Nehmt euch doch nicht so wichtig!

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Wir sollten endlich aufhören, uns so wichtig zu nehmen.
Ja, du auch. Du!
Es gibt nun mal kein verbrieftes Recht darauf, aus dem Haus zu gehen, ohne dass dir eine Bombe auf den Kopf fällt.
In vielen, in den meisten Gegenden dieser Welt wissen es die Menschen noch zu schätzen, wenn sie abends unversehrt heimkommen oder wenn die Anzahl der Kinder, Freunde und Verwandten über Nacht konstant geblieben ist. Wenn niemand von einer Granate zerfetzt, von Kugeln zerschossen oder von Feuer verbrannt wurde, ist das für sie fast schon ein Wunder.
Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen!
Wir sollten überrascht sein, wenn unsere Wohnstätte, welche aus vier gemauerten Wänden und nicht aus windigen Zeltbahnen besteht, jeden Tag aufs Neue immer noch dasteht, weil niemand eine Rakete darauf abgefeuert hat.
Wir sollten nicht so zickig und so anspruchsvoll sein.
Wohl können wir uns auch mit dem feuchten Waschlappen durch den Intimbereich fahren, wenn es darum geht, Energie zu sparen und dem Feind eins auszuwischen. Muss man ja nicht frisch geduscht sein. Der saturierte Politiker, der uns das gesagt hat, hatte schon recht. Anderswo haben die Menschen noch nicht mal eine Dusche – Bescheidenheit, bitte!
Wenn man Losungen ausgibt wie: „Frieren für die Freiheit“, dürfen wir das nicht als Anmaßung oder Einschränkung empfinden, sondern sollten wir stolz sein, einen derart edelmütigen Beitrag leisten zu dürfen, indem wir in unseren Wohnzimmern frösteln.
Und wenn man uns ein Gewehr in die Hand drückt, und man sagt uns: „Schieß!“, dann schießen wir. Das Kommando lautet: Hass! Wer der Feind ist, wird man uns schon sagen.
Alles eine Frage der Einstellung.
Wo es bergab geht, ist das Leben halt eine spaßige Rutsche geworden und: Huiii…!
Kannst du dir nur noch das Mindeste leisten, bist du eben ein Pionier in Sachen Minimalismus, ein Vorbild.
Keine Kugel Eis für die Kinder spart nicht nur € 3 oder € 6 oder € 9 beim Besuch in der Innenstadt (je nachdem, wie viele Kinder man hat), du tust auch noch was für die Gesundheit der Jugend, wenn du die Kleinen vom Süßkram fernhältst.
Sind sie gleich fitter, wenn du sie später in den Krieg schickst, wo man auch ihnen ein Gewehr in die Hand drückt, um auf hassenswerte Feinde zu schießen und um beschossen zu werden. Du weißt ja: „Survival of the fittest“ hat nicht nur mit Glück zu tun.
Es hat schon alles seine Richtigkeit.
Für den Fall, es kommen deine Kinder verkrüppelt zurück aus dem Krieg, sei versichert, dass jeder, der sie als „Krüppel“ oder dergleichen zu bezeichnen versucht, wegen Diskriminierung und Hassrede belangt und verfolgt wird. Darum wird man sich kümmern.
Nur nicht verbittern, das wirkt so unsympathisch. Lächle, während du eine bittere Pille nach der anderen schluckst!
Wo du deinen Job verlierst oder deine Wohnung, denk immer dran: „Leben ist Veränderung“. Mit diesen Worten hat so ein Wohnkonzern tatsächlich mal die Mieter über den bevorstehenden Rauswurf informiert. Genial. Ist ein prima Motto für alles. Gutgelaunt in den Verzicht hineingehen - oder in die Obdachlosigkeit.
Probleme werden zur „Herausforderung“, und die kann man ja bekanntlich viel leichter meistern als man Probleme lösen müsste. Da bist DU „gefordert“ - steckt ja schon drin in dem Wort.
