Nicht Mensch nicht Tier: 1. Neue Gesichter

Man kann hier kaum fehlgehen. Sich zu orientieren, fällt selbst dem Neuangekommenen leicht. Alles ist übersichtlich, zweck-mäßig, aufgeräumt. Mein Einzelzimmer liegt im siebten Stock des Hochhauses. Vom Fenster aus habe ich fast alles im Blick, was diese Akademie ausmacht: die beiden Hörsäle, die Biblio-thek, das Haus des Schulleiters, alle mit Flachdächern. Ich habe mir auch den Speisesaal schon angesehen, er liegt hier im Haus im Parterre und wird etwas hochtrabend Kasino genannt.
Seit drei Stunden bin ich jetzt in L., und in fünf Monaten ha-be ich es hinter mir. Es wird schon gut gehen. Hier fällt kaum einer durch. Man wird uns zu brauchbaren Werkzeugen schmieden. Ist es nicht gleichgültig, ob einer Hammer oder Amboss ist? Auf den, der das Werkzeug führt, kommt es an. Von uns wird es kaum einer jemals sein.
Ich bin gern von Berlin weggefahren, Kraushaar hat mich in seinem Wagen mitgenommen. Betrachten wir die Zeit hier als einen Urlaub von der Stadt. Ich brauche jetzt Abstand von ihr, mir ist in Berlin zu viel misslungen. Ich bin in den zwei Jahren dort kaum weitergekommen. Beinahe möchte ich mir selbst zu-rufen: Du hast versagt – versagt hast du … Mir scheint, immer wieder nähere ich mich Menschen und weiche ihnen dann doch aus. Bin ich in Wahrheit dann am glücklichsten, wenn ich un-glücklich bin? Das muss ein Ende haben, so darf es nicht wei-tergehen, wenn ich zurück bin …
Hier in L. erwarte ich mir nichts. Ich kenne diese Gesell-schaft. Solche Kollegen können keine Freunde sein. Ich weiß Bescheid über sie.
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufsehe und den Kopf wende, bekomme ich die weitere Umgebung von L. in den Blick. In der Ebene vor mir liegt ein großes Stahlwerk und sehr weit dahinten das Gebirge. Es ist eine merkwürdige Gegend, nicht Stadt, nicht Land. Warum man uns ausgerechnet hier ausbilden lässt?

Die erste Nacht hier. Gut geschlafen – ich schlafe fast immer und fast überall gut. Dennoch muss ich einmal aufgewacht sein. Ich erinnere mich an laute Geräusche aus der Etage über mir. Dieses Hochhaus ist hellhörig.
Wir haben im Speisesaal feste Plätze. Meiner ist am Tisch der anderen Berliner. Paetzold ist noch der gescheiteste aus diesem Quintett. Er will wissen, dass der Schulleiter beim Träger nicht mehr gut angesehen sei. Er hat wohl, sagte Paetzold schmunzelnd, hm, hm … ein kleines Alkoholproblem. Mir ist bei seiner Eröffnungsrede – die Wand zwischen den beiden Hörsälen war herausgenommen – nichts Verdächtiges an Doktor Friedrichsen aufgefallen. Ein sehr hagerer Mann hoch in den Fünfzigern, spricht schnell, verhaspelt sich oft und fängt sich dann wieder. Er trägt eine Fliege. Mir ist schon entfallen, was er gesagt hat.
Gestern Abend fuhr ich mit den anderen nach B. Sie waren versessen darauf, die berühmte Bordellstraße dort kennenzulernen. Paetzold nahm mich in seinem Kadett mit. Er selbst sieht eher wie ein Käfer aus, wie ein größeres Krabbeltier, mittelgroß, dicklich. Er ist etwas älter als die meisten von uns. Gern gibt er sich seriös und zuvorkommend. Ob er beides auch wirklich ist? Er hat etwas Quecksilbriges an sich und mischt ab und zu kleine Zoten in seinen Redefluss. Er sagte auf der Fahrt in die Stadt: Sind wohl alle etwas fickrig, die Herren … Ich sagte nichts dazu. Der kleine stämmige Heise ist recht hübsch.
In B. flaute ihr Interesse dann schnell ab. Jetzt waren sie auf einmal alle Berliner in der Provinz, die sich langweilen und an allem herumnörgeln. Wir gingen zweimal durch die an beiden Enden verrammelte Bordellgasse. Die Damen saßen und standen bereit, und die Männer strichen um sie herum, Gewehr bei Fuß, aber es ging noch kein Schuss los. Um diese Zeit wird nur taxiert. Die anderen fanden, da sei es ja am Stuttgarter Platz in Berlin aufregender. Wir saßen dann bald in einem Wirtsgarten am Rand der Altstadt. Sie redeten viel, und ich hörte fast nur zu. Dabei lohnte es sich nicht einmal. Wie üblich bewegten sich ihre Gespräche im gleichen engen Kreis: Geld verdienen, Urlaub machen, Autos, Urlaub, Geld verdienen.
Heute hatten wir den Nachmittag noch einmal frei. Nur am Vormittag war Unterricht. Eine Vorlesung kann man so etwas nicht nennen. Wenn alle diese erfahrenen Praktiker so schlecht reden und ihren Stoff so ungeschickt vermitteln, bleibt einem jeden von uns nur das eigene Studierzimmer, um sich die Materie doch noch anzueignen.
Paetzold schlug mir und Kraushaar eine Fahrt ins Gebirge vor. Dumm von mir, mich darauf einzulassen. Wir zockelten in Paetzolds Wagen lange hinter einem schleichenden Dänen her. Paetzold sagte: Diese Dänen berauschen sich halt gern an der Landschaft. Wir hielten erst an einem der großen Stauseen. Die Badesaison hat dort gerade begonnen. Es war schon recht viel Betrieb. Die anderen zwei hatten Badehosen mit, ich nicht. Ich hasse Badeanstalten, ich zeige mich ungern nackt oder fast nackt. Wir trennten uns also, und ich sagte, ich wolle am See spazieren gehen.
Die Menschen dort gingen mir stark auf die Nerven. Warum sind Badende so laut? Außerdem stört mich fremde Nacktheit nicht weniger als meine eigene. Als zufällig ein Linienbus hielt, stieg ich, ohne zu überlegen, schnell ein und fuhr zurück nach L. Paetzold zeigte seinen Ärger nachher nicht. Er sagte, sie hätten nach dem Baden anderthalb Stunden auf mich gewartet und seien dann voller Sorge losgefahren. Er sah mich dabei prüfend an, auch etwas bekümmert. Ja, es war ungezogen. Ich weiß nicht mehr, womit ich mich herauszureden versucht habe.

