1. Kapitel - Wie die Prophezeiung des Nasdagol gefunden wurde
Mit einem lauten, trockenen Knacken brach ein von der Sommersonne ausgedörrter Ast unter Norems schwerem Lederstiefel. Von dem plötzlichen Geräusch, das die friedliche Stille des Waldes so unerwartet durchdrang, wurde ein Rehbock aufgeschreckt, der sich im Astgewirr eines Hagebuttenstrauches versteckt gehalten hatte.
Mit langen Sätzen stob das Tier durch den grünen Teppich aus Farnen, Fingerhut, wilden Brombeersträuchern und jungen Eichen davon. Schon nach wenigen Sätzen konnte man nur noch erahnen wohin es gelaufen war. Einzig die auf dem mit endlos vielen Sonnentupfen übersäten Waldboden tanzenden Pflanzen ließen die Richtung seiner Flucht erahnen.
Norem hatte im Schrecken innegehalten und stand noch immer regungslos in halb gebückter Haltung da. Nun richtete er sich langsam wieder auf und stemmte zur Unterstützung seines vom Alter geschwächten Rückens die Hand in die Hüfte. „Ach du alter Narr“ schollt er sich selbst. „Nun wandelst du schon seit so unermesslich langer Zeit unter der Weltensonne, nutzt jede erdenkliche Gelegenheit um in den Wäldern deine Kräuterküche mit Nachschub zu versorgen, kennst bald jeden Stein hier draußen und doch störst du den Frieden der Natur. Doch wenigstens war es nur ein Rehbock den du aufgescheucht hast und kein wilder Eber oder gar ein Bär“.
Nun hatte sich der alte Hofweise vollständig aufgerichtet. Ächzend ließ er seine schwere Kiepe vom Rücken gleiten und stellte sie auf dem weichen Boden des lichten Waldes aus uralten Eichen und Buchen ab. Aus der Tasche seines langen, dunkelblauen Umhanges zog er ein knittriges Stofftuch, womit er sich den Schweiß aus dem faltigen Gesicht wischte. Danach zupfte er noch einige Blätter und Aststückchen aus seinem langen weißen Bart und strich ihn wieder glatt. Er reckte sich, um seine müden Glieder zu entspannen, schaute nach oben und sah durch das grüne Blätterdach die Spätsommersonne blitzen. Mit einem tiefen Atemzug sog er die frische Waldluft genüsslich ein. Sie roch nach Pilzen und Holz und sie trug Wohlbefinden in den Körper des alten Mannes. Als sein Blick wieder nach unten glitt, spähte er noch einmal in die Richtung, in die der Rehbock gelaufen war. Norem überlegte kurz und stellte dann fest, dass er heute ungewöhnlich tief in den Wald gegangen war.
In einiger Entfernung meinte er einen großen, dunklen Schatten hinter einigen mächtigen Eichen ausgemacht zu haben, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war.
Norem war schon seit Stunden unterwegs. Mit gebücktem Rücken und nach unten gerichtetem Blick war er durch den Wald gelaufen und hatte Kräuter, Pilze und Beeren gesammelt. Er war einer der drei Hofweisen am Hofe des großen Reigolkönigs Bul da Sim, im Lande Reigolpeor. Hier beschäftigte er sich hauptsächlich mit alten Sprachen und Schriften, aber auch mit der Kräuterheilkunde, was ihn immer wieder zu einsamen und oftmals Tage währenden Wanderungen durch die westlichen Ausläufer des Eiswaldes veranlasste. Hier, ganz im Osten des Reiches hatte er viele Freunde und Bekannte, die ihm immer wieder bereitwillig ein Quartier für die Nacht anboten. Die meisten der in kleinen Dörfern lebenden Familien kannte er seit langen Jahren und es verband sie eine gemeinsame Vergangenheit.
Geboren wurde Norem nicht als Reigol sondern als Modalun. Dieses Volk, das große Leistungen in der Architektur und Kultur vorzuweisen hatte, lebte ursprünglich in den Gebieten des zentralen Eiswaldes und in den fruchtbaren Ebenen westlich davon. Durch die Eroberungskriege des Reigolkönigs Bul Paron Dagodil, dem Vorgänger des heutigen Königs Bul da Sim, fiel das Reich der Modalun und wurde dem der Reigol einverleibt. So gelangte Norem als Weiser an den Hof der Reigolkönige, wo er seit Jahrzehnten lebt. Er gilt heute als einflussreichster Berater des Königs in politischen Dingen und stand ihm auch schon als Heeresführer zu Diensten. Doch seine Ursprünge hat Norem nie vergessen und immer wieder zieht es ihn in seine alte Heimat. Hier kennt jeder den freundlichen alten Mann mit den flinken Augen, der großen roten Nase und den buschigen Brauen und er ist überall ein gern gesehener Gast und willkommener Gesprächspartner.
Norem bückte sich und griff nach dem Trageriemen seiner Kiepe. Mit einem leisen Stöhnen hob er den schweren Weidenkorb an und hievte ihn auf seinen Rücken. Er war schon mehr als zur Hälfte gefüllt und würde genügend Vorräte für die nächsten Wochen liefern, um daraus Salben, Tinkturen und allerlei heilende Gebräue herzustellen. Neugierig spähte er erneut in die Richtung des dunklen Schattens hinter den Eichen. Noch immer war dort etwas zu sehen, doch was es war erkannte er nicht. Aus dem Stand der Sonne schloss der weise Mann, dass es früher Nachmittag sein musste und es noch für Stunden hell sein würde. Also beschloss er dem geheimnisvollen Schatten dort hinter den Bäumen auf den Grund zu gehen. Noch einmal rückte er die Kiepe auf dem Rücken gerade, zog seinen langen Stecken aus der Erde und dann lief er los. Über ihm sangen Vögel in den Bäumen und hunderte von Insekten erfüllen die Luft mit einem leisen Sirren. Je näher Norem dem seltsamen Schatten kam, desto mehr konnte er sehen. Bald meinte er Steine und den Teil einer verfallenen Mauer zu erkennen, doch noch war er nicht dicht genug herangekommen um dies mit Bestimmtheit sagen zu können. So lief er weiter und sein Weg führte ihn durch eine kleine Senke. Hier war hinter einigen Sträuchern der weiche Boden aufgewühlt. „Wildschweine“ dachte Norem beiläufig und achtete nicht weiter darauf, was recht ungewöhnlich für ihn war, denn normalerweise pflegte er stets an solchen Orten Halt zu machen und sich an den einfachen Dingen der Natur zu erfreuen.
Der Weg führt langsam wieder aufwärts, geradewegs aus der Senke hinaus. Nun war Norem schon sehr dicht bei dem Schatten und als er wieder ebenen Boden unter den Füßen hatte, stand er schließlich direkt davor.
Er hatte sich nicht getäuscht. Es waren tatsächlich Steine die er aus der Ferne gesehen hatte. Grob behauene, gelbliche Sandsteine, die mit Moosen und Flechten überzogen waren. Darüber wuchs ein dichter Teppich aus langarmig rankendem Efeu. Er blickte an der überwucherten Mauer empor und konnte erkennen, dass die Steine einen runden Turm bildeten, der in etwa fünf Metern Höhe abrupt endete. Ab da gab es nur noch gezackte Teilstücke der ursprünglichen Außenmauer, die trostlos in die Höhe ragten. Norem blickte sich um und sah ringsum auf dem Boden die zahllosen, von Pflanzen bedeckten Steine des eingefallenen Gemäuers, Teile uralter Holzbalken, Bruchstücke von Tongefäßen und die vermoderten Überreste in Leder eingeschlagener Bücher.
