Nah am Leben

Eleluku

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Nah am Leben

Es war ein gewöhnlicher Dienstagmorgen im November. Die Luft im Schulgebäude trug den charakteristischen Geruch von Kreidestaub, Linoleumboden und dem schwachen Echo hunderter Gespräche, die sich in den Wänden verfangen hatten. Ich blätterte in meinen Unterlagen, hatte den Tag sorgfältig choreographiert: Tonleitern, Rhythmusübungen, eine Einführung in die romantische Periode der Musikgeschichte – wohlgeordnet wie Noten auf einem Blatt Papier.
Dann kam die 9b. Etwas stimmte nicht. Der übliche Lärmpegel, das Stimmengewirr, das Lachen, das normalerweise wie Wellen gegen die Wände des Flurs brandete – all das fehlte. Sie kamen herein wie Schatten ihrer selbst, die Köpfe gesenkt, die Schultern nach vorne gebeugt, als trügen sie unsichtbare Lasten. Der Raum füllte sich mit Stille, einer so dichten, greifbaren Stille, dass ich das Gefühl hatte, sie würde mir die Luft zum Atmen nehmen.
Meine sorgfältig vorbereiteten Unterlagen wurden plötzlich bedeutungslos, wie verwehte Blätter im Herbstwind. Dies war ein Moment, in dem nicht der Lehrplan zählte, sondern das Leben selbst, das mit seiner unerbittlichen Wucht in unseren Raum eingedrungen war.
„Kommt in den Kreis", sagte ich leise und räumte den Platz in der Mitte frei. Keine Widerworte, kein Murren, wie es sonst üblich war – sie folgten stumm, ergaben sich dieser unerwarteten Änderung mit einer Fügsamkeit, die mich erschreckte.
Lisa, die neben mir saß, flüsterte mir zu, was geschehen war. „Markus' Vater ist gestern gestorben. Plötzlich. Herzinfarkt." Ihre Stimme zitterte leicht, während sie sprach, als könnte das bloße Aussprechen der Worte den Schmerz verstärken.
Erkan war nicht da, aber seine Abwesenheit füllte den Raum wie ein Echo. Er war beliebt, ein Junge mit ansteckendem Lachen und einer natürlichen Fähigkeit, Brücken zwischen verschiedenen Grüppchen zu bauen. Nun war sein Leben zerbrochen, und die Risse durchzogen auch die Gemeinschaft seiner Mitschüler.
„Wissen das alle?", fragte ich leise, den Blick auf einige verwirrte Gesichter am Rand des Kreises gerichtet. Lisa schüttelte den Kopf.
„Möchte jemand den anderen erklären, was passiert ist?"
Ein Moment des Zögerns, dann erhob sich Julia, ihre Augen gerötet, die Hände nervös mit dem Saum ihres Pullovers spielend. Sie und Markus waren seit der Grundschule befreundet.
„Erkans Papa ist gestern Abend gestorben", sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, das dennoch jeden Winkel des Raumes erreichte. „Er... er hat ihn gefunden, als er von seinem Fußballtraining nach Hause kam."
Die letzten Worte brachen aus ihr heraus, und Tränen liefen über ihre Wangen. Sophie, die neben ihr saß, legte einen Arm um ihre Schultern.
Die Wahrheit lag nun offen im Raum, schwebte zwischen uns wie feiner Staub im Sonnenlicht. Wir schwiegen gemeinsam, minutenlang. Nie zuvor hatte ich diese Klasse so still erlebt. Es war eine Stille, die nicht leer war, sondern gefüllt mit unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen – eine Stille, die verband statt zu trennen.
„Wie geht ihr mit Traurigkeit um?", fragte ich schließlich in die Runde. „Was hilft euch, wenn ihr traurig seid?"
Anfangs zögerlich, dann immer mutiger teilten sie ihre Gedanken mit. Tim sprach davon, wie er Fahrrad fuhr, bis seine Beine schmerzten und sein Kopf leer war. Sarah erzählte von ihrem Tagebuch, in das sie all jene Dinge schrieb, die zu schwer waren, um sie auszusprechen. Leon nannte seinen Hund, der ihm zuhörte, ohne zu urteilen.
Und dann sagte Emma: „Ich höre Musik. Immer wenn ich traurig bin. Manchmal ganz laut, damit ich nichts anderes mehr höre."