Es ist Samstag um die Mittagszeit. Die erste Klausur liegt schon hinter mir. Ich werde weder ganz schlecht noch besonders glänzend abschneiden, durchschnittlich oder leicht darüber. Was will ich mehr …
Die meisten anderen fahren jetzt nach Hause, zu ihren Freundinnen und Familien. Ich bleibe hier. Es gibt für mich keinen Grund, Berlin schon nach so wenigen Tagen wiedersehen zu wollen. Die anderen werden zu Hause erzählen wollen, wie sie es hier getroffen haben. Und ich? Ja, ich könnte mir heute Abend einmal B. allein anschauen.

Von meinem kleinen Ausflug gestern Abend hatte ich viel mehr als neulich mit den anderen dorthin. Ich kam in der Dämmerung in B. an, es wurde gerade angenehm kühl. Bis es richtig Nacht war, lief ich kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt, am Dom und den anderen alten Kirchen vorüber. Enge Durchlässe führen manchmal auf gotische Plätze hinaus, steinern und eigentümlich hermetisch. Da die Geschäfte schon längst geschlossen waren, war dort kaum noch ein Mensch unterwegs. So mit der Stadt allein zu sein, sie für mich allein zu haben, das gefiel mir. Eigentlich habe ich B. erst gestern kennen gelernt.
Natürlich verirrte ich mich auch in dem Gewirr der Gässchen und Plätze. Nur mit Mühe kam ich wieder am Bahnhof heraus. Von dort war es leicht, die Schröderstraße und die Alligator-Bar zu finden. Ich wollte wirklich nicht der blasierte Berliner sein und bin doch selbst auch in diese Rolle gefallen. Es war noch ziemlich leer, als ich um halb zehn hineinging. Zuerst gab es nur tuntige Endvierziger, sie saßen alle am Tresen und ödeten sich gegenseitig an. Später kamen noch einige junge Männer, Mitte und Ende zwanzig, keiner von ihnen wirklich attraktiv. Jeder kannte jeden und keiner gab sich Mühe, besonders erotisch zu wirken. Sie schienen nicht auf mich oder irgendeinen anderen Fremden gewartet zu haben. Ich kam mir überflüssig vor und nahm daher den letzten Zug nach L. Dabei hätte ich gern die ganze Nacht darangegeben.

Noch keine zehn Tage hier, und ich habe mich schon wieder verliebt. Musste das sein? Unter den achtzig Kollegen ist einer, der vollkommen meinem Typ entspricht: blond, maskulin, dabei dennoch weich, jungenhaft unbeholfen und sehr sympathisch. Er trägt einen kurzen, immer leicht zerzausten Vollbart. Natürlich ist er normal – er trägt einen Ehering. Allerdings hat er den Strom an und für sich nicht vorgesehener Erotik wohl schon bemerkt, vermutlich nicht beobachtend und reflektierend, nur instinktiv, glaube ich. Und jetzt kommt es vor, dass ich feststelle, wie er mich beobachtet. Ich halte mich sehr zurück, ich möchte Komplikationen vermeiden, gerade hier an der Akademie. Er heißt Heinz und kommt aus Darmstadt, habe ich gehört. Er kann zwei, drei Jahre älter als ich sein, Mitte zwanzig, höchstens. Mit einundzwanzig bin ich ja einer der Jüngsten auf diesem Lehrgang.

Das Beste hier für mich ist der Leseraum in der Bibliothek. Sie halten ein gutes Sortiment von Tageszeitungen. Vormittags können die neuen Zeitungen von einem von uns im Sekretariat abgeholt werden. Meistens erledigt das jetzt dieser Darmstädter, Heinz heißt er, ich habe ihn schon erwähnt. Für einen ausgesprochenen Zeitungsleser halte ich ihn nicht, ich habe ihn bisher kaum Zeitung lesen sehen. Warum nimmt er überhaupt diese Mühe auf sich? Ja, er scheint sich auch im weiteren Verlauf für die Blätter verantwortlich zu fühlen. Er versuchte heute schon in der morgendlichen Pause zu verhindern, dass sie auseinandergerissen würden. Am Nachmittag war er wirklich bekümmert, als es doch geschehen war. Er sagte vor den anderen, da seien wohl asoziale Elemente am Werk, sie hätten die Zeitungen zum Teil sogar mit auf die Zimmer genommen.
Natürlich bin ich vorhin nicht seinetwegen in den Leseraum gegangen. Ich hoffte bloß, mir die Süddeutsche zu sichern. Insoweit stehe ich in Konkurrenz zu unseren Bayern. Neulich hat sich einer aus Nürnberg laut beschwert, als er mich mit dem Blatt in einem Sessel bemerkte. Ich habe mir die Zeitung vor das Gesicht gehalten und einfach weitergelesen.
Heinz ließ also vorhin die zerfledderten Blätter liegen und ging hinüber zum Radioapparat. Ich saß in der Nähe, jetzt in die Lokalzeitung vertieft. Er schien mich nicht zu bemerken und versuchte, ein anderes, flotteres Programm einzustellen. Endlich fand er einen Soldatensender, in dem gerade etwas von Elvis lief. Da drehte er sich um und lachte in meine Richtung. Lachte er mich an? Er sagte etwas dazu, nur verstand ich es unter der Musik heraus nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob er mich gemeint hatte. Daher lächelte ich nur für alle Fälle vorsichtig zurück. Erst danach vergewisserte ich mich, ob sonst einer in Frage kam. Doch hinter mir saß keiner. Heinz sah schon nicht mehr zu mir herüber. Mir kommt es jetzt so vor, als sei er hinter der vorgezeigten guten Laune und angeblichen Spontaneität in Wahrheit recht schüchtern. Und ich fürchte immer, mir eine Blöße zu geben und zu reagieren, wo ich nicht angesprochen bin.