Er lief ratlos umher und drehte mit seinem Stecken einige der Tonscherben und Buchrücken um. Doch so sehr er sich auch mühte, konnte er den verstreut liegenden Gegenständen nichts Bedeutungsvolles entlocken. Schließlich blickte er wieder auf und wand sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich wieder einige Meter von dem verfallenen Gemäuer entfernt hatte. Vielleicht würde er im Inneren des alten Turmes etwas Lohnendes entdecken dachte er und erneut lief er in Richtung des bewachsenen Mauerwerkes. Er umrundete den Turm auf der Suche nach dem Zugang, doch fand er sich alsbald wieder an der Stelle von der aus er losgelaufen war. Norem stutzte und schickte sich an eine zweite Runde zu gehen, bei der er genauer würde hinschauen müssen. Er lief diesmal dichter bei der Mauer und ließ die linke Hand über die Steine gleiten. So würde er den Zugang ganz sicher entdecken. Bald wurde der Boden unter seinen Füßen weicher und das Rascheln der Pflanzen hörte sich satter an. Er stand auf dem Wurzelstock des Efeus der den ganzen Turm umrankte. Er hielt inne, tat einen Schritt nach vorn und stand jetzt neben den Hauptästen der sich empor windenden Pflanze. Mit seinem Stecken durchstach er das dichte Blättergewirr. Er tastete einige Sekunden blind umher und fand schließlich was er suchte. Hinter der grünen Blätterwand waren keine Steine. „Ja, das muss es sein“ murmelte er. Er hatte den Eingang gefunden. „Und von allen Flecken dieser Mauer muss der Efeu ausgerechnet an dieser nach oben wachsen“ Norem ärgerte sich, dass der Eingang zum Turm zugewachsen war und er nicht einfach hineinspazieren konnte.
Um sich besser bewegen zu können, ließ er erneut seine alte Kiepe vom Rücke gleiten und lehnet sie gegen die Mauer. Dann griff er in die Tasche seines Umhangs, zog wieder das zerknautschte Stofftuch hervor und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Schließlich löste er noch eine kleine Lederflasche von seinem Gürtel und erfrischte sich mit einem kräftigen Schluck kalten Wassers. „Nun dann, es wird wohl nicht anders gehen als mittendurch“ murmelte er. Der alte Mann hob seinen Stecken empor und hielt ihn schützend vor sich. Langsam drückte er damit die kräftigen Äste des Efeus beiseite und versuchte sich durch den entstandenen Spalt zu quetschen.
Im Halbdunkel sah er eine vermoderte Holztür mit verrosteten Beschlägen, die halb aus den Angeln gefallen war und nur noch von dem sie überwuchernden Efeu aufrecht gehalten wurde. Norem schob seinen Körper immer weiter hinein in die Enge des Pflanzengewirrs. Sein langer Bart und sein ebenso langes, schneeweißes Haar verfingen sich zwischen dünnen Zweigen und der Schatten spendende Strohhut drohte ihm vom Kopf zu rutschen. Stöhnend und leise fluchend kämpfte sich der alte Mann weiter und schließlich gelangte er ins Innere des Turmes. Drinnen angekommen fand er sich zunächst in völliger Dunkelheit wieder. Er nutzte die Zeit die seine Augen brauchten um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, um sich erneut Blätter und Zweige aus Bart und Haaren zu zupfen.
Langsam begann das Licht zurückzukehren und Norem wurde gewahr wo er sich befand. Das Innere des verfallenen Turmes sah nicht besser aus als das was man von außen sehen konnte. Modrige Balken hingen von der eingestürzten Decke herab, der Boden war mit fauligem Laub bedeckt, die Wände hatten einen nassen Glanz und waren über und über mit Moos bewachsen. Von den Kanten des Mauerwerks in luftiger Höhe hingen blattlose und offenkundig abgestorbene Zweige des Efeus, die bis fast auf den Boden reichten. Norem sah sich in alle Richtungen um und stellte fest, dass der Turm einst weit mehr Platz geboten haben musste, als es von außen den Anschein hat. Es gab sogar eine Treppe, die in ein zweites Stockwerk empor führte. Doch diese war so zerfallen, dass man sie nicht mehr nutzten konnte und auch von der zweiten Etage war kaum mehr übrig als die fauligen Deckenbalken. Es war stickig, die Luft roch alt und verbraucht und es herrschte eine seltsame Stille. Kein Vogelzwitschern und kein Fliegensummen drang hier herein. Norem konnte sein Herz schlagen hören und sonst gar nichts. An den Wänden standen eingefallene Bücherregale mit den gleichen ledergebundenen Folianten wie sie draußen überall verstreut lagen. Er nahm einige und schlug sie auf, doch die meisten Seiten waren längst verfault oder enthielten keine Buchstaben mehr. Mit vorsichtigen Schritten ging er geradewegs durch den Turm. Etwa in der Mitte standen die Überreste eines schweren Holztisches. Davor konnte man einen Stuhl erkennen, der von einem herabgestürzten Deckenbalken zertrümmert wurde. Der Tisch war beinahe leer. Ein altes Tintenfass, ein paar von Schimmel zerfressene Schreibfedern sowie einige löchrige Pergamente waren alles was dort zu finden war. Norem ging weiter, geradewegs in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Dort fiel durch eine kleine Öffnung ein wenig Licht ins Innere. Durch die davor befindlichen Blätter wirkte das Licht grün. Direkt unter der kleinen Fensteröffnung stand an der Wand eine alte Holztruhe mit eingefallenem Deckel. Die Beschläge der Truhe waren rostig und von der einst prächtigen Bemalung waren nur noch einige Farbfetzen geblieben. Die Truhe war mit einem großen Eisenschloss versperrt. Angesichts des eingefallenen Truhendeckels wirkte das riesige Schloss fast schon lächerlich. Norem lehnte seinen Stecken an die Wand und ließ sich vor der Truhe auf die Knie sinken. Sorgfältig räumte er die Bruchstücke des Deckels aus dem Truheninneren und verschaffte sich auf diese Weise Zugang. Er konnte kaum etwas sehen denn die Reste des Deckels warfen ihren dunklen Schatten in die Truhe. „Licht“ sagte er. „Ich brauche Licht. Aber woher…natürlich die Kerzen in der Kiepe, die mir der alte Bauer Bonjol gestern geschenkt hat. Die Kiepe, wo ist denn nur ahh verdammt. Sie steht draußen vor dem Turm. Du alter Narr, wo hast du nur deine Gedanken. Vermutlich liegt es an dem Brombeerwein, den du gestern mit Bonjol getrunken hast. Ein wahrhaft köstlicher Tropfen den sein Weib da gemacht hat, aber zuviel davon und es bleibt ein Wenig mehr als nur guter Geschmack auf der Zunge.“ So gab Norem dem Wein die Schuld daran dass er heute ein wenig vergesslich war, doch half ihm dass in dieser Situation nicht weiter. Er schob seine schlanken Hände tief in die Taschen seines Umhangs und tastete nach Zündhölzern. Doch außer vertrockneten Blättern, einigen Münzen und natürlich seinem knittrigen Stofftuch fand sich darin nichts. Norem seufzte tief und langte schließlich ohne Licht in die Truhe hinein. Ihm war ein wenig unbehaglich dabei, wusste er doch um die zahlreichen Spinnenarten die solche Behausungen liebten, von denen er selbst aber nur wenig angetan war. Kaum hatte er den Gedanken ersonnen, spürte er auch schon wie Spinnweben über seine nackte Hand strichen. Erschrocken zog er seinen Arm zurück und mit einer hektischen Bewegung strich er sich die Weben von der Hand. Er atmete tief durch und war gleichermaßen erschrocken und verärgert über seine Reaktion. Fest entschlossen sich nicht noch einmal von den Seidenfäden eines kleinen Krabbeltieres erschrecken zu lassen schob er den weit geschnittenen Ärmel seines Umhanges nach oben und langte mit dem nackten Arm tief in die Truhe hinein. Wieder spürte er, wie die Weben sich über den Handrücken und Unterarm verteilten. Seinen Fingern boten sie weit mehr Widerstand als er zunächst