafür, dass es gut so war, dass sie nichts wussten.
Steffen war müde. Er wälzte sich im Bett hin und her. Er konnte einfach nicht einschlafen. Zu sehr war er damit beschäftigt, die Ereignisse zu verarbeiten. Er dachte über das nach, was Rico ihm gesagt hatte.
„... ein Unglück ...“
Was meinte er damit? Wollten sie ihn jetzt auch noch zusammenschlagen, wenn er nicht das tat, was sie wollten? Das ging einfach zu weit. Er hatte ja damals schon viel mit sich machen lassen, aber so etwas …
Das hatte er nicht nötig, und er würde es sich auch nicht gefallen lassen!
Steffen musste zur Ruhe kommen. Er war schließlich Bäcker, und da brauchte er seinen Schlaf. Er beschloss, sich eine Mini Disc einzulegen. Vielleicht konnte er mit Musik besser einschlafen. Steffen setzte die Idee sofort in die Tat um. Die ersten Takte ertönten aus den Boxen seiner Anlage. Dann legte er sich ins Bett und versuchte an nichts zu denken. Er schaffte es und schlief ein. Er ahnte nicht, dass in der sicheren Deckung eines Gebüsches zwei gelbe tückisch leuchtende Augen das Haus beobachteten. Die Dämonen lagen bereits auf der Lauer!
*
Thomas warf sich den Bewusstlosen über die Schulter und trug ihn zu seinem Wagen. Kerstin war ausgestiegen.
„Ah, du hast ihn.“
„Ein Kinderspiel.“
„Er lebt hoffentlich noch, du weißt, Svenja will ihn lebend!“
„Weiß ich, ich bin doch nicht blöde!“
„Er soll konvertiert werden. Aber wenn es nach mir ginge ...“
„Es geht aber nicht nach uns, also führen wir unseren Auftrag aus und bringen ihn zum Treffpunkt.“
Kerstin war nicht so recht einverstanden.
„Als wenn es jetzt auf einen mehr oder weniger ankommt.“
„Lege dich lieber nicht mit ihnen an. Ich lade ihn jetzt erst mal ab.“
„Dann schmeiß ihn in den Kofferraum! Wenn ich ihn nicht für mich haben kann, dann will ich ihn jetzt auch nicht um mich herum haben!“
„Meinetwegen. Aber dann reiß dich jetzt auch mal zusammen. Ich weiß, das passt dir nicht.“
„Tut es auch nicht.“
„Wir müssen uns an die Regeln halten.“
„Und wer stellt die auf?“
„Hör auf jetzt!“
Thomas öffnete den Kofferraum und warf den Mann hinein. Dann schloss er die Klappe, stieg ein und fuhr los in Richtung Süchtelner Höhen. Es verging eine Weile bevor Kerstin fragte:
„Was geschieht jetzt mit ihm? Wird er wirklich aufgenommen?“
„Ja, bald seid ihr wieder vereint.“
„Interessiert mich im Moment herzlich wenig.“
„Kerstin, höre zu. Versuche dich bitte unter Kontrolle zu halten. Wenn er zu uns gehört, denkst du anders darüber.“
„So lange er so ist, wie er jetzt ist, will ich das nicht akzeptieren!“
„Warte ab, in ein paar Stunden gibt es nichts Menschliches mehr in ihm.“
„Na gut. Du gibst ja doch keine Ruhe!“
Sie fuhren von Dülken nach Süchteln. Thomas bog in einen Seitenweg ein.
„Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen.“
„Irgendwie spüre ich hier etwas. Ich will da nicht lang gehen, aber wieso das weiß ich nicht.“
„Das liegt daran, dass hier in der Nähe so eine verdammte Kapelle ist!“
„Die hoffentlich nicht mehr lange hier steht! Ich hasse diesen Ort!“
Ein gefährliches Knurren drang aus ihrer Kehle. In die Stimme hatte sich ein dunkler Unterton gemischt.
„Bleib auf dem Teppich, beruhige dich wieder!, fuhr Thomas sie an. „Daran musst du dich gewöhnen. Ich hole den Kerl jetzt erst mal raus.“
Thomas hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als es von innen gegen die Kofferraumklappe hämmerte:
„Verdammt, lasst mich hier raus! Sind denn hier alle verrückt geworden?!“
Kerstin grinste.
„Lass mich das machen. Lass mir den Spaß.“
„Natürlich...“
Kerstin stieg aus und wandte sich zum hinteren Teil des Fahrzeugs, um die Kofferraumklappe zu öffnen …
*
Dirk kam wieder zu sich. Als er seine Augen aufschlug, stellte er fest, dass es um ihn herum dunkel war. Eine schattenlose Schwärze umgab ihn. Er richtete sich vorsichtig auf. Da er nicht wusste, wo er sich befand, führte er jede Bewegung bedächtig aus.