Schon wieder Samstag. Die meisten sind am Mittag nach Hause gefahren, auch Heinz. Ich war der Einzige, der ihn beachtete, als er vorhin mit der Reisetasche das Kasino verließ. Er sah sich suchend um und schien mir am liebsten den einen oder anderen umarmen zu wollen, so sah er aus – irgendeinen umarmen … Da er jedoch nur meinem Blick begegnete, hob er bloß die Hand zum Gruß und lächelte schüchtern. Ich deutete etwas Ähnliches an. Schon war er verschwunden. Da ging ich rasch hinüber in den Leseraum und sah auf den Parkplatz hinaus. Er stieg eben zu Kollegen aus Frankfurt ins Auto. Sein eigener blauer Käfer steht auf dem Parkplatz.
Sein Platz bei den Mahlzeiten ist am Tisch uns gegenüber. Dazwischen führt der breite Gang von der Eingangstür in die Kasinomitte. Wir sitzen so, dass wir uns, ob wir wollen oder nicht, beim Aufsehen im Blick haben, und machen, so scheint es mir, alle beide etwas mehr Gebrauch davon als ohnehin unvermeidlich. Der Abstand zwischen den Tischen, dieser freie Raum also, ist wie das Schussfeld zwischen zwei Bastionen. Was für ein Vergleich! Und wer verschanzt sich dann von uns beiden?
An seinem Tisch sitzen nur Männer - Frauen sind sehr wenige unter uns, weder an seinem noch meinem Tisch sitzt eine -, da drüben, wollte ich schreiben, hat er es nur mit Kollegen aus dem Frankfurter Raum zu tun. Sie reden untereinander ihre breite Sprache, die ich noch gut verstehe, aber selbst nicht mehr spreche. Zu ihrer Mundart passt ihr weiterer Umgang miteinander. Er ist sehr direkt, geradezu plump-vertraulich. Dabei geht es oft hoch her, Witzworte fliegen hin und her. Ich höre Gelächter, sehe Knüffe. Heinz scheint mir unter ihnen gut gelitten. Sie necken ihn gern, doch bleibt er ihnen selten eine Antwort schuldig.
Jetzt ist es bei den Mahlzeiten unten ungewohnt still. Kaum zehn Menschen essen noch in dem großen Saal.
Wenn ich nicht lerne oder draußen in den Straßen herumlaufe, lese ich privat für mich. Die großen Zeitungen stehen jetzt mir allein zur Verfügung. Außerdem habe ich den Kinsey-Report aus Berlin mitgebracht. Das Buch habe ich erst kurz vor der Reise gekauft – plötzliche Eingebung. Ich sehe schon: Statistik muss nicht langweilig sein.

Alle sind wieder im Haus, auch Heinz. Wir sehen uns häufig an, doch zu einem persönlichen Verhältnis ist es bisher nicht gekommen. Daran bin in erster Linie ich schuld. Ich bin wie üblich distanziert, mag man es ruhig gehemmt nennen … Und dann die Furcht vor Entwicklungen, die ich nicht absehen kann. Doch vielleicht spielt etwas ganz anderes bei mir die Hauptrolle: Verblüffung. Sein Verhalten verrät verblüffend viel Naivität. Ich ertappe ihn immer wieder dabei, dass er mich beobachtet, im Kasino, im Leseraum, ja sogar im Hörsaal. Doch wirkt es nicht kritisch-analytisch, sondern witternd, kindlich neugierig, eben naiv. Er möchte herauskriegen, was mit mir los ist, nachdem er einmal mein Interesse für seine Person erspürt hat. Diese Aufschlüsse werde ich ihm nicht verschaffen, das gerade nicht. Ich sehe schon, er möchte meine Reserviertheit und Kälte gern überwinden und den gleichen unbefangenen Kontakt zu mir herstellen, der ihm schon zu manchem anderen gelungen ist. Wie es scheint, gehört er zu den seltenen Männern, denen Aggressivität im Umgang mit andern vollkommen abgeht. Allge-meines gegenseitiges Wohlwollen, zuvorkommende Herzlichkeit, Einvernehmen, das sind die Elemente eines Lebens, das ihm behagt. Er wirkt menschlich und, obgleich maskulin, sanft und ein wenig anachronistisch in einer Welt des Zähnezeigens und der Macht- und Drohgebärden.
Ja, ich finde ihn rührend, gerade auch dann, wenn er unsicher wird. Das geschieht oft, denn im landläufigen Sinn scheint er mir nicht sehr intelligent. Hapert es nicht erheblich mit dem logischen Denken? Wenn das zutage tritt, etwa auf die Frage eines Dozenten hin, spürt er wohl, dass in diesem Augenblick und in diesem Punkt nur die Leistung zählt, nicht aber Harmonie und Zuneigung. In solchen Momenten verändert er sich, er wirkt dann zugleich schüchtern und böse. Dann fange ich an, ihn schon ein wenig zu lieben.
Ich darf mich ihm nicht nähern. Hiermit gebe ich mir selbst das Versprechen, ihn in Ruhe zu lassen. Ich würde ihm nicht gut tun. Der Ring, den er trägt, schützt ihn vor mir.

Heinz beschäftigt mich noch immer viel. Meistens kommt er mir harmlos oder sogar gutmütig vor. Er sucht weiterhin den schlichten Kontakt zu mir, und ich empfinde die Lage, in der wir uns gemeinsam befinden, bereits als verfahren. Meine Unfähigkeit, auf ihn einzugehen! Und gleichzeitig meine Unfähigkeit, auf ihn verzichten zu können!
Es ist schon so weit gekommen, dass ich ihn scheinbar nicht einmal mehr zur Kenntnis nehme, wenn ich ihm abends zufällig allein im Lift begegne. Kein Gruß, kein Kopfnicken – ich pfeife ein wenig, er ist Luft für mich. Gleichzeitig empfinde ich die ungeheure Intimität dieser Situation, ich genieße sie.
Er spielt oft abends Fußball mit anderen Kollegen. Sie fahren zu diesem Zweck zu einem Sportplatz in der Nähe. Am gestrigen Abend, kurz vor einer dieser Begegnungen im Lift, war ich spazieren gewesen und in die Gegend gekommen, in der die Sportplätze liegen. Ich will mir nichts vormachen, ich bin seinetwegen dort gewesen. Ich habe nur seinen blauen Käfer entdeckt und bin dann rasch umgekehrt. Auf dem Rückweg hat er mich mit seinem Wagen überholt und hoffentlich nicht am Straßenrand gehen sehen. Jetzt mache ich mir doch etwas vor …
Ich habe ihn im Aufzug aus den Augenwinkeln gemustert. Er wirkte mehr als müde - erschöpft. Sonst groß und schlank, beweglich, hoch aufgerichtet – und jetzt ein wenig in sich zusammengesunken. Die dunkelblonden Haare feucht an den länglich-ovalen Schädel geklatscht. Hatte er nach dem Spiel schon geduscht? Er lehnte gegen eine Liftwand, sein Blick hing an der gegenüber. Er war nur da, befand sich einfach da, wie eine niedere Existenzform, fast schon preisgegeben. Von ihm ging keine Gefahr für mich aus. Ich staune darüber, was man alles als schön empfinden kann. Ich fand ihn gerade in diesem Augenblick sehr schön. Zwischen uns stand jetzt nichts. Ich empfand umfassende Beruhigung.
Die Kabine hielt auf meinem Stockwerk. Ich stellte mein leises Pfeifen ein und bemühte mich sehr, beim Verlassen des Aufzugs nichts auszudrücken.

