Namenlos

Arcos

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Als dieses verendete Rind unweit eines Waldstückes gefunden wurde, konnte niemand ahnen, welche
Tragweite dieses Geschehens haben würde.
Nicht nur der Fundort des Tieres war rätselhaft. Vielmehr waren es vor allem die Todesumstände, die viele
Fragen aufwarfen.
Die Zunge fehlte fast vollständig. Aus einem Loch im Rücken waren einige Organe entnommen und die Haut
wies vor allem im Bereich des Halses unzählige Brandmale auf. Doch das Seltsamste war das komplette
Fehlen des Blutes. Die Veterinäre bestätigten die Tatsache, dass das Blut nicht durch simples Abpumpen
entnommen werden konnte. Schon die Entnahme von nur 35% würde zum völligen Kollabieren der Blutgefäße
führen.
Der Bauernhof, dem das Tier eindeutig zugeordnet werden konnte, lag nur wenige Kilometer vom Hügel
entfernt. Der Landwirt hatte der Polizei versichert, dass er seine Rinder niemals so weit vom Grundstück weglaufen ließ.
Da er viele Wiederkäuer besaß, war ihm das plötzliche Verschwinden zunächst nicht aufgefallen.
Niemand hätte erwartet, dass dieser gutherzige und verantwortungsbewusste Bauer einige Tage später ein Blutbad anrichten würde.
Eine Nachbarin hatte die Schreie gehört und war zum Hof gelaufen. Als sie in einem der Ställe den grausigen
Fund gemacht hatte, rannte sie völlig verwirrt zurück zu ihrem Haus. Sie verriegelte schwer keuchend die Tür
und versuchte wieder zu sich zu kommen. Dann griff sie zum Telefon.
Der Landwirt ergab sich widerstandslos. Er kauerte neben der Leiche seiner Frau, die mit aufgeschlitzter
Kehle auf dem Stroh lag. Auch ihre Bauchdecke war geöffnet worden.
Der Bauer ließ sofort das Messer fallen und befolgte die dringlichen Anweisungen der Beamten. Seine
blutgetränkten Hände streckte er auf den Boden und presste sein Gesicht in eine der Blutpfützen. Tränen
schossen ihm in die Augen.
Noch Jahre nach seiner Verhaftung und etlichen Vernehmungen, gab er kein einziges Wort mehr von sich. Es
war fast so, als hätte ihn seine Seele verlassen.
Obwohl nichts darauf hindeutete, dass der Landwirt auch etwas mit dem Tod seines Tieres zu tun hatte,
wurden die beiden Vorfälle in Zusammenhang gebracht. Von fehlenden Indizien wollte man nichts wissen.
Das Geschehen war fast in Vergessenheit geraten, als das nächste Opfer entdeckt wurde.
Der Informatiker befand sich noch in seinem angemieteten Büro, als er aus dem Leben gerissen wurde. Er war
in einem der Stühle zusammengesackt. Auch hier waren keine Blutspuren zu entdecken. Anstelle des Blutes
waren seine Gefäße mit einfacher Luft gefüllt. Sein Kopf war nach hinten auf die Lehne gekippt. Nach einer
genaueren Obduktion schrieb ein Gerichtsmediziner:
>> Der Schädel ist völlig entleert. Vermutlich ist das graue Nervengewebe aus den Nasenöffnungen abgesaugt
worden. Es lassen sich aber keine Schäden an den Knochenwänden feststellen. Die Häufigkeit der Brandmale
ist über der gesamten Haut in etwa gleichmäßig verteilt. Der Mund ist völlig ausgetrocknet. Tiefe Risse teilen
die Oberfläche der Zunge, deren Ursprung unklar ist. Außer dem Erbgut des Opfers konnten keine weiteren
DNA-Spuren festgestellt werden.<<

Als in den Zeitungen darüber berichtet wurde, stieg die Verunsicherung bei den Einwohnern der Stadt. Viele
Hinweise von vermeintlichen Zeugen führten in dunkle Sackgassen.
Auch die nächsten Opfer warfen viel mehr Fragen auf, als sie beantworten konnten. Die Präzision der Schnitte
an den Körpern ließ auf einen Täter schließen, der die Anatomie sehr gut kannte und verstand. Aber auch der
beste Chirurg würde Spuren hinterlassen.
Nach den Erlebnissen einer jungen Familie, die in einem der Vororte wohnte, fand das Grauen schließlich ein Ende.
Sie waren zu einem Picknick an einem der zahlreichen Seen aufgebrochen, die durch ihre Idylle die Schönheit
dieser Gegend unterstrichen.
Die Mutter war gerade mit dem Zubereiten der Brote beschäftigt, als sie ihren Sohn laut schreien hörte:
>>Verschwinde…verschwinde…verschwinde!<<
Augenblicklich wurde ihr klar, dass die Stimme des Jungen eine ungewöhnlich hohe Tonlage hatte. Sie sprang
sofort auf und lief ins Gebüsch, wo sich ihr Kind verschanzt hatte, weil es mit den Eltern Verstecken spielen
wollte. Als sie bei ihm ankam, starrte er immer noch mit großen Augen in den Wald. Doch sie konnte nichts
Außergewöhnliches feststellen. Natürlich wollte sie wissen, was er denn da gesehen hatte.
>>Ich glaube es hat noch keinen Namen<<, sagte er flüsternd und schüttelte einfach nur den Kopf.
Dann sahen sie einen seltsamen Silberschweif, der weit entfernt und lautlos den Horizont berührte.
Er trug seine Wahrheit in die unendliche Dunkelheit.
 
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Arcos

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Besten Dank mimikri für das Lesen und Kommentieren.
Freut mich, dass es dir gefällt.
Liebe Grüße
Önder
 



 
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