Sein Schädel dröhnte wie ein Brummkreisel. Er versuchte sich zu erinnern, was mit ihm geschehen war. Er war zusammengeschlagen worden, direkt vor seiner Haustür. Aber wo war er jetzt? In dem Moment stieß er mit dem Kopf gegen die Decke. – Decke? Das konnte doch nicht sein.
Dirk begann das Innere seines „Gefängnisses“ abzutasten. Da verstand er es. Es war der Kofferraum eines Autos!
„Das gibt es doch nicht!“, dachte er und begann gegen die Klappe zu schlagen.
„Verdammt noch mal! Lasst mich hier raus! Sind denn hier alle verrückt geworden?!“
In dem Moment hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss herum gedreht wurde. Die Klappe schwang auf. Dirk blickte in Kerstins Gesicht!
„Verdammt, was läuft hier? Eine Entführung? Ausgerechnet du?“
„Da kannst du mal sehen. Und jetzt raus mit dir!“
„Aber...“
„Ach halt den Mund, sonst passiert was!“, entgegnete sie kalt.
Der Mann stemmte sich mühsam in die Höhe und versuchte aus dem Wagen zu klettern. Es kostete ihn eine Menge Kraft, sich zu erheben. Die Nachwirkungen des Schlages waren stark. Dennoch kämpfte er und kam auf die Beine.
„Hey Thomas. Nun sieh dir den an! Den Schwächling sollen wir aufnehmen?!“
Kerstins Gesicht verzerrte sich. Dann trat sie ihrem Freund die Beine weg. Schwer klatschte er mit dem Gesicht auf den steinigen Boden.
„Los, steh auf, du – Mensch!“
Dirk hatte das Gefühl, sein Kopf würde in tausend Stücke zerspringen. Er musste hart dagegen kämpfen, nicht wieder bewusstlos zu werden. Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme seiner Freundin, die über ihm stand und einen Fuß auf seinen Kopf gestellt hatte und langsam immer fester zutrat.
„Am liebsten würde ich dich zertreten, wie eine Made! Nur das du es weißt!“
Da mischte sich Thomas ein.
„Kerstin, lass es jetzt gut sein, du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt reicht es!“
„Genau! Es genügt!“, hörten sie hinter sich eine Stimme rufen.
Wie auf ein Kommando drehten sich die beiden um. Aus dem Schatten eines Baumes war Svenja erschienen…
*
Dirk verstand die Welt nicht mehr! Angst stieg in ihm hoch. Jetzt war er schon fast sechs Jahre mit Kerstin zusammen, und er war so gemein aufs Kreuz gelegt worden. Nie hätte er einen Grund gehabt, seiner Freundin zu misstrauen. Und jetzt hatten sie, seine Schwester und ein unbekannter Typ seine Entführung geplant und durchgeführt. In diesen Minuten war für ihn die Welt zu einem Scherbenhaufen zerborsten. Es musste doch einen Grund dafür geben, doch alle seine Fragen blieben unbeantwortet.
„Los, stellt meinen Bruder auf die Beine, und dann ab Marsch zur Lichtung!“
„Was ist hier ...?“
Dirk kam erst gar nicht dazu, eine Frage zu stellen, da war Svenja schon heran und drehte den Kragen seines Hemdes fest zusammen.
„Wenn du jetzt noch ein einziges Mal die Schnauze aufreißt, dann sorge ich dafür, dass du in der nächsten Stunde in Stücken zerrissen unter der Erde liegst! Hast du mich verstanden?“
Dirk schwieg. Das brachte seine Schwester noch mehr auf. Dann geschah etwas Seltsames. Aus der Hand von Svenja wuchsen plötzlich Haare und die Fingernägel verlängerten sich, so dass eine entsetzlich anzusehende Pranke entstand. Dann packte sie sein Gesicht! Wie Dolche bohrten sich die Nägel hinein.
„Gib mir Antwort, sonst reiße ich dir dein Gesicht aus dem Kopf! – Gib Antwort!“
Dirk stöhnte auf: „Ja.“
„Was, ja?“
„Ja, ich habe dich verstanden.“, brachte er gepresst hervor.
„Dann ist es ja gut.“ Svenja entfernte die Kralle aus seinem Gesicht.