„Mei Sessel is noch waam …“ Da sprach er mich also in seinem Babba-Hesselbach-Idiom direkt an. Ich war gerade vorhin in den Lesesaal hineingegangen, ohne zu wissen, dass er sich dort aufhielt, und da hatte er plötzlich seinen Sessel neben dem Rundfunkgerät verlassen und war mir in der Mitte des Raumes entgegengekommen. Dabei gab es genügend andere freie Sitzmöglichkeiten, und ich steuerte nicht einmal seine Ecke an. Ich war perplex wie selten. Noch an den beiden vorangegangenen Tagen war es mir so vorgekommen, als ob sich seine Aufmerksamkeit mir gegenüber stark verringert hätte.
Ich sage mir, es ist nur ein harmloser Satz, bei einem kontaktfreudigen und dabei unbeholfenen Menschen wie ihm leicht erklärbar. Ja, das ist da unten eine weit verbreitete Redensart ... Aber sagt man es auch, wenn man bisher noch kein Wort miteinander gewechselt hat? Eher nicht. Dieser sehr vertrauliche Ton stand doch in auffälligem Widerspruch zum Stand unserer tatsächlichen Beziehungen, die ich kaum mit diesem Begriff bezeichnen kann, so zart angedeutet wie auch bereits ausgesprochen heikel sie schon sind. Tausend andere Redensarten hätten für eine erste Kontaktaufnahme näher gelegen. Und doch traf keine wie diese den Kern unseres Verhältnisses. Er schien mir sagen zu wollen: Da drüben, da spürst du noch den Abdruck meines Körpers, die Wärme meines Körpers, das ist es doch, was du suchst, ich weiß es ja … Er lächelte dabei und seine Stimme klang melodiös, wenn auch das Timbre etwas unrein war.
Ich reagierte zunächst nicht. Dann sagte ich knurrend – er hörte es wohl eben noch, als er den Raum verließ -: „Na gut“, als ob es mich wer weiß wie viel Überwindung koste, und steuerte scheinbar höchst widerwillig den mir überlassenen Sessel an. Er war tatsächlich noch körperwarm.
Ich versuchte zu lesen.
Eine knappe Viertelstunde später kam er wieder herein und stand längere Zeit neben mir am Fenster und blickte hinaus. Ich rührte mich nicht und sah ihn nicht an, bis er ging.
Sagte ich, er komme mir wenig intelligent vor? Offenbar kann er sehr schlagfertig sein. Rasch aufstehen und mit einer einladenden Handbewegung sagen: „Mei Sessel is noch waam …“ Nicht dumm.

Heute Nachmittag saß ich wieder einmal im Leseraum, in der Nähe des Empfängers. Heinz kam herein und nahm mir gegenüber Platz. Er sprach mich bald an, das eingestellte Programm gefalle ihm nicht. Ich sagte ihm, ich hätte den Sender nicht eingestellt, er könne einen anderen suchen. Ich sagte es in sachlichem Ton und so freundlich wie dabei möglich.
Er suchte die Wellen längere Zeit ab und fand doch nichts ihn Ansprechendes. Dann versuchte ich es, ebenso wenig erfolgreich. Währenddessen wechselten wir einige missmutige Worte darüber. Dann gaben wir es auf, und jeder von uns schien in seine Zeitung vertieft. Mir kam es so vor, als ob sich jetzt hinter seinem Missvergnügen Nervosität verberge und die Unzufriedenheit darüber, nicht wirklich an mich heranzukommen.
Ich griff zu einer Zeitung nach der anderen. Ich blätterte wie wild in den Gazetten. Heinz hatte sich scheinbar an einer Stelle festgelesen. Als ich aber hinübersah, entdeckte ich, dass er die Kleinanzeigen im Heimatblättchen zu studieren vorgab: Nachhilfeunterricht, Haushaltsauflösung, Schimmelbekämpfung …
Es war längst Kaffeezeit. Keiner von uns beiden stand auf, um wie gewöhnlich rasch ins Kasino zu gehen. Bald saßen wir allein im Lesezimmer. Es war schon gegen das Ende der Kaffeezeit, als einer von seinen Kollegen ihn suchen kam. Er folgte ihm hinüber. Da ging ich auch.
Schade, dass ich hier gewöhnlich nur die direkten, auf irgendeine Weise herausragenden Begegnungen zwischen uns aufschreibe. Ich müsste darstellen, wie sie sich während des Unterrichts, während der Mahlzeiten und bei anderen Gelegenheiten vorbereiten oder fortsetzen. Wenn da einer den anderen ertappt, wie er ihn beobachtet oder sich nur seiner Anwesenheit vergewissert oder seine Reaktion auf einen Scherz des Dozenten oder eines anderen Schülers feststellen will … Ich weiß nicht, wie diese Spannung aufgelöst werden soll. Ich jedenfalls bin nicht mehr in der Lage, mich selbst zu lösen.