glaubte. Doch unbeirrt tastete er sich voran. Bald stieß er auf etwas sehr weiches, das feucht und leicht schmierig war. „Das muss der Boden sein“ dachte er. „Er ist genau so feucht und schimmelig wie alles andere in diesem verfallenen Gemäuer“. Norem achtete nicht weiter auf die klebrigen Reste der Samtverkleidung, die sich vom Boden löste und an seinen Fingern haften blieb. Er tastete weiter, doch er fand nichts außer kleinen Holzsplittern vom einstigen Truhendeckel und einigen Reißnägeln mit denen die Verkleidung vor langer Zeit befestigt wurde. „Irgend etwas muss sich doch hier finden lassen“ murmelte er und beugte seinen Oberkörper tief nach unten, sodass er mit seinem Arm noch ein weiteres Stück in die Truhe vordringen konnte. Sein Gesicht war jetzt ganz nahe am Truhenrand und mit dem Kinn berührte er das faulig kalte Holz. Ein großer Schwall modriger Luft stieg ihm in die Nase und nahm ihm fast den Atem. Da endlich konnte er im hintersten Winkel der Truhe etwas fühlen. Ja, da lag etwas, dessen war er sich ganz sicher. Es schien rund und hart zu sein, hatte dabei aber eine weiche, glitschige Oberfläche. Nach einem kurzen Moment des Zögerns packte er beherzt zu und umschloss das Fundstück. Als er den Arm wieder herauszog, spürte er wie sich zahlreiche Spinnweben von der Oberfläche des Objektes lösten und dann schlaff nach unten hingen. Jetzt konnte er sich wieder aufrichten und endlich dem Geruch entkommen der aus der Truhe entwich. Behutsam und ganz langsam schob er nun auch seine zweite Hand in die Truhe und umfasste damit den schweren Gegenstand. Nun hob er ihn über den Truhenrand und konnte zum ersten Mal sehen, was er in den Händen hielt. Etwas recht großes, dass zum Schutz in ein dickes Stück Leder eingeschlagen war. Das Leder war alt, genauso feucht wie alles andere hier und an einigen Stellen konnte man wuchernden Schimmel sehen. Das faulige Lederstück stank fürchterlich und nun wusste Norem auch was die Ursache des üblen Geruches war. Er legte den Gegenstand vor sich auf den Boden, wischte die schmutzigen Hände hastig an seinem Umhang ab und blieb dann einige Augenblicke reglos sitzen. Tief in Gedanken versunken starrte er auf die vor ihm liegende eingeschlagene Rolle. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung und stand mühsam, mit einem leisten Ächzen auf. Er griff nach seinem Stecken, der noch immer an der Wand lehnte und begann damit die lederne Ummantelung des Gegenstandes zur Seite zu schieben. Darunter kam eine silbrig schimmernde, mit zahlreichen Gravuren verzierte Dose zum Vorschein. Von der Neugier gepackt schlug er eilig das ganze Leder beiseite und betrachtete nun voller Bewunderung die vor ihm liegende Dose. „Sie ist makellos. Die ewige Nässe hier drinnen hat ihr nichts anhaben können.“ murmelte er. Das wenige Licht das durch die winzige Fensteröffnung fiel reichte aus, die silberne Dose zum Strahlen zu bringen. Von ihrer Schönheit fasziniert ließ sich der weise Mann erneut auf die Knie fallen und bemerkte dabei gar nicht den sonst üblichen Schmerz im Rücken. Seine Gedanken hatten keinen Platz für Schmerz. Achtlos ließ er seinen Stecken los, der erst polternd über die alte Truhe und schließlich mit einem satten Schmatzen auf den matschigen Boden fiel. Mit beiden Händen hob er die Dose nun behutsam empor um die kunstvollen Gravuren näher betrachten zu können. Da waren schroffe Berge zu sehen und Männer die mit Hämmern und allerlei Werkzeugen unter Tage gingen. Andere fuhren schwer beladene Wagen aus dem Gebirge hinaus. Wieder Andere brachten riesige, von Pferden gezogene Karren in langen Karawanen von den Bergen in prächtige Städte, die mit Türmen und kunstvollen Bauwerken ausgestattet waren. Geleitet wurden die Transporte von stolzen Soldaten in schimmernden Rüstungen, die auf edlen Pferden ritten und einen erhabenen Anblick boten. Neugierig drehte Norem die Dose und sah, dass die Figuren dort noch mehr zu erzählen hatten. Aus den prächtigen Städten heraus wurden die eskortierten Transporte zu riesigen Hafenanlagen gebracht. Dort gab es zahlreiche Schiffe, die einen ebenso erhabenen und stolzen Anblick boten wie alle anderen Darstellungen. Die Schiffe wurden schließlich beladen und segelten allesamt nach Süden. Am unteren Rand der Dose lugte gerade noch ein Segel hervor, dann endete die Geschichte und fing erneut mit den scharfkantigen Felsen an.
„Spiegelsilber“ murmelte Norem. Er hielt eine kostbare Dose aus hochreinem Spiegelsilber in den Händen. Spiegelsilber ist ein edles und vielseitig verwendbares Metall, das ausschließlich in den Spiegelschroffen vorkommt, einem trotzigen Hochgebirge im Lande Talun, dem nördlichsten aller Länder. Dort leben die Bolan, ein Volk von Bergmännern und Silberschmieden. Die Bolan sind ein stolzes Volk mit vielen Traditionen, Bräuchen und einer langen, ereignisreichen Vergangenheit. Seit Jahrhunderten schon gehen sie in die Berge der Spiegelschroffen und schlagen dort das Silber aus dem Gestein. Die besten Schmiede überhaupt verarbeiten den edlen Rohstoff dann zu unermesslich wertvollem Schmuck, zu Waffen oder zu teuren Alltagsgegenständen. Auf Schiffen bringen die Bolan diese Waren in die südlichen Länder und verkaufen sie dort gewinnbringend.
Die Dose in Norems Händen muss vor langer Zeit auf genau diesem Wege hierher gekommen sein. Der Schmied der sie schuf hat auf ihr den langen Weg des Silbers von den Felsen der Spiegelschroffen, bis hin zum Transport der fertigen Waren in den Süden dargestellt. Die prächtigen Abbildungen der Städte waren dabei keineswegs übertrieben. Die kunstvolle Architektur in Talun gilt als einzigartig und es heißt, dass Fremde die zum ersten Mal in eine Bolanstadt gelangen, im Angesicht der überwältigenden Schönheit regungslos verweilen und ihre kühnsten Erwartungen noch weit übertroffen werden.
„Ein wahres Meisterstück der Taluner Handwerkskunst“ sagte Norem, der seinen Blick noch immer nicht von den funkelnden Gravuren lösen konnte. Nach einigen Sekunden aber holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Er spürte ein steigendes Unbehagen in dem alten Gemäuer und ein Gefühl sagte ihm, dass es außer der Dose hier nichts anderes zu entdecken gab. So nahm er seinen Stecken wieder auf, klemmte die Dose unter den Arm und eilte zum Ausgang. Die Beklemmung die sich seiner bemächtigt hatte wurde stärker und so schob er sich hastig durch das dichte Efeugeäst. Wieder verfingen sich Blätter in Bart und Haaren und beinahe panisch drängte Norem nun dem Licht entgegen. Ein letzter Schritt noch vorbei am dicksten Ast und er war draußen. Sobald er den ersten Atemzug der frischen Waldluft tief in sich hinein gesogen hatte und wieder das vertraute Singen der Vögel vernahm, löste sich das seltsame Unwohlsein auf und Norem musste sogar darüber lächeln. Wieder nahm er seine Trinkflasche vom Gürtel und trank einen kräftigen Schluck. Das Wasser war noch immer frisch und löschte den Durst des Wanderers, doch gleichzeitig nährte es sein Verlangen nach dem köstlichen Brombeerwein von Bauer Bonjol’s Weib. Dazu gesellte sich der Appetit nach frisch Gebratenem, eingelegtem Obst und süßem Kuchen. „Welch Glück, dass du dich hast überreden lassen noch eine weitere Nacht bei Bonjol zu verbringen“ sagte Norem in vergnügtem Ton. In freudiger Erwartung auf einen geselligen Abend unter Freunden verstaute er seinen Fund in der Kiepe, schulterte diese und machte sich dann frohen Mutes auf den langen Weg zurück zu Bauer Bonjol.