Gefordert bist du vor allem, dich selbst zu verkaufen.
Deine Zeit, deine Kraft, dein Hirnschmalz; je nachdem, wie du als menschliche Ressource so ausschaust und je nachdem, welche Ressource grad gefragt ist.
Nützlich sei!
Der Markt ist dein Meister, dein Yoda und allwissend, wenngleich oft sein verkehrt, was er sagen.
Sei nicht so undankbar!
Wenn du arm und elend bist, bist du es immerhin noch in einem reichen, demokratischen Land. Das heißt, dass du zumindest visuell teilhaben darfst an den Reichtümern um dich herum und dass sich die Politiker wenigstens noch fallweise die Mühe geben, dich zu belügen anstatt komplett über dich hinwegzusehen, während sie ihr Ding machen.
Die Villa von deinem Chef schau dir gut an, während du deine Kinder in deiner Wohnung stapelst, welche vielleicht noch nicht mal über ein Kinderzimmer verfügt. Wenn du weiterhin so fleißig bist, kann sich dein Chef bald noch so ein Schloss hinstellen. Ein Zweitwohnsitz am See vielleicht, dessen villengesäumtes Ufer du nur dann zu Gesicht bekommst, wenn dich der Chef zum Rasenmähen in seinen weitläufigen Garten abkommandiert.
Sei froh, wenn es dir nicht durchs Dach regnet, wenn deine Wände nicht schimmeln - und falls es doch so sein sollte, wisse, dass es immer auch schlimmer sein könnte. Deine Vorfahren hausten noch in zugigen Bretterverschlägen mit Plumpsklo, also was willst du Ansprüche haben.
Willst du dich vielleicht aufregen, wenn du dich in überfüllte Züge quetschen musst, die nur noch hie und da abfahren? Wenn die Infrastruktur bröckelt, wenn Bildung oder medizinische Versorgung nur noch notdürftige Gaben sind, die auch ausbleiben können? „Wie in einem Dritteweltland“, möchtest du sagen? Dann bist du vermutlich ein Rassist, weil du glaubst, du wärst was Besseres als ein Mensch, der in einem armen Land leben muss, und nimmst dich selbst viel zu wichtig.
Glaube nicht, dass dir irgendwas zusteht.
Man muss dieser verweichlichten Gesellschaft mal wieder Härte, Gehorsam und Genügsamkeit beibringen! Und Wertschätzung!
Wenn der Staat einen gewissen Geschmack am Krieg gefunden hat und schon überall Feinde sieht, wenn ein solcher Staat das Soziale streng zusammenkürzt, um auf der anderen Seite rekordmäßig aufzurüsten, sag gefälligst „Danke!“ dafür, dass man so gut auf deine Sicherheit schaut, die sich nun mal am lukrativsten in einem mächtigen Waffenarsenal ausdrückt.
Nichts stelle in Frage, was von oben kommt!
Noch ehe „Lockdown“ in der nächsten Verordnung drin steht, hast du deine Tür schon von innen verriegelt und hast den Arm freigemacht, lang bevor der nächste behelfsmäßige Impfstoff im Labor zusammengeschustert ist.
Und da der Atomkrieg kurz bevorsteht, fragen wir bloß noch, wo in der Wohnung wir uns am besten hinstellen sollen, wenn die A-Bombe auf uns niedergeht. („Wo man bei einer Atomexplosion Schutz suchen sollte“ - Artikel im Qualitätsblatt der Standard vom Jänner 2023, https://www.derstandard.at/story/20...z-suchen-sollte?ref=loginwall_articleredirect)
Spoiler: Am ehesten überlebt man die Atomexplosion (sofern man das möchte), wenn man sich in die Zimmerecke stellt, genauer: „in die der Explosion zugewandten Ecke“.
Jetzt weißt du das auch. Ins Eck mit dir!