Heinz ist allgemein beliebt, ich stelle es immer wieder fest. Er scheint mir dies vor allem seiner Burschikosität zu verdanken, die vollkommen naiv wirkt. Er ist sich des Charmes, den ihm sein jungenhaft-unbeholfenes Wesen verleiht, durchaus nicht bewusst. Er forciert ihn nicht und beutet ihn also nicht aus. Das ist es, was so gewinnend ist.
Für einen Mittzwanziger ist er noch erstaunlich kindlich in seinem Auftreten – und ist doch zugleich schon recht maskulin. Eben darin liegt der starke erotische Reiz. Er übertreibt es fast mit der Kameradschaftlichkeit, und die anderen übertreiben es auch im Verhältnis zu ihm. Keiner von uns achtzig wird häufiger freundschaftlich berührt oder geneckt. Er könnte der Beliebteste von uns allen sein. Zu seinem Glück fehlt ihm eines vollständig: Führungswille. Ich verabscheue diese Führungsstarken und ich liebe die, die sich nicht erhöhen, die nicht aufsteigen wollen. Ihnen, die sich einem nie überordnen, ordne ich mich so gern unter – ich möchte mich ihnen am liebsten unterwerfen.
Heinz ist sogar als Autofahrer sympathisch. Er fährt wenig und nur behutsam. Das oft so fanatische Interesse junger Männer an Motoren und ihrer Leistung ist ihm fremd. Er kümmert sich selten um seinen kleinen Wagen, der weder besonders herausgeputzt noch auch nur liebevoll gepflegt, allerdings auch nicht geradezu vernachlässigt ist. Talismane, Embleme und dergleichen fehlen. Im Wageninneren habe ich nur eine kleine, von der Decke hängende Vase mit Strohblumen entdeckt. Auf der Windschutzscheibe trägt ein deutlich angebrachter Aufkleber die Aufschrift: Der Mensch geht vor.
Ich frage mich, aus welcher Schicht er kommt. Eigentlich kann es nur das Kleinbürgertum sein. (Mein Vater ist ein Kleinbauer.)
Ich habe ja angefangen, ihn geradezu zu studieren. Zu diesem Zweck hat man mich gewiss nicht nach L. geschickt.

Zwei Tage in Berlin gewesen. Das ist doch meine Stadt. Es war sehr heiß dort, über dreißig Grad im Schatten, und dabei litt ich unter einer Erkältung. Ich konnte nicht in die Bars gehen, nur ins Kino. Ich sah zum ersten Mal "Der Tod in Venedig" von Visconti. Die Rolle des Tadzio schien mir schlecht besetzt. Kann man sich tatsächlich vorstellen, dass dieser weichliche Bursche in der Lage gewesen sein soll, einen Mann wie Aschenbach zu zerstören? Wenn das Tadzio ist, dann bin ich auf keinen Fall Aschenbach.
Jetzt fällt mir in L. vieles leichter. Mitten im Sommer denke ich vor allem an den November, an meine Rückkehr nach Berlin. So kann ich hier alles weniger schwer nehmen. Das gilt sogar in Bezug auf Heinz. Ihm gegenüber bin ich jetzt nicht nur äußerlich kühl, ich bin es wirklich. Ich kann mich nun ohne viel Mühe ganz beherrscht geben.
Dabei hat sich grundsätzlich zwischen uns nichts verändert. Wenn wir uns begegnen, merke ich, dass er noch immer neugierig auf mich ist. Er versucht schon mal, einen harmlosen, kleinen Dialog anzuknüpfen. Ich bleibe dann jeweils freundlich-unbeteiligt und knapp in meinen Antworten.

Auch hier ist mir wieder die Rolle des stolzen und herben Außenseiters zugefallen. Es ist wohl gesetzmäßig – Lust verschafft es mir nicht.
Die anderen stören mich häufig. Viele sind rücksichtslos. Der ewige Lärm im Haus! Wenn ich abends den Kinsey beiseite lege, möchte ich gerne acht bis neun Stunden schlafen, wirklich nur schlafen. Doch immer gibt es irgendeine Gruppe, die zu später Stunde unter Absingen volkstümlicher Lieder vom fröhlichen Umtrunk heimkehrt. Und irgendwo ist immer ein Einzelner, der vier oder fünf Etagen längere Zeit mit Türenschlagen, Gepolter und Geschrei terrorisiert. Welchen Druck spüren sie denn schon, den sie unbedingt weitergeben müssten?
Meine und ihre Situation sind grundverschieden. Der Aufenthalt hier in L. bedeutet für mich Einengung – Einschränkung meiner gewohnten Freiheit und Ungebundenheit. Für die meisten Kollegen sieht es anders aus. Sie sind auf Zeit ihren Familien entkommen, scheinen ein Joch vorübergehend abgestreift zu haben, und sie wollen diese einmalige Chance nutzen. Da sagte vorhin ein Enddreißiger, dem ich mich lächerlich überlegen fühle, diesen Abend wolle er unbedingt ausgehen – zu Hause könne er sich schließlich nicht voll laufen lassen.
Heinz allein verdanke ich es, dass die Bilanz hier für mich nicht negativ ausfällt. Ich sehe ihn immer noch gern an. Ich bin auf ihn angewiesen, um es hier aushalten zu können.
Ja, zwischen ihm und mir ist wieder alles beim Alten. Zwar versuche ich mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, ihn zu ignorieren, und das reizt ihn zu Gegenbewegungen, da er mein Desinteresse mit Recht nicht glaubwürdig findet. Er kontrolliert mich immer mal wieder, schaut bei Tisch fleißig herüber und versucht im Pissoir (wo wir uns, glaube ich, rein zufällig getroffen haben) eine Unterhaltung. Dann bleibe ich kühl, bin kurz angebunden, aus Vorsatz und da mir Berlin schon wieder näher liegt.

Zwischen ihm und mir ist jetzt ein Dauerschwebezustand erreicht. Ist dieser Status quo der Endzustand in unseren Beziehungen? (Denn natürlich ist es eine Art von Beziehung.) Soll ich mich damit abfinden? Ich werde wieder zunehmend unruhig. Unsere häufigen zwangsläufigen Begegnungen verstören mich tief. Meine Selbstbeherrschung ist nur noch äußerlich. Und ich beginne die Überzeugung zu verlieren, dass mein Verzicht auf ihn vernünftig ist.
Um dem zu entkommen, fahre ich schon am kommenden Wochenende wieder nach Berlin. Paetzold nimmt mich auch diesmal mit. Auf ihn ist Verlass.
 