„Gute Nacht Bonjol mein alter Freund“ sagte Norem zu dem kleinen Mann mit der großen Nase und dem dicken Bauch, der gähnend die letzten Gläser vom Tisch räumte und sich dabei müde die Augen rieb. „Gute Nacht“ entgegnete dieser „und wage es nicht wieder, dich heimlich vor dem Frühstück aus dem Haus zu stehlen. Beim letzten Mal musste ich die zwanzig Honig-pfannkuchen ganz allein verputzen die Silda nur deinetwegen gebacken hat.“ Norem hob erstaunt die Brauen. „Zwanzig?“ fragte er voller Verwunderung. Doch statt eine Antwort zu geben rieb sich Bonjol nur genüsslich über seinen prallen Bauch und nickte zufrieden. Norem lächelte und stieg dann mit schlürfenden Schritten die ächzende Holztreppe empor, in Richtung seines Zimmers. Es war spät geworden, wie immer bei solchen Anlässen. Einige Nachbarn und Freunde waren gekommen um einen der letzten schönen Abende des vergehenden Sommers zu genießen. Fast alle hatten verschiedene Leckereien mitgebracht und so mit wenig Aufwand dafür gesorgt, dass eine reich gedeckte Tafel mit allen nur erdenklichen Speisen und Getränken bereitstand. Sie hatten einander viel zu erzählen. Über den vergangenen Sommer und die bevorstehende Ernte des Peor. Aber auch scheinbar belanglose Dinge, wie die Hochzeit des Bauern „Riespaldin“, der mit seinen 37 Jahren endlich eine Frau gefunden hatte, die es duldete, dass er seine Schweine im Haus umherlaufen ließ, fanden Eingang in die Gespräche und sorgten für schallendes Gelächter und eine angenehme Atmosphäre.
Satt und müde ließ sich Norem auf das weiche und nach frischem Peoröl duftende Bett sinken. Durch dass offene Fenster strömte angenehm kühle Luft aus dem nahen Wald herein. In dem von der Sonne ausgetrockneten Gras vor dem Haus zirpten Heerscharen von Grillen und ab und zu bellte ein Hund in der Ferne. Der Tag war anstrengend und hatte dem alten Mann viel abverlangt. So schlief er nun einfach ein und schaffte es nicht einmal sich seiner schweren Stiefel zu entledigen.
Tief in der Nacht gab es ein lautes Poltern im Zimmer, gefolgt von einem metallischen Klimpern. Norem wurde aus dem Schlaf gerissen und schnellte im Bett empor. Die Gardinen flatterten heftig, das offene Fenster schwang quietschend ständig auf und zu und Regentropfen prasselten geräuschvoll auf den Holzboden. Ein heftiges Gewitter war aufgezogen und der Wind hatte die alte Kiepe umgeworfen, die Norem auf den Tisch neben dem Fenster abgestellt hatte. Ihr gesamter Inhalt hatte sich auf dem Boden verteilt. Die Spiegelsilberdose wurde herausgeschleudert und rollte quer durch den Raum, um schließlich direkt vor der Tür liegen zu bleiben. Erschrocken eilte der alte Mann zum Fenster und nur mit viel Anstrengung konnte er gegen den Gewittersturm ankämpfen und es verschließen. Sofort wurde es ruhiger im Zimmer und man hörte jetzt nur noch den Regen gegen die Scheiben prasseln. Noch ein wenig schlaftrunken sah sich Norem um und bemerkte erst jetzt, dass er inmitten seiner gesammelten Früchte, Pilze und Kräuter stand. Ärgerlich ließ er sich auf die Knie sinken und sammelte alles wieder ein. Einige der empfindlichen Früchte waren platt getreten und er würde diese wohl nicht mehr verwenden können. Beim Aufstehen fiel sein Blick auf die funkelnde Dose am anderen Ende des Raumes. „An dich habe ich ja gar nicht mehr gedacht“ murmelte er. Seine Mine erhellte sich wieder, als er den schweren Gegenstand aufhob und sich damit auf das Bett setzte. Norem hatte sich das Öffnen der Dose bewusst für den Abend aufgespart und es dann schlichtweg vergessen. Erwartungsvoll schraubte er nun den mit einem Schmiedehammer verzierten Deckel ab. Im Inneren der Dose verbarg sich ein Gegenstand, der zum Schutz in ein rotes Stofftuch eingeschlagen war. Behutsam drehte er die Dose mit der Öffnung nach unten, sodass der Gegenstand direkt in seinen Schoß fiel. Erwartungsvoll wickelte der alte Mann das Tuch ab, was ihm aber nicht gleich gelingen wollte. Es war ein großes Tuch, das in mehreren Lagen um den Gegenstand gewickelt war. Nach mühevoller Arbeit kam schließlich eine alte, recht einfach gearbeitete Schriftrolle zum Vorschein. Jetzt war das Interesse des weisen Mannes geweckt und hastig öffnete er die Rolle um deren Inhalt zu lesen. Norem wickelte das um einen dünnen Holzstab gewickelte Pergament ab und starrte auf einen kurzen Text. Er konnte diesen jedoch nicht entziffern und schrieb dies dem spärlichen Licht zu, das vom Tisch aus kaum bis zu ihm herüberreichte. Also stand er auf und machte einige Schritte zum Tisch, worauf noch immer die letzten Reste eines Windlichtes brannten. Hier würde er genügend Helligkeit finden, um die Botschaft lesen zu können. Norem setzte sich und versuchte sein Glück erneut, doch nun sah er den eigentlichen Grund für das vermeintliche Versagen seiner Augen. Das Schriftstück war in einer ihm fremden und unverständlichen Sprache geschrieben. Enttäuscht lehnte er sich zurück. Er starrte aus dem Fenster, auf dem noch immer Regentropfen tanzten. Ab und zu erhellte ein Blitz den schwarzen Nachthimmel und Norem konnte in einiger Entfernung die mit dem Gewittersturm kämpfenden Bäume des Eiswaldes sehen. Der Donner grollte laut und mächtig, doch folgte er den Blitzen erst in einigem Abstand. Das Gewitter war bereits am Abklingen und würde bald ganz vorüber sein.
Entschlossen betrachtete Norem nun die Schrift noch einmal, doch es schien aussichtslos. So sehr er seinen Verstand auch mühte, dem Schriftgelehrten wollte einfach keine Eingebung kommen. Er stand auf und lief rastlos im Zimmer auf und ab. In Gedanken durchforstete er Lehrschriften und Bücher, versuchte sich an ähnlich klingende Worte fremder Sprachen zu erinnern. Wieder und wieder las er die Worte und sprach sie laut vor sich hin, doch alles war vergebens. In jener Nacht sollte Norem dem alten Pergament, das Jahre, vielleicht Jahrhunderte unentdeckt geblieben war, sein Geheimnis nicht entlocken.
Enttäuscht legte er sich zurück auf das einladend wirkende Bett. Mittlerweile hatte er sich seiner Kleidung entledigt und sich an der einfachen Blechschüssel auf dem Tisch ein wenig gesäubert. Nun lag der alte Mann mit offenen Augen im Bett und starrte die Decke an, die er im Dunkel des Zimmers nur verschwommen sehen konnte. Seine Gedanken kreisten noch immer um die alte Schrift. Was hatte es damit auf sich? In welcher Sprache war sie geschrieben? Wer hat sie verfasst und warum blieb sie so lange Zeit unentdeckt an diesem seltsamen Ort tief im Wald? Fragen über Fragen wirbelten durch Norem’s Kopf und machten es ihm unmöglich in den Schlaf zu finden. So lag er, bis die Morgensonne ihre ersten zarten Strahlen über die nebelverhangenen Wipfel des Eiswaldes sandte und einen neuen Tag ankündigte.