„Kerstin, du passt auf ihn auf. Wenn er noch mal labert, dann reiß ihm seine Zunge raus!“
„Worauf du dich verlassen kannst. Das mache ich mit Vorliebe!“
Dirk hatte das Gefühl, einen bösen Albtraum zu erleben. Svenjas Hand war mittlerweile wieder normal geworden. Das würde ihm niemand glauben, falls er überhaupt noch dazu kam, es jemandem zu erzählen. Die Drohungen waren einfach zu deutlich gewesen. Er dachte über seine Situation nach. Anscheinend waren hier alle durchgedreht! Wer war überhaupt noch normal? Er wusste es nicht. Vielleicht waren schon alle seine Freunde so wie seine Schwester und seine Freundin.
Da fiel ihm Steffen ein. Nein - ihn hatte es noch nicht erwischt! Ihm war ja selbst die Veränderung aufgefallen.
Dirk war klar, dass eine große Gefahr im Anzug war, von der er bisher nichts geahnt hatte. Man hatte einen nach dem anderen aus seinem Umfeld manipuliert. Aber was waren sie jetzt? Er rätselte, kam aber zu keinem Ergebnis. Auch das man ihn als „Mensch“ bezeichnet hatte, war seltsam. Das hörte sich ja fast so an, als wenn die anderen keine Menschen mehr waren. Die Aktion mit der Krallenhand hatte zudem diese Vermutung noch verstärkt! Aber es konnte doch nicht sein. Was er hier erlebte war das nackte Grauen! Er sah auch keine Chance, dieser Hölle zu entkommen. Er hatte drei Gegner, die er hätte ausschalten müssen. Sie passten auf, wie Bluthunde.
„Versuche nicht zu fliehen!“, drohte Thomas hinter ihm. „Ich würde dir dein Herz raus reißen, dann ist es aus mit dir! Schließe dich uns an, und du kannst so werden wie wir.“
Sie schritten immer tiefer in den Wald hinein. Für Dirk wurde die Lage mit jedem Schritt aussichtsloser. Er hatte sich jetzt zu entscheiden zwischen einem Leben, wie sie es führten, oder einem Grab im Wald. Doch beide Lösungen waren für ihn unakzeptabel. Und vor allem: was war mit Svenja passiert? Und was hatte sie darauf hin mit Kerstin angestellt?
Würde ihm das gleiche Schicksal widerfahren? Was würde danach geschehen? Würden alle Freunde und Bekannten dann so werden? Oder würde vielleicht sogar schlimmeres passieren? Schließlich hatten sie gedroht ihn zu töten und zu verscharren, wenn er ein einziges Wort von sich gab.
Dirk war sich bewusst, dass diese Bedrohung sogar globale Ausmaße annehmen konnte. Niemand ahnte es. Und wenn sie es begriffen hatten, war es schon zu spät. Es würde immer so weiter gehen. Der Geheimbund konnte sich nach Belieben vergrößern oder unliebsame Gegner beseitigen. Das war die grausame Realität!
Doch wie sollte er, auf sich allein gestellt, diese Katastrophe verhindern? Er konnte sich ja nicht einmal selbst retten. Das schlimmste daran war ja noch, dass Kerstin und Svenja mit dazu beigetragen hatten, dass er sich jetzt in dieser misslichen Lage befand.
Der Wald lichtete sich. Es konnte also nicht mehr weit sein. Zumindest vermutete er es. Was würde ihn jetzt erwarten?
Da passierte es. Jenseits des Waldweges traten sie aus der Deckung hervor. Es waren mindestens zehn Personen, die nahezu lautlos aus dem Schutz der Bäume traten. Dirk wollte es nicht glauben. Auch Rico war unter ihnen. Jetzt verstand er allmählich wie es dazu gekommen war. Er konnte es sich vorstellen, dass Ricardo seine Finger im Spiel hatte und seine Schwester auf irgendeine Art beeinflusst hatte. Und sie wiederum hatte Kerstin mit rein gezogen. Wahrscheinlich war er jetzt an der Reihe.
Dirk war sich dieser ungeheueren Gefahr durchaus bewusst, und er verfluchte es, dass ihm die Hände gebunden waren, die Welt über diese schrecklichen Vorgänge zu informieren. Er würde wahrscheinlich genau so enden, wie Svenja, Rico, oder Kerstin, als willenloses Werkzeug einer ihm völlig fremden und geheimnisvollen Macht.
Sie versammelten sich auf der kleinen Waldlichtung.
„Rico, wo ist Tom?“, fragte Svenja.
„In der Nähe von Peetz. Wenn der nur einen Fuß vor die Tür setzt, ist er dran!“
„Ja, Dirk und er hecken was gegen uns aus. Ich habe es deutlich vernommen!“, warf Kerstin ein.