Dies öffnete ein Tor. Plötzlich sprachen alle über Musik, ihre Stimmen wurden lebendiger, der Raum füllte sich wieder mit Energie, nicht der üblichen ausgelassenen, sondern einer nachdenklichen, aber lebendigen.
„Ich brauche dann was Lautes, etwas mit Bass, das mich ablenkt", sagte Max.
„Ich höre traurige Lieder", widersprach Lena. „Das hilft mir irgendwie. Als würde die Musik meine Gefühle verstehen."
Sie diskutierten über Genres, Künstler, spezifische Lieder. Die Mauern der üblichen sozialen Gruppen bröckelten in diesem Moment gemeinsamer Verletzlichkeit. Der coole Leon gab zu, heimlich Balladen zu hören; die stille Hannah sprach leidenschaftlich über die Kraft von Metal-Musik, wenn sie wütend-traurig war.
„Vielleicht", sagte ich, als die Energie im Raum sich gewandelt hatte, „könnten wir in der nächsten Stunde Musik mitbringen, die uns tröstet oder hilft, wenn wir traurig sind. Wir könnten sie uns gegenseitig vorstellen."
Die Idee wurde mit nickendem Einverständnis aufgenommen. Sophie hob die Hand: „Können wir mit ruhigen Stücken anfangen? Und niemand darf lachen, egal was jemand mitbringt."
„Natürlich", bekräftigte ich. „Jeder empfindet anders, und was einem hilft, mag für einen anderen bedeutungslos sein. Es gibt kein Richtig oder Falsch in dem, was uns berührt."
Ich erzählte ihnen von der langen Geschichte der Trauermusik, von den Klageliedern der Antike über die barocken Lamenti bis zu den Trauermärschen der Romantik. Von Komponisten, die ihre tiefsten Gefühle in Noten gekleidet hatten, weil Worte nicht ausreichten.
Als die Glocke das Ende der Stunde verkündete, löste sich der Kreis langsam auf. Die Schüler verließen den Raum nicht in der üblichen Eile, sondern nachdenklich, in kleinen Gruppen, miteinander sprechend. Ein paar blieben zurück, um zu fragen, ob wir Erkan eine Karte schreiben könnten, ob wir etwas für ihn tun könnten.
In den Stunden danach begleiteten mich ihre Stimmen, ihre Geschichten. Zuhause durchforstete ich meine Musiksammlung, auf der Suche nach dem ältesten bekannten Lamento, dem Lamento di Tristano. Als die ersten Töne den Raum füllten, sanft und klagend zugleich, dachte ich an die vergangene Unterrichtsstunde zurück.
Die Noten schwebten durch den Raum wie Erinnerungsfetzen, verbanden mich über Jahrhunderte hinweg mit jenen, die dieses Stück komponiert, gespielt und gehört hatten. Musik – diese seltsame, flüchtige Kunst, die in der Zeit existiert und gleichzeitig zeitlos ist – erschien mir in diesem Moment als perfektes Medium für die Erfahrung von Trauer und Trost.
Während ich lauschte, verschwammen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das mittelalterliche Lamento, meine Schüler, Erkan und sein unermesslicher Verlust – alles existierte gleichzeitig in diesem Klangraum der Empfindung.
Es war ein unerwartetes Geschenk gewesen, diese Stunde, in der wir gemeinsam in der Tiefe des Lebens geatmet hatten. Ein Unterricht ohne Lehrplan, aber voller Lektionen. Nicht über Noten und Rhythmen, sondern über Mitgefühl, über die verbindende Kraft der Musik, über das gemeinsame Tragen von Schmerz.
„Nah am Leben", flüsterte ich zu mir selbst, während die letzten Töne des Lamento verklangen. So sollte Unterricht sein – nicht ein Rückzug vom Leben, sondern ein tieferes Eindringen in dessen Komplexität. Nicht eine Flucht in abstrakte Konzepte, sondern eine Begegnung mit den grundlegenden Erfahrungen, die uns alle verbinden.
Ich notierte mir die Idee für die nächste Stunde, aber ich wusste: Was auch immer ich planen würde, das Leben selbst würde mitgestalten. Und vielleicht war genau das die wichtigste Lektion – für die Schüler und für mich.
 



 
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