Mit einem lauten, trockenen Knacken brach ein von der Sommersonne ausgedörrter Ast unter Norems schwerem Lederstiefel. Von dem plötzlichen Geräusch, das die friedliche Stille des Waldes so unerwartet durchdrang, wurde ein Rehbock aufgeschreckt, der sich im Astgewirr eines Hagebuttenstrauches versteckt gehalten hatte.
Mit langen Sätzen stob das Tier durch den grünen Teppich aus Farnen, Fingerhut, wilden Brombeersträuchern und jungen Eichen davon. Schon nach wenigen Sätzen konnte man nur noch erahnen wohin es gelaufen war. Einzig die auf dem mit endlos vielen Sonnentupfen übersäten Waldboden tanzenden Pflanzen ließen die Richtung seiner Flucht erahnen.
Norem hatte im Schrecken innegehalten und stand noch immer regungslos in halb gebückter Haltung da. Nun richtete er sich langsam wieder auf und stemmte zur Unterstützung seines vom Alter geschwächten Rückens die Hand in die Hüfte. „Ach du alter Narr“ schollt er sich selbst. „Nun wandelst du schon seit so unermesslich langer Zeit unter der Weltensonne, nutzt jede erdenkliche Gelegenheit um in den Wäldern deine Kräuterküche mit Nachschub zu versorgen, kennst bald jeden Stein hier draußen und doch störst du den Frieden der Natur. Doch wenigstens war es nur ein Rehbock den du aufgescheucht hast und kein wilder Eber oder gar ein Bär“.
Nun hatte sich der alte Hofweise vollständig aufgerichtet. Ächzend ließ er seine schwere Kiepe vom Rücken gleiten und stellte sie auf dem weichen Boden des lichten Waldes aus uralten Eichen und Buchen ab. Aus der Tasche seines langen, dunkelblauen Umhanges zog er ein knittriges Stofftuch, womit er sich den Schweiß aus dem faltigen Gesicht wischte. Danach zupfte er noch einige Blätter und Aststückchen aus seinem langen weißen Bart und strich ihn wieder glatt. Er reckte sich, um seine müden Glieder zu entspannen, schaute nach oben und sah durch das grüne Blätterdach die Spätsommersonne blitzen. Mit einem tiefen Atemzug sog er die frische Waldluft genüsslich ein. Sie roch nach Pilzen und Holz und sie trug Wohlbefinden in den Körper des alten Mannes. Als sein Blick wieder nach unten glitt, spähte er noch einmal in die Richtung, in die der Rehbock gelaufen war. Norem überlegte kurz und stellte dann fest, dass er heute ungewöhnlich tief in den Wald gegangen war.
In einiger Entfernung meinte er einen großen, dunklen Schatten hinter einigen mächtigen Eichen ausgemacht zu haben, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war.
Norem war schon seit Stunden unterwegs. Mit gebücktem Rücken und nach unten gerichtetem Blick war er durch den Wald gelaufen und hatte Kräuter, Pilze und Beeren gesammelt. Er war einer der drei Hofweisen am Hofe des großen Reigolkönigs Bul da Sim, im Lande Reigolpeor. Hier beschäftigte er sich hauptsächlich mit alten Sprachen und Schriften, aber auch mit der Kräuterheilkunde, was ihn immer wieder zu einsamen und oftmals Tage währenden Wanderungen durch die westlichen Ausläufer des Eiswaldes veranlasste. Hier, ganz im Osten des Reiches hatte er viele Freunde und Bekannte, die ihm immer wieder bereitwillig ein Quartier für die Nacht anboten. Die meisten der in kleinen Dörfern lebenden Familien kannte er seit langen Jahren und es verband sie eine gemeinsame Vergangenheit.
Geboren wurde Norem nicht als Reigol sondern als Modalun. Dieses Volk, das große Leistungen in der Architektur und Kultur vorzuweisen hatte, lebte ursprünglich in den Gebieten des zentralen Eiswaldes und in den fruchtbaren Ebenen westlich davon. Durch die Eroberungskriege des Reigolkönigs Bul Paron Dagodil, dem Vorgänger des heutigen Königs Bul da Sim, fiel das Reich der Modalun und wurde dem der Reigol einverleibt. So gelangte Norem als Weiser an den Hof der Reigolkönige, wo er seit Jahrzehnten lebt. Er gilt heute als einflussreichster Berater des Königs in politischen Dingen und stand ihm auch schon als Heeresführer zu Diensten. Doch seine Ursprünge hat Norem nie vergessen und immer wieder zieht es ihn in seine alte Heimat. Hier kennt jeder den freundlichen alten Mann mit den flinken Augen, der großen roten Nase und den buschigen Brauen und er ist überall ein gern gesehener Gast und willkommener Gesprächspartner.
Norem bückte sich und griff nach dem Trageriemen seiner Kiepe. Mit einem leisen Stöhnen hob er den schweren Weidenkorb an und hievte ihn auf seinen Rücken. Er war schon mehr als zur Hälfte gefüllt und würde genügend Vorräte für die nächsten Wochen liefern, um daraus Salben, Tinkturen und allerlei heilende Gebräue herzustellen. Neugierig spähte er erneut in die Richtung des dunklen Schattens hinter den Eichen. Noch immer war dort etwas zu sehen, doch was es war erkannte er nicht. Aus dem Stand der Sonne schloss der weise Mann, dass es früher Nachmittag sein musste und es noch für Stunden hell sein würde. Also beschloss er dem geheimnisvollen Schatten dort hinter den Bäumen auf den Grund zu gehen. Noch einmal rückte er die Kiepe auf dem Rücken gerade, zog seinen langen Stecken aus der Erde und dann lief er los. Über ihm sangen Vögel in den Bäumen und hunderte von Insekten erfüllen die Luft mit einem leisen Sirren. Je näher Norem dem seltsamen Schatten kam, desto mehr konnte er sehen. Bald meinte er Steine und den Teil einer verfallenen Mauer zu erkennen, doch noch war er nicht dicht genug herangekommen um dies mit Bestimmtheit sagen zu können. So lief er weiter und sein Weg führte ihn durch eine kleine Senke. Hier war hinter einigen Sträuchern der weiche Boden aufgewühlt. „Wildschweine“ dachte Norem beiläufig und achtete nicht weiter darauf, was recht ungewöhnlich für ihn war, denn normalerweise pflegte er stets an solchen Orten Halt zu machen und sich an den einfachen Dingen der Natur zu erfreuen.
Der Weg führt langsam wieder aufwärts, geradewegs aus der Senke hinaus. Nun war Norem schon sehr dicht bei dem Schatten und als er wieder ebenen Boden unter den Füßen hatte, stand er schließlich direkt davor.
Er hatte sich nicht getäuscht. Es waren tatsächlich Steine die er aus der Ferne gesehen hatte. Grob behauene, gelbliche Sandsteine, die mit Moosen und Flechten überzogen waren. Darüber wuchs ein dichter Teppich aus langarmig rankendem Efeu. Er blickte an der überwucherten Mauer empor und konnte erkennen, dass die Steine einen runden Turm bildeten, der in etwa fünf Metern Höhe abrupt endete. Ab da gab es nur noch gezackte Teilstücke der ursprünglichen Außenmauer, die trostlos in die Höhe ragten. Norem blickte sich um und sah ringsum auf dem Boden die zahllosen, von Pflanzen bedeckten Steine des eingefallenen Gemäuers, Teile uralter Holzbalken, Bruchstücke von Tongefäßen und die vermoderten Überreste in Leder eingeschlagener Bücher.