Sich selbst als Menschheit nicht so wichtig nehmen, das ist der Punkt.
Sind wir halt weg von der Erde. Sie wird am Ende noch froh sein.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,
dein Text rast durch viele Themen und stellt steile Thesen auf. Man soll sich nicht so wichtig nehmen, zwinker, zwinker, Ironie. Ich verstehe natürlich, in Wahrheit soll man sich doch wichtig nehmen. Der Mensch kann ja gar nicht anders. Er hat einen Selbsterhaltungstrieb.

Ganz zentral beim Sich-Selbst-Wichtig-Nehmen ist, dass man über seine Prioritäten selbst entscheiden will. Was einem wichtig ist, will man nicht von anderen vorgesetzt bekommen. Dein Text zielt auf diesen Aspekt sehr pointiert ab. Und gleichzeitig will er vorgeben, was eigentlich gewollt werden soll.

Du rufst Andere auf, sich selbst wichtig zu nehmen. Aber andere Perspektiven nimmt der Text nicht wichtig. Bei diesem Punkt zum Beispiel:

Und wenn man uns ein Gewehr in die Hand drückt, und man sagt uns: „Schieß!“, dann schießen wir. Das Kommando lautet: Hass! Wer der Feind ist, wird man uns schon sagen.
Ich knüpfe mal an deine Ironie an und übersetzte:

Ja, Freund und Feind, alles beliebig - wenn man es mit dem nötigen Abstand betrachtet. Vielleicht, wenn es da eine fremde Armee gäbe, welche gerade die eigene Heimatstadt platt machen täte, eventuell wäre man dann etwas weniger objektiv. Vielleicht hätte man selbst ein gewisses Bauchgefühl, wer der Feind sein könnte. Vielleicht bäte man selbst um Gewehre für die eigene Armee, vielleicht sogar um Raketen. Vielleicht würde man nicht alle Hoffnungen nur auf die panzerbrechende Durchschlagskraft von Friedensappellen setzen.

Aber das wäre natürlich unreif. Wer zu nah an den Dingen dran ist, verliert schnell den Überblick. Wir hingegen machen moralisch keine Abstriche. Wir tun alles für den Frieden. Zum Beispiel vertrauen wir darauf, dass die zweite Konfliktpartei (Einseitige Schuldzuweisungen sind zu vermeiden!) eine gerechte Lösung anstrebt. Jeder muss für den Frieden die nötigen Opfer bringen. Wir hier können ja nichts dafür, dass es nicht Kaiserslautern ist, das auf dem Wunschzettel eines Imperiums steht.

Viele Grüße
lietzensee
 
Hallo lietzensee!

Wo Armeen Städte platt machen, die selbstredend immer irgendjemandes Heimatstadt waren, ist zuvor schon alles Erdenkliche schiefgegangen. Dieses Vorher klage ich an. In diesem Vorher sind wir, meine ich, grad mittendrin.
Später dann, ja, dann stehen sich fremde Menschen wieder als Feinde auf Leben und Tod gegenüber.
Andernorts stehen sie schon heute so, ich weiß.
Ich meine, es ist da wie dort ein einziges politisches Versagen.

Bis vor kurzem hatte ich noch gedacht, die Verantwortlichen hätten zumindest soweit aus der Geschichte gelernt, dass sie alles, wirklich alles in die Waagschale schmeißen, damit es nur ja keinen Krieg gibt. Ich habe mich getäuscht. Jetzt schmeißen sie nur noch Kriegsgerät in die Waagschale…

Allerdings, ich merke schon an deinem Kommentar, dass wir vermutlich unterschiedlich auf die Welt schauen und darauf, was derzeit in dieser vorgeht.
Das, was ich aktuell wahrnehme, hat mich eben zu meinem Text verleitet. Es muss manchmal raus: Der Frust, die Enttäuschung, das Unbehagen. „Ich bin nicht einverstanden!“ möchte ich hinausrufen – auch wenn das vermutlich gar keinen Unterschied macht.
So ist es nun mal, für mich.
Für andere vielleicht auch, für dich wohl eher nicht – wollen wir es so stehen lassen.