„Ja ja, mein Bruder, bald denkt er anders darüber. Was hatten die beiden vor?“
„Sie wollten rausfinden, was es in Roermond für ein Geheimnis gibt.“
„Mieser Verräter. Ich habe es gewusst, selbst wenn er es nicht weiß, steckt er seine Nase überall rein.“
„Reg dich ab, dazu kommt es nicht. Der bringt uns nicht in Gefahr, dafür sind wir zu gut organisiert.“
„Was soll denn jetzt mit ihm geschehen? Er ist ein Unsicherheitsfaktor, ehr gefährlich als nützlich.“, meinte Rico.
„Mach dir keine Gedanken. Ich weiß auch nicht, was wir mit ihm machen sollen, aber wir beobachten ihn auf Schritt und Tritt.“, entgegnete Svenja.
„Du meinst, Tom ...“
„Genau.“
„Verstehe.“
Kerstin mischte sich ein: „Was ist, wenn er Außenstehende einschaltet? Wir können nicht rund um die Uhr auf ihn acht geben.“
Svenja schüttelte den Kopf: „Das denke ich nicht, er weiß doch gar nichts.“
„Ich will dich nur daran erinnern, dass viele es nicht geschafft haben, wegen falscher Entscheidungen.“
„Dann schlage etwas Besseres vor.“
„Ja, schaffen wir ihn aus dem Weg!“
„Dann gibt es erst recht Wirbel und alles fliegt am Ende auf!“, meinte Thomas. „Wir können ihn nicht ausschalten – noch nicht.“
„Trotzdem müssen wir die Aktion langsam über die Bühne bringen.“
„Ja, Kerstin, ich weiß, es wird auch bald anlaufen, am Dienstag ist es vollbracht.“
„Wenn er uns nicht absagt, er hat ja selbst keine Ahnung.“
„Ich hoffe es auch nicht.“
Plötzlich hallte Svenjas Stimme durch den Wald. „Ruhe! Ich muss euch etwas sagen!“
Sofort verstummten sämtliche Gespräche.
„Hört zu Freunde! Die Nacht ist bald vorbei. Wir müssen das Ritual vollbringen, bevor der Tag anbricht! Kein Sonnenstrahl darf auf diese Lichtung fallen, bevor es geschehen ist! Habt ihr das verstanden?“
„Ja!“, ertönte es wie aus einem Munde.
„Dann bringt mir die Schale für meinen Bruder!“
„Sofort.“, entgegnete Rico.
Alles war gut vorbereitet. Er verschwand zwischen den dichten Bäumen und holte ein rundes Gefäß hervor in dem eine rötliche Flüssigkeit gefüllt worden war. Rico betrat wieder die Lichtung.
„Gib meinem Bruder die Schale. Er soll davon trinken! Und gib Acht, dass er es nicht einfach auf den Boden schüttet! Wenn er es versucht, dann bring ihn um!“
„Ich habe verstanden.“
Rico ging auf Dirk zu, der mit Tränen in den Augen da saß und wusste, dass auch er verloren hatte. Ein beklemmendes Gefühl der Angst hatte sich auf seine Brust gelegt. Er konnte es sich denken, was es bedeutete, wenn er von diesem Gebräu trank. Er würde so werden wie sie. Kalt, böse, unbarmherzig! Dann würde auch ein bis dahin ahnungsloser Steffen Peters ins offene Messer laufen. Auch stellte er sich die Frage, wann und wie es dazu gekommen war. Wie lange lag das Böse schon auf der Lauer?
Als Rico ihm die Schale unter die Nase hielt, wurde er in seinen Gedanken jäh unterbrochen.
„Los. Trink die Schale aus!“, befahl er.
„Nein ...“
„Ich sage es dir zum letzten Mal! Trink! Oder du bist tot!“
Dirk sah keinen Ausweg mehr. Einen Gedanken an Flucht verwarf er direkt wieder. Es waren einfach zu viele Gegner um ihn herum, die über Kräfte verfügten, welche er nicht einzuschätzen wusste.
Mit zitternden Fingern nahm er die Schale, warf noch einen letzten wehmütigen Blick in die Runde, und er erkannte, dass er keine Chance haben würde.
Dirk hatte keine Wahl, er musste es tun. Er setzte das Gefäß an seine Lippen und trank die Schale leer. Er wusste selbst nicht, ob er das richtige tat. Vielleicht hegte er auch die Hoffnung, willensstark genug zu sein, um das Böse zu besiegen.
Dirk spürte ein Brennen in seinen Adern. Gleichzeitig begann sich die Welt vor seinen Augen zu drehen. Für Dirk öffnete sich ein Loch schattenloser Schwärze die ihn verschlang und ins Reich der Bewusstlosen beförderte.
*