Er lief ratlos umher und drehte mit seinem Stecken einige der Tonscherben und Buchrücken um. Doch so sehr er sich auch mühte, konnte er den verstreut liegenden Gegenständen nichts Bedeutungsvolles entlocken. Schließlich blickte er wieder auf und wand sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sich wieder einige Meter von dem verfallenen Gemäuer entfernt hatte. Vielleicht würde er im Inneren des alten Turmes etwas Lohnendes entdecken dachte er und erneut lief er in Richtung des bewachsenen Mauerwerkes. Er umrundete den Turm auf der Suche nach dem Zugang, doch fand er sich alsbald wieder an der Stelle von der aus er losgelaufen war. Norem stutzte und schickte sich an eine zweite Runde zu gehen, bei der er genauer würde hinschauen müssen. Er lief diesmal dichter bei der Mauer und ließ die linke Hand über die Steine gleiten. So würde er den Zugang ganz sicher entdecken. Bald wurde der Boden unter seinen Füßen weicher und das Rascheln der Pflanzen hörte sich satter an. Er stand auf dem Wurzelstock des Efeus der den ganzen Turm umrankte. Er hielt inne, tat einen Schritt nach vorn und stand jetzt neben den Hauptästen der sich empor windenden Pflanze. Mit seinem Stecken durchstach er das dichte Blättergewirr. Er tastete einige Sekunden blind umher und fand schließlich was er suchte. Hinter der grünen Blätterwand waren keine Steine. „Ja, das muss es sein“ murmelte er. Er hatte den Eingang gefunden. „Und von allen Flecken dieser Mauer muss der Efeu ausgerechnet an dieser nach oben wachsen“ Norem ärgerte sich, dass der Eingang zum Turm zugewachsen war und er nicht einfach hineinspazieren konnte.
Um sich besser bewegen zu können, ließ er erneut seine alte Kiepe vom Rücke gleiten und lehnet sie gegen die Mauer. Dann griff er in die Tasche seines Umhangs, zog wieder das zerknautschte Stofftuch hervor und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Schließlich löste er noch eine kleine Lederflasche von seinem Gürtel und erfrischte sich mit einem kräftigen Schluck kalten Wassers. „Nun dann, es wird wohl nicht anders gehen als mittendurch“ murmelte er. Der alte Mann hob seinen Stecken empor und hielt ihn schützend vor sich. Langsam drückte er damit die kräftigen Äste des Efeus beiseite und versuchte sich durch den entstandenen Spalt zu quetschen.
Im Halbdunkel sah er eine vermoderte Holztür mit verrosteten Beschlägen, die halb aus den Angeln gefallen war und nur noch von dem sie überwuchernden Efeu aufrecht gehalten wurde. Norem schob seinen Körper immer weiter hinein in die Enge des Pflanzengewirrs. Sein langer Bart und sein ebenso langes, schneeweißes Haar verfingen sich zwischen dünnen Zweigen und der Schatten spendende Strohhut drohte ihm vom Kopf zu rutschen. Stöhnend und leise fluchend kämpfte sich der alte Mann weiter und schließlich gelangte er ins Innere des Turmes. Drinnen angekommen fand er sich zunächst in völliger Dunkelheit wieder. Er nutzte die Zeit die seine Augen brauchten um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, um sich erneut Blätter und Zweige aus Bart und Haaren zu zupfen.
Langsam begann das Licht zurückzukehren und Norem wurde gewahr wo er sich befand. Das Innere des verfallenen Turmes sah nicht besser aus als das was man von außen sehen konnte. Modrige Balken hingen von der eingestürzten Decke herab, der Boden war mit fauligem Laub bedeckt, die Wände hatten einen nassen Glanz und waren über und über mit Moos bewachsen. Von den Kanten des Mauerwerks in luftiger Höhe hingen blattlose und offenkundig abgestorbene Zweige des Efeus, die bis fast auf den Boden reichten. Norem sah sich in alle Richtungen um und stellte fest, dass der Turm einst weit mehr Platz geboten haben musste, als es von außen den Anschein hat. Es gab sogar eine Treppe, die in ein zweites Stockwerk empor führte. Doch diese war so zerfallen, dass man sie nicht mehr nutzten konnte und auch von der zweiten Etage war kaum mehr übrig als die fauligen Deckenbalken. Es war stickig, die Luft roch alt und verbraucht und es herrschte eine seltsame Stille. Kein Vogelzwitschern und kein Fliegensummen drang hier herein. Norem konnte sein Herz schlagen hören und sonst gar nichts. An den Wänden standen eingefallene Bücherregale mit den gleichen ledergebundenen Folianten wie sie draußen überall verstreut lagen. Er nahm einige und schlug sie auf, doch die meisten Seiten waren längst verfault oder enthielten keine Buchstaben mehr. Mit vorsichtigen Schritten ging er geradewegs durch den Turm. Etwa in der Mitte standen die Überreste eines schweren Holztisches. Davor konnte man einen Stuhl erkennen, der von einem herabgestürzten Deckenbalken zertrümmert wurde. Der Tisch war beinahe leer. Ein altes Tintenfass, ein paar von Schimmel zerfressene Schreibfedern sowie einige löchrige Pergamente waren alles was dort zu finden war. Norem ging weiter, geradewegs in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Dort fiel durch eine kleine Öffnung ein wenig Licht ins Innere. Durch die davor befindlichen Blätter wirkte das Licht grün. Direkt unter der kleinen Fensteröffnung stand an der Wand eine alte Holztruhe mit eingefallenem Deckel. Die Beschläge der Truhe waren rostig und von der einst prächtigen Bemalung waren nur noch einige Farbfetzen geblieben. Die Truhe war mit einem großen Eisenschloss versperrt. Angesichts des eingefallenen Truhendeckels wirkte das riesige Schloss fast schon lächerlich. Norem lehnte seinen Stecken an die Wand und ließ sich vor der Truhe auf die Knie sinken. Sorgfältig räumte er die Bruchstücke des Deckels aus dem Truheninneren und verschaffte sich auf diese Weise Zugang. Er konnte kaum etwas sehen denn die Reste des Deckels warfen ihren dunklen Schatten in die Truhe. „Licht“ sagte er. „Ich brauche Licht. Aber woher…natürlich die Kerzen in der Kiepe, die mir der alte Bauer Bonjol gestern geschenkt hat. Die Kiepe, wo ist denn nur ahh verdammt. Sie steht draußen vor dem Turm. Du alter Narr, wo hast du nur deine Gedanken. Vermutlich liegt es an dem Brombeerwein, den du gestern mit Bonjol getrunken hast. Ein wahrhaft köstlicher Tropfen den sein Weib da gemacht hat, aber zuviel davon und es bleibt ein Wenig mehr als nur guter Geschmack auf der Zunge.“ So gab Norem dem Wein die Schuld daran dass er heute ein wenig vergesslich war, doch half ihm dass in dieser Situation nicht weiter. Er schob seine schlanken Hände tief in die Taschen seines Umhangs und tastete nach Zündhölzern. Doch außer vertrockneten Blättern, einigen Münzen und natürlich seinem knittrigen Stofftuch fand sich darin nichts. Norem seufzte tief und langte schließlich ohne Licht in die Truhe hinein. Ihm war ein wenig unbehaglich dabei, wusste er doch um die zahlreichen Spinnenarten die solche Behausungen liebten, von denen er selbst aber nur wenig angetan war. Kaum hatte er den Gedanken ersonnen, spürte er auch schon wie Spinnweben über seine nackte Hand strichen. Erschrocken zog er seinen Arm zurück und mit einer hektischen Bewegung strich er sich die Weben von der Hand. Er atmete tief durch und war gleichermaßen erschrocken und verärgert über seine Reaktion. Fest entschlossen sich nicht noch einmal von den Seidenfäden eines kleinen Krabbeltieres erschrecken zu lassen schob er den weit geschnittenen Ärmel seines Umhanges nach oben und langte mit dem nackten Arm tief in die Truhe hinein. Wieder spürte er, wie die Weben sich über den Handrücken und Unterarm verteilten. Seinen Fingern boten sie weit mehr Widerstand als er zunächst