Es grüßt dich aber sehr herzlich,

Erdling
 

James Blond

Mitglied
Das, was ich aktuell wahrnehme, hat mich eben zu meinem Text verleitet. Es muss manchmal raus: Der Frust, die Enttäuschung, das Unbehagen. „Ich bin nicht einverstanden!“ möchte ich hinausrufen – auch wenn das vermutlich gar keinen Unterschied macht.
So ist es nun mal, für mich.
Jou, das musste wohl mal raus, so auch mein Eindruck.

Nur eine kurze Anmerkung zum letzten Kommentar: Unter Ironie verstehe ich etwas feineres, hier würde ich von Sarkasmus sprechen und den Text als eine Glosse bezeichnen. Man sollte sich dazu allerdings auf weniger Themen beschränken - oder die Punkte genial kombinieren. Ein Text der vom Schimmel an den Wänden bis zum Atomkrieg wechselt, könnte das z. B. durch den schimmeligen Schutz in der Wohnzimmerecke erreichen.

Als Autor sollte man sich hüten, das Opfer seines Textes zu werden, sich also vollständig dem eigenen Zorn auszuliefern. Für den Verfasser gilt dein Titel daher ganz besonders und frei von Ironie.

Gern kommentiert
JB
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Lietzensee,

das ist die uralte Frage, mit der immer wieder Kriege in der Breite der Gesellschaft akzeptabel gemacht wird: Wenn der 'Feind' vor Deinem Bett steht - bist Du dann immer noch Pazifist.
Darüber mache ich mir viele Gedanken und habe auch einen Text im Vorbereitung, der sich der Beantwortung dieser Frage stellt.

Liebe Grüße
Petra
 
Ich muss eventuell noch anmerken, dass ich diesen Text schon vor geraumer Zeit geschrieben hatte.
Da dachte ich noch, es wäre schon ein wenig übertrieben vielleicht – aber je mehr Zeit vergeht, desto passender erscheinen mir diese Zeilen.
Zum politischen Aschermittwoch habe ich sie hier schließlich „rausgelassen“. Auch das erschien mir passend.
 

wolf999

Mitglied
Hallo Dichter Erding,
Für mich ist es eine Aufzählung von Gedanken von einem Menschen, der aufgrund der politischen Lage mit der Faust in der Tasche herumläuft. Der auf einem Grad wandert, "lass ich es geschehen oder setze ich mich zur Wehr".
Es ist aber kein Humor und keine Satire!
Humor ist die Unzulänglichkeit des Menschen aufzuzeigen. Das typische Stilmittel der Satire sind die Übertreibung als Überhöhung oder die Untertreibung bis ins Lächerliche oder Absurde.
Gruß
wolf
 
Hallo wolf!

„Satire ist eine Kunstform, mit der Personen, Ereignisse oder Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert werden“, heißt es bei der allwissenden Wikipedia.
Weiters heißt es: „Üblicherweise ist Satire eine Kritik von unten (Bürgerempfinden) gegen oben (Repräsentanz der Macht), vorzugsweise in den Feldern Politik, Gesellschaft, Wirtschaft oder Kultur.“

-> Ich wüsste jetzt nicht, warum mein Text dieser Charakteristik nicht entsprechen sollte.

Weiter oben hat ein Kollege das Stichwort „Glosse“ eingeworfen. (Glosse = „Pointierter, oft satirischer oder polemischer Meinungsbeitrag zu aktuellen Ereignissen oder Problemen“)
Ich finde, das passt als Typisierung sehr gut - und passt für mich auch in die Rubrik „Humor und Satire“.

Natürlich steht es dir frei, das anders zu sehen.

Liebe Grüße,

Erdling
 



 
Oben Unten