Man kann hier kaum fehlgehen. Sich zu orientieren, fällt selbst dem Neuangekommenen leicht. Alles ist übersichtlich, zweckmäßig, aufgeräumt. Mein Einzelzimmer liegt im siebten Stock des Hochhauses. Vom Fenster aus habe ich fast alles im Blick, was diese Akademie ausmacht: die beiden Hörsäle, die Bibliothek, das Haus des Schulleiters, alle mit Flachdächern. Ich habe mir auch den Speisesaal schon angesehen, er liegt hier im Haus im Parterre und wird etwas hochtrabend Kasino genannt.
Seit drei Stunden bin ich jetzt in L., und in fünf Monaten habe ich es hinter mir. Es wird schon gut gehen. Hier fällt kaum einer durch. Man wird uns zu brauchbaren Werkzeugen schmieden. Ist es nicht gleichgültig, ob einer Hammer oder Amboss ist? Auf den, der das Werkzeug führt, kommt es an. Von uns wird es kaum einer jemals sein.
Ich bin gern von Berlin weggefahren, Kraushaar hat mich in seinem Wagen mitgenommen. Betrachten wir die Zeit hier als einen Urlaub von der Stadt. Ich brauche jetzt Abstand von ihr, mir ist in Berlin zu viel misslungen. Ich bin in den zwei Jahren dort kaum weitergekommen. Beinahe möchte ich mir selbst zurufen: Du hast versagt – versagt hast du … Mir scheint, immer wieder nähere ich mich Menschen und weiche ihnen dann doch aus. Bin ich in Wahrheit dann am glücklichsten, wenn ich unglücklich bin? Das muss ein Ende haben, so darf es nicht weitergehen, wenn ich zurück bin …
Hier in L. erwarte ich mir nichts. Ich kenne diese Gesellschaft. Solche Kollegen können keine Freunde sein. Ich weiß Bescheid über sie.
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufsehe und den Kopf wende, bekomme ich die weitere Umgebung von L. in den Blick. In der Ebene vor mir liegt ein großes Stahlwerk und sehr weit dahinten das Gebirge. Es ist eine merkwürdige Gegend, nicht Stadt, nicht Land. Warum man uns ausgerechnet hier ausbilden lässt?

Die erste Nacht hier. Gut geschlafen – ich schlafe fast immer und fast überall gut. Dennoch muss ich einmal aufgewacht sein. Ich erinnere mich an laute Geräusche aus der Etage über mir. Dieses Hochhaus ist hellhörig.
Wir haben im Speisesaal feste Plätze. Meiner ist am Tisch der anderen Berliner. Paetzold ist noch der gescheiteste aus diesem Quintett. Er will wissen, dass der Schulleiter beim Träger nicht mehr gut angesehen sei. Er hat wohl, sagte Paetzold schmunzelnd, hm, hm … ein kleines Alkoholproblem. Mir ist bei seiner Eröffnungsrede – die Wand zwischen den beiden Hörsälen war herausgenommen – nichts Verdächtiges an Doktor Friedrichsen aufgefallen. Ein sehr hagerer Mann hoch in den Fünfzigern, spricht schnell, verhaspelt sich oft und fängt sich dann wieder. Er trägt eine Fliege. Mir ist schon entfallen, was er gesagt hat.
Gestern Abend fuhr ich mit den anderen nach B. Sie waren versessen darauf, die berühmte Bordellstraße dort kennenzulernen. Paetzold nahm mich in seinem Kadett mit. Er selbst sieht eher wie ein Käfer aus, wie ein größeres Krabbeltier, mittelgroß, dicklich. Er ist etwas älter als die meisten von uns. Gern gibt er sich seriös und zuvorkommend. Ob er beides auch wirklich ist? Er hat etwas Quecksilbriges an sich und mischt ab und zu kleine Zoten in seinen Redefluss. Er sagte auf der Fahrt in die Stadt: Sind wohl alle etwas fickrig, die Herren … Ich sagte nichts dazu. Der kleine stämmige Heise ist recht hübsch.
In B. flaute ihr Interesse dann schnell ab. Jetzt waren sie auf einmal alle Berliner in der Provinz, die sich langweilen und an allem herumnörgeln. Wir gingen zweimal durch die an beiden Enden verrammelte Bordellgasse. Die Damen saßen und standen bereit, und die Männer strichen um sie herum, Gewehr bei Fuß, aber es ging noch kein Schuss los. Um diese Zeit wird nur taxiert. Die anderen fanden, da sei es ja am Stuttgarter Platz in Berlin aufregender. Wir saßen dann bald in einem Wirtsgarten am Rand der Altstadt. Sie redeten viel, und ich hörte fast nur zu. Dabei lohnte es sich nicht einmal. Wie üblich bewegten sich ihre Gespräche im gleichen engen Kreis: Geld verdienen, Urlaub machen, Autos, Urlaub, Geld verdienen.
Heute hatten wir den Nachmittag noch einmal frei. Nur am Vormittag war Unterricht. Eine Vorlesung kann man so etwas nicht nennen. Wenn alle diese erfahrenen Praktiker so schlecht reden und ihren Stoff so ungeschickt vermitteln, bleibt einem jeden von uns nur das eigene Studierzimmer, um sich die Materie doch noch anzueignen.
Paetzold schlug mir und Kraushaar eine Fahrt ins Gebirge vor. Dumm von mir, mich darauf einzulassen. Wir zockelten in Paetzolds Wagen lange hinter einem schleichenden Dänen her. Paetzold sagte: Diese Dänen berauschen sich halt gern an der Landschaft. Wir hielten erst an einem der großen Stauseen. Die Badesaison hat dort gerade begonnen. Es war schon recht viel Betrieb. Die anderen zwei hatten Badehosen mit, ich nicht. Ich hasse Badeanstalten, ich zeige mich ungern nackt oder fast nackt. Wir trennten uns also, und ich sagte, ich wolle am See spazieren gehen.
Die Menschen dort gingen mir stark auf die Nerven. Warum sind Badende so laut? Außerdem stört mich fremde Nacktheit nicht weniger als meine eigene. Als zufällig ein Linienbus hielt, stieg ich, ohne zu überlegen, schnell ein und fuhr zurück nach L. Paetzold zeigte seinen Ärger nachher nicht. Er sagte, sie hätten nach dem Baden anderthalb Stunden auf mich gewartet und seien dann voller Sorge losgefahren. Er sah mich dabei prüfend an, auch etwas bekümmert. Ja, es war ungezogen. Ich weiß nicht mehr, womit ich mich herauszureden versucht habe.

Es ist Samstag um die Mittagszeit. Die erste Klausur liegt schon hinter mir. Ich werde weder ganz schlecht noch besonders glänzend abschneiden, durchschnittlich oder leicht darüber. Was will ich mehr …
Die meisten anderen fahren jetzt nach Hause, zu ihren Freundinnen und Familien. Ich bleibe hier. Es gibt für mich keinen Grund, Berlin schon nach so wenigen Tagen wiedersehen zu wollen. Die anderen werden zu Hause erzählen wollen, wie sie es hier getroffen haben. Und ich? Ja, ich könnte mir heute Abend einmal B. allein anschauen.