glaubte. Doch unbeirrt tastete er sich voran. Bald stieß er auf etwas sehr weiches, das feucht und leicht schmierig war. „Das muss der Boden sein“ dachte er. „Er ist genau so feucht und schimmelig wie alles andere in diesem verfallenen Gemäuer“. Norem achtete nicht weiter auf die klebrigen Reste der Samtverkleidung, die sich vom Boden löste und an seinen Fingern haften blieb. Er tastete weiter, doch er fand nichts außer kleinen Holzsplittern vom einstigen Truhendeckel und einigen Reißnägeln mit denen die Verkleidung vor langer Zeit befestigt wurde. „Irgend etwas muss sich doch hier finden lassen“ murmelte er und beugte seinen Oberkörper tief nach unten, sodass er mit seinem Arm noch ein weiteres Stück in die Truhe vordringen konnte. Sein Gesicht war jetzt ganz nahe am Truhenrand und mit dem Kinn berührte er das faulig kalte Holz. Ein großer Schwall modriger Luft stieg ihm in die Nase und nahm ihm fast den Atem. Da endlich konnte er im hintersten Winkel der Truhe etwas fühlen. Ja, da lag etwas, dessen war er sich ganz sicher. Es schien rund und hart zu sein, hatte dabei aber eine weiche, glitschige Oberfläche. Nach einem kurzen Moment des Zögerns packte er beherzt zu und umschloss das Fundstück. Als er den Arm wieder herauszog, spürte er wie sich zahlreiche Spinnweben von der Oberfläche des Objektes lösten und dann schlaff nach unten hingen. Jetzt konnte er sich wieder aufrichten und endlich dem Geruch entkommen der aus der Truhe entwich. Behutsam und ganz langsam schob er nun auch seine zweite Hand in die Truhe und umfasste damit den schweren Gegenstand. Nun hob er ihn über den Truhenrand und konnte zum ersten Mal sehen, was er in den Händen hielt. Etwas recht großes, dass zum Schutz in ein dickes Stück Leder eingeschlagen war. Das Leder war alt, genauso feucht wie alles andere hier und an einigen Stellen konnte man wuchernden Schimmel sehen. Das faulige Lederstück stank fürchterlich und nun wusste Norem auch was die Ursache des üblen Geruches war. Er legte den Gegenstand vor sich auf den Boden, wischte die schmutzigen Hände hastig an seinem Umhang ab und blieb dann einige Augenblicke reglos sitzen. Tief in Gedanken versunken starrte er auf die vor ihm liegende eingeschlagene Rolle. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung und stand mühsam, mit einem leisten Ächzen auf. Er griff nach seinem Stecken, der noch immer an der Wand lehnte und begann damit die lederne Ummantelung des Gegenstandes zur Seite zu schieben. Darunter kam eine silbrig schimmernde, mit zahlreichen Gravuren verzierte Dose zum Vorschein. Von der Neugier gepackt schlug er eilig das ganze Leder beiseite und betrachtete nun voller Bewunderung die vor ihm liegende Dose. „Sie ist makellos. Die ewige Nässe hier drinnen hat ihr nichts anhaben können.“ murmelte er. Das wenige Licht das durch die winzige Fensteröffnung fiel reichte aus, die silberne Dose zum Strahlen zu bringen. Von ihrer Schönheit fasziniert ließ sich der weise Mann erneut auf die Knie fallen und bemerkte dabei gar nicht den sonst üblichen Schmerz im Rücken. Seine Gedanken hatten keinen Platz für Schmerz. Achtlos ließ er seinen Stecken los, der erst polternd über die alte Truhe und schließlich mit einem satten Schmatzen auf den matschigen Boden fiel. Mit beiden Händen hob er die Dose nun behutsam empor um die kunstvollen Gravuren näher betrachten zu können. Da waren schroffe Berge zu sehen und Männer die mit Hämmern und allerlei Werkzeugen unter Tage gingen. Andere fuhren schwer beladene Wagen aus dem Gebirge hinaus. Wieder Andere brachten riesige, von Pferden gezogene Karren in langen Karawanen von den Bergen in prächtige Städte, die mit Türmen und kunstvollen Bauwerken ausgestattet waren. Geleitet wurden die Transporte von stolzen Soldaten in schimmernden Rüstungen, die auf edlen Pferden ritten und einen erhabenen Anblick boten. Neugierig drehte Norem die Dose und sah, dass die Figuren dort noch mehr zu erzählen hatten. Aus den prächtigen Städten heraus wurden die eskortierten Transporte zu riesigen Hafenanlagen gebracht. Dort gab es zahlreiche Schiffe, die einen ebenso erhabenen und stolzen Anblick boten wie alle anderen Darstellungen. Die Schiffe wurden schließlich beladen und segelten allesamt nach Süden. Am unteren Rand der Dose lugte gerade noch ein Segel hervor, dann endete die Geschichte und fing erneut mit den scharfkantigen Felsen an.
„Spiegelsilber“ murmelte Norem. Er hielt eine kostbare Dose aus hochreinem Spiegelsilber in den Händen. Spiegelsilber ist ein edles und vielseitig verwendbares Metall, das ausschließlich in den Spiegelschroffen vorkommt, einem trotzigen Hochgebirge im Lande Talun, dem nördlichsten aller Länder. Dort leben die Bolan, ein Volk von Bergmännern und Silberschmieden. Die Bolan sind ein stolzes Volk mit vielen Traditionen, Bräuchen und einer langen, ereignisreichen Vergangenheit. Seit Jahrhunderten schon gehen sie in die Berge der Spiegelschroffen und schlagen dort das Silber aus dem Gestein. Die besten Schmiede überhaupt verarbeiten den edlen Rohstoff dann zu unermesslich wertvollem Schmuck, zu Waffen oder zu teuren Alltagsgegenständen. Auf Schiffen bringen die Bolan diese Waren in die südlichen Länder und verkaufen sie dort gewinnbringend.
Die Dose in Norems Händen muss vor langer Zeit auf genau diesem Wege hierher gekommen sein. Der Schmied der sie schuf hat auf ihr den langen Weg des Silbers von den Felsen der Spiegelschroffen, bis hin zum Transport der fertigen Waren in den Süden dargestellt. Die prächtigen Abbildungen der Städte waren dabei keineswegs übertrieben. Die kunstvolle Architektur in Talun gilt als einzigartig und es heißt, dass Fremde die zum ersten Mal in eine Bolanstadt gelangen, im Angesicht der überwältigenden Schönheit regungslos verweilen und ihre kühnsten Erwartungen noch weit übertroffen werden.
„Ein wahres Meisterstück der Taluner Handwerkskunst“ sagte Norem, der seinen Blick noch immer nicht von den funkelnden Gravuren lösen konnte. Nach einigen Sekunden aber holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Er spürte ein steigendes Unbehagen in dem alten Gemäuer und ein Gefühl sagte ihm, dass es außer der Dose hier nichts anderes zu entdecken gab. So nahm er seinen Stecken wieder auf, klemmte die Dose unter den Arm und eilte zum Ausgang. Die Beklemmung die sich seiner bemächtigt hatte wurde stärker und so schob er sich hastig durch das dichte Efeugeäst. Wieder verfingen sich Blätter in Bart und Haaren und beinahe panisch drängte Norem nun dem Licht entgegen. Ein letzter Schritt noch vorbei am dicksten Ast und er war draußen. Sobald er den ersten Atemzug der frischen Waldluft tief in sich hinein gesogen hatte und wieder das vertraute Singen der Vögel vernahm, löste sich das seltsame Unwohlsein auf und Norem musste sogar darüber lächeln. Wieder nahm er seine Trinkflasche vom Gürtel und trank einen kräftigen Schluck. Das Wasser war noch immer frisch und löschte den Durst des Wanderers, doch gleichzeitig nährte es sein Verlangen nach dem köstlichen Brombeerwein von Bauer Bonjol’s Weib. Dazu gesellte sich der Appetit nach frisch Gebratenem, eingelegtem Obst und süßem Kuchen. „Welch Glück, dass du dich hast überreden lassen noch eine weitere Nacht bei Bonjol zu verbringen“ sagte Norem in vergnügtem Ton. In freudiger Erwartung auf einen geselligen Abend unter Freunden verstaute er seinen Fund in der Kiepe, schulterte diese und machte sich dann frohen Mutes auf den langen Weg zurück zu Bauer Bonjol.
„Gute Nacht Bonjol mein alter Freund“ sagte Norem zu dem kleinen Mann mit der großen Nase und dem dicken Bauch, der gähnend die letzten Gläser vom Tisch räumte und sich dabei müde die Augen rieb. „Gute Nacht“ entgegnete dieser „und wage es nicht wieder, dich heimlich vor dem Frühstück aus dem Haus zu stehlen. Beim letzten Mal musste ich die zwanzig Honig-pfannkuchen ganz allein verputzen die Silda nur deinetwegen gebacken hat.“ Norem hob erstaunt die Brauen. „Zwanzig?“ fragte er voller Verwunderung. Doch statt eine Antwort zu geben rieb sich Bonjol nur genüsslich über seinen prallen Bauch und nickte zufrieden. Norem lächelte und stieg dann mit schlürfenden Schritten die ächzende Holztreppe empor, in Richtung seines Zimmers. Es war spät geworden, wie immer bei solchen Anlässen. Einige Nachbarn und Freunde waren gekommen um einen der letzten schönen Abende des vergehenden Sommers zu genießen. Fast alle hatten verschiedene Leckereien mitgebracht und so mit wenig Aufwand dafür gesorgt, dass eine reich gedeckte Tafel mit allen nur erdenklichen Speisen und Getränken bereitstand. Sie hatten einander viel zu erzählen. Über den vergangenen Sommer und die bevorstehende Ernte des Peor. Aber auch scheinbar belanglose Dinge, wie die Hochzeit des Bauern „Riespaldin“, der mit seinen 37 Jahren endlich eine Frau gefunden hatte, die es duldete, dass er seine Schweine im Haus umherlaufen ließ, fanden Eingang in die Gespräche und sorgten für schallendes Gelächter und eine angenehme Atmosphäre.
Satt und müde ließ sich Norem auf das weiche und nach frischem Peoröl duftende Bett sinken. Durch dass offene Fenster strömte angenehm kühle Luft aus dem nahen Wald herein. In dem von der Sonne ausgetrockneten Gras vor dem Haus zirpten Heerscharen von Grillen und ab und zu bellte ein Hund in der Ferne. Der Tag war anstrengend und hatte dem alten Mann viel abverlangt. So schlief er nun einfach ein und schaffte es nicht einmal sich seiner schweren Stiefel zu entledigen.
Tief in der Nacht gab es ein lautes Poltern im Zimmer, gefolgt von einem metallischen Klimpern. Norem wurde aus dem Schlaf gerissen und schnellte im Bett empor. Die Gardinen flatterten heftig, das offene Fenster schwang quietschend ständig auf und zu und Regentropfen prasselten geräuschvoll auf den Holzboden. Ein heftiges Gewitter war aufgezogen und der Wind hatte die alte Kiepe umgeworfen, die Norem auf den Tisch neben dem Fenster abgestellt hatte. Ihr gesamter Inhalt hatte sich auf dem Boden verteilt. Die Spiegelsilberdose wurde herausgeschleudert und rollte quer durch den Raum, um schließlich direkt vor der Tür liegen zu bleiben. Erschrocken eilte der alte Mann zum Fenster und nur mit viel Anstrengung konnte er gegen den Gewittersturm ankämpfen und es verschließen. Sofort wurde es ruhiger im Zimmer und man hörte jetzt nur noch den Regen gegen die Scheiben prasseln. Noch ein wenig schlaftrunken sah sich Norem um und bemerkte erst jetzt, dass er inmitten seiner gesammelten Früchte, Pilze und Kräuter stand. Ärgerlich ließ er sich auf die Knie sinken und sammelte alles wieder ein. Einige der empfindlichen Früchte waren platt getreten und er würde diese wohl nicht mehr verwenden können. Beim Aufstehen fiel sein Blick auf die funkelnde Dose am anderen Ende des Raumes. „An dich habe ich ja gar nicht mehr gedacht“ murmelte er. Seine Mine erhellte sich wieder, als er den schweren Gegenstand aufhob und sich damit auf das Bett setzte. Norem hatte sich das Öffnen der Dose bewusst für den Abend aufgespart und es dann schlichtweg vergessen. Erwartungsvoll schraubte er nun den mit einem Schmiedehammer verzierten Deckel ab. Im Inneren der Dose verbarg sich ein Gegenstand, der zum Schutz in ein rotes Stofftuch eingeschlagen war. Behutsam drehte er die Dose mit der Öffnung nach unten, sodass der Gegenstand direkt in seinen Schoß fiel. Erwartungsvoll wickelte der alte Mann das Tuch ab, was ihm aber nicht gleich gelingen wollte. Es war ein großes Tuch, das in mehreren Lagen um den Gegenstand gewickelt war. Nach mühevoller Arbeit kam schließlich eine alte, recht einfach gearbeitete Schriftrolle zum Vorschein. Jetzt war das Interesse des weisen Mannes geweckt und hastig öffnete er die Rolle um deren Inhalt zu lesen. Norem wickelte das um einen dünnen Holzstab gewickelte Pergament ab und starrte auf einen kurzen Text. Er konnte diesen jedoch nicht entziffern und schrieb dies dem spärlichen Licht zu, das vom Tisch aus kaum bis zu ihm herüberreichte. Also stand er auf und machte einige Schritte zum Tisch, worauf noch immer die letzten Reste eines Windlichtes brannten. Hier würde er genügend Helligkeit finden, um die Botschaft lesen zu können. Norem setzte sich und versuchte sein Glück erneut, doch nun sah er den eigentlichen Grund für das vermeintliche Versagen seiner Augen. Das Schriftstück war in einer ihm fremden und unverständlichen Sprache geschrieben. Enttäuscht lehnte er sich zurück. Er starrte aus dem Fenster, auf dem noch immer Regentropfen tanzten. Ab und zu erhellte ein Blitz den schwarzen Nachthimmel und Norem konnte in einiger Entfernung die mit dem Gewittersturm kämpfenden Bäume des Eiswaldes sehen. Der Donner grollte laut und mächtig, doch folgte er den Blitzen erst in einigem Abstand. Das Gewitter war bereits am Abklingen und würde bald ganz vorüber sein.
Entschlossen betrachtete Norem nun die Schrift noch einmal, doch es schien aussichtslos. So sehr er seinen Verstand auch mühte, dem Schriftgelehrten wollte einfach keine Eingebung kommen. Er stand auf und lief rastlos im Zimmer auf und ab. In Gedanken durchforstete er Lehrschriften und Bücher, versuchte sich an ähnlich klingende Worte fremder Sprachen zu erinnern. Wieder und wieder las er die Worte und sprach sie laut vor sich hin, doch alles war vergebens. In jener Nacht sollte Norem dem alten Pergament, das Jahre, vielleicht Jahrhunderte unentdeckt geblieben war, sein Geheimnis nicht entlocken.
Enttäuscht legte er sich zurück auf das einladend wirkende Bett. Mittlerweile hatte er sich seiner Kleidung entledigt und sich an der einfachen Blechschüssel auf dem Tisch ein wenig gesäubert. Nun lag der alte Mann mit offenen Augen im Bett und starrte die Decke an, die er im Dunkel des Zimmers nur verschwommen sehen konnte. Seine Gedanken kreisten noch immer um die alte Schrift. Was hatte es damit auf sich? In welcher Sprache war sie geschrieben? Wer hat sie verfasst und warum blieb sie so lange Zeit unentdeckt an diesem seltsamen Ort tief im Wald? Fragen über Fragen wirbelten durch Norem’s Kopf und machten es ihm unmöglich in den Schlaf zu finden. So lag er, bis die Morgensonne ihre ersten zarten Strahlen über die nebelverhangenen Wipfel des Eiswaldes sandte und einen neuen Tag ankündigte.