Von meinem kleinen Ausflug gestern Abend hatte ich viel mehr als neulich mit den anderen dorthin. Ich kam in der Dämmerung in B. an, es wurde gerade angenehm kühl. Bis es richtig Nacht war, lief ich kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt, am Dom und den anderen alten Kirchen vorüber. Enge Durchlässe führen manchmal auf gotische Plätze hinaus, steinern und eigentümlich hermetisch. Da die Geschäfte schon längst geschlossen waren, war dort kaum noch ein Mensch unterwegs. So mit der Stadt allein zu sein, sie für mich allein zu haben, das gefiel mir. Eigentlich habe ich B. erst gestern kennen gelernt.
Natürlich verirrte ich mich auch in dem Gewirr der Gässchen und Plätze. Nur mit Mühe kam ich wieder am Bahnhof heraus. Von dort war es leicht, die Schröderstraße und die Alligator-Bar zu finden. Ich wollte wirklich nicht der blasierte Berliner sein und bin doch selbst auch in diese Rolle gefallen. Es war noch ziemlich leer, als ich um halb zehn hineinging. Zuerst gab es nur tuntige Endvierziger, sie saßen alle am Tresen und ödeten sich gegenseitig an. Später kamen noch einige junge Männer, Mitte und Ende zwanzig, keiner von ihnen wirklich attraktiv. Jeder kannte jeden und keiner gab sich Mühe, besonders erotisch zu wirken. Sie schienen nicht auf mich oder irgendeinen anderen Fremden gewartet zu haben. Ich kam mir überflüssig vor und nahm daher den letzten Zug nach L. Dabei hätte ich gern die ganze Nacht darangegeben.

Noch keine zehn Tage hier, und ich habe mich schon wieder verliebt. Musste das sein? Unter den achtzig Kollegen ist einer, der vollkommen meinem Typ entspricht: blond, maskulin, dabei dennoch weich, jungenhaft unbeholfen und sehr sympathisch. Er trägt einen kurzen, immer leicht zerzausten Vollbart. Natürlich ist er normal – er trägt einen Ehering. Allerdings hat er den Strom an und für sich nicht vorgesehener Erotik wohl schon bemerkt, vermutlich nicht beobachtend und reflektierend, nur instinktiv, glaube ich. Und jetzt kommt es vor, dass ich feststelle, wie er mich beobachtet. Ich halte mich sehr zurück, ich möchte Komplikationen vermeiden, gerade hier an der Akademie. Er heißt Heinz und kommt aus Darmstadt, habe ich gehört. Er kann zwei, drei Jahre älter als ich sein, Mitte zwanzig, höchstens. Mit einundzwanzig bin ich ja einer der Jüngsten auf diesem Lehrgang.

Das Beste hier für mich ist der Leseraum in der Bibliothek. Sie halten ein gutes Sortiment von Tageszeitungen. Vormittags können die neuen Zeitungen von einem von uns im Sekretariat abgeholt werden. Meistens erledigt das jetzt dieser Darmstädter, Heinz heißt er, ich habe ihn schon erwähnt. Für einen ausgesprochenen Zeitungsleser halte ich ihn nicht, ich habe ihn bisher kaum Zeitung lesen sehen. Warum nimmt er überhaupt diese Mühe auf sich? Ja, er scheint sich auch im weiteren Verlauf für die Blätter verantwortlich zu fühlen. Er versuchte heute schon in der morgendlichen Pause zu verhindern, dass sie auseinandergerissen würden. Am Nachmittag war er wirklich bekümmert, als es doch geschehen war. Er sagte vor den anderen, da seien wohl asoziale Elemente am Werk, sie hätten die Zeitungen zum Teil sogar mit auf die Zimmer genommen.
Natürlich bin ich vorhin nicht seinetwegen in den Leseraum gegangen. Ich hoffte bloß, mir die Süddeutsche zu sichern. Insoweit stehe ich in Konkurrenz zu unseren Bayern. Neulich hat sich einer aus Nürnberg laut beschwert, als er mich mit dem Blatt in einem Sessel bemerkte. Ich habe mir die Zeitung vor das Gesicht gehalten und einfach weitergelesen.
Heinz ließ also vorhin die zerfledderten Blätter liegen und ging hinüber zum Radioapparat. Ich saß in der Nähe, jetzt in die Lokalzeitung vertieft. Er schien mich nicht zu bemerken und versuchte, ein anderes, flotteres Programm einzustellen. Endlich fand er einen Soldatensender, in dem gerade etwas von Elvis lief. Da drehte er sich um und lachte in meine Richtung. Lachte er mich an? Er sagte etwas dazu, nur verstand ich es unter der Musik heraus nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob er mich gemeint hatte. Daher lächelte ich nur für alle Fälle vorsichtig zurück. Erst danach vergewisserte ich mich, ob sonst einer in Frage kam. Doch hinter mir saß keiner. Heinz sah schon nicht mehr zu mir herüber. Mir kommt es jetzt so vor, als sei er hinter der vorgezeigten guten Laune und angeblichen Spontaneität in Wahrheit recht schüchtern. Und ich fürchte immer, mir eine Blöße zu geben und zu reagieren, wo ich nicht angesprochen bin.

Schon wieder Samstag. Die meisten sind am Mittag nach Hause gefahren, auch Heinz. Ich war der Einzige, der ihn beachtete, als er vorhin mit der Reisetasche das Kasino verließ. Er sah sich suchend um und schien mir am liebsten den einen oder anderen umarmen zu wollen, so sah er aus – irgendeinen umarmen … Da er jedoch nur meinem Blick begegnete, hob er bloß die Hand zum Gruß und lächelte schüchtern. Ich deutete etwas Ähnliches an. Schon war er verschwunden. Da ging ich rasch hinüber in den Leseraum und sah auf den Parkplatz hinaus. Er stieg eben zu Kollegen aus Frankfurt ins Auto. Sein eigener blauer Käfer steht auf dem Parkplatz.
Sein Platz bei den Mahlzeiten ist am Tisch uns gegenüber. Dazwischen führt der breite Gang von der Eingangstür in die Kasinomitte. Wir sitzen so, dass wir uns, ob wir wollen oder nicht, beim Aufsehen im Blick haben, und machen, so scheint es mir, alle beide etwas mehr Gebrauch davon als ohnehin unvermeidlich. Der Abstand zwischen den Tischen, dieser freie Raum also, ist wie das Schussfeld zwischen zwei Bastionen. Was für ein Vergleich! Und wer verschanzt sich dann von uns beiden?
An seinem Tisch sitzen nur Männer - Frauen sind sehr wenige unter uns, weder an seinem noch meinem Tisch sitzt eine -, da drüben, wollte ich schreiben, hat er es nur mit Kollegen aus dem Frankfurter Raum zu tun. Sie reden untereinander ihre breite Sprache, die ich noch gut verstehe, aber selbst nicht mehr spreche. Zu ihrer Mundart passt ihr weiterer Umgang miteinander. Er ist sehr direkt, geradezu plump-vertraulich. Dabei geht es oft hoch her, Witzworte fliegen hin und her. Ich höre Gelächter, sehe Knüffe. Heinz scheint mir unter ihnen gut gelitten. Sie necken ihn gern, doch bleibt er ihnen selten eine Antwort schuldig.
Jetzt ist es bei den Mahlzeiten unten ungewohnt still. Kaum zehn Menschen essen noch in dem großen Saal.
Wenn ich nicht lerne oder draußen in den Straßen herumlaufe, lese ich privat für mich. Die großen Zeitungen stehen jetzt mir allein zur Verfügung. Außerdem habe ich den Kinsey-Report aus Berlin mitgebracht. Das Buch habe ich erst kurz vor der Reise gekauft – plötzliche Eingebung. Ich sehe schon: Statistik muss nicht langweilig sein.

Alle sind wieder im Haus, auch Heinz. Wir sehen uns häufig an, doch zu einem persönlichen Verhältnis ist es bisher nicht gekommen. Daran bin in erster Linie ich schuld. Ich bin wie üblich distanziert, mag man es ruhig gehemmt nennen … Und dann die Furcht vor Entwicklungen, die ich nicht absehen kann. Doch vielleicht spielt etwas ganz anderes bei mir die Hauptrolle: Verblüffung. Sein Verhalten verrät verblüffend viel Naivität. Ich ertappe ihn immer wieder dabei, dass er mich beobachtet, im Kasino, im Leseraum, ja sogar im Hörsaal. Doch wirkt es nicht kritisch-analytisch, sondern witternd, kindlich neugierig, eben naiv. Er möchte herauskriegen, was mit mir los ist, nachdem er einmal mein Interesse für seine Person erspürt hat. Diese Aufschlüsse werde ich ihm nicht verschaffen, das gerade nicht. Ich sehe schon, er möchte meine Reserviertheit und Kälte gern überwinden und den gleichen unbefangenen Kontakt zu mir herstellen, der ihm schon zu manchem anderen gelungen ist. Wie es scheint, gehört er zu den seltenen Männern, denen Aggressivität im Umgang mit andern vollkommen abgeht. Allge-meines gegenseitiges Wohlwollen, zuvorkommende Herzlichkeit, Einvernehmen, das sind die Elemente eines Lebens, das ihm behagt. Er wirkt menschlich und, obgleich maskulin, sanft und ein wenig anachronistisch in einer Welt des Zähnezeigens und der Macht- und Drohgebärden.
Ja, ich finde ihn rührend, gerade auch dann, wenn er unsicher wird. Das geschieht oft, denn im landläufigen Sinn scheint er mir nicht sehr intelligent. Hapert es nicht erheblich mit dem logischen Denken? Wenn das zutage tritt, etwa auf die Frage eines Dozenten hin, spürt er wohl, dass in diesem Augenblick und in diesem Punkt nur die Leistung zählt, nicht aber Harmonie und Zuneigung. In solchen Momenten verändert er sich, er wirkt dann zugleich schüchtern und böse. Dann fange ich an, ihn schon ein wenig zu lieben.
Ich darf mich ihm nicht nähern. Hiermit gebe ich mir selbst das Versprechen, ihn in Ruhe zu lassen. Ich würde ihm nicht gut tun. Der Ring, den er trägt, schützt ihn vor mir.

Heinz beschäftigt mich noch immer viel. Meistens kommt er mir harmlos oder sogar gutmütig vor. Er sucht weiterhin den schlichten Kontakt zu mir, und ich empfinde die Lage, in der wir uns gemeinsam befinden, bereits als verfahren. Meine Unfähigkeit, auf ihn einzugehen! Und gleichzeitig meine Unfähigkeit, auf ihn verzichten zu können!
Es ist schon so weit gekommen, dass ich ihn scheinbar nicht einmal mehr zur Kenntnis nehme, wenn ich ihm abends zufällig allein im Lift begegne. Kein Gruß, kein Kopfnicken – ich pfeife ein wenig, er ist Luft für mich. Gleichzeitig empfinde ich die ungeheure Intimität dieser Situation, ich genieße sie.
Er spielt oft abends Fußball mit anderen Kollegen. Sie fahren zu diesem Zweck zu einem Sportplatz in der Nähe. Am gestrigen Abend, kurz vor einer dieser Begegnungen im Lift, war ich spazieren gewesen und in die Gegend gekommen, in der die Sportplätze liegen. Ich will mir nichts vormachen, ich bin seinetwegen dort gewesen. Ich habe nur seinen blauen Käfer entdeckt und bin dann rasch umgekehrt. Auf dem Rückweg hat er mich mit seinem Wagen überholt und hoffentlich nicht am Straßenrand gehen sehen. Jetzt mache ich mir doch etwas vor …
Ich habe ihn im Aufzug aus den Augenwinkeln gemustert. Er wirkte mehr als müde - erschöpft. Sonst groß und schlank, beweglich, hoch aufgerichtet – und jetzt ein wenig in sich zusammengesunken. Die dunkelblonden Haare feucht an den länglich-ovalen Schädel geklatscht. Hatte er nach dem Spiel schon geduscht? Er lehnte gegen eine Liftwand, sein Blick hing an der gegenüber. Er war nur da, befand sich einfach da, wie eine niedere Existenzform, fast schon preisgegeben. Von ihm ging keine Gefahr für mich aus. Ich staune darüber, was man alles als schön empfinden kann. Ich fand ihn gerade in diesem Augenblick sehr schön. Zwischen uns stand jetzt nichts. Ich empfand umfassende Beruhigung.
Die Kabine hielt auf meinem Stockwerk. Ich stellte mein leises Pfeifen ein und bemühte mich sehr, beim Verlassen des Aufzugs nichts auszudrücken.

„Mei Sessel is noch waam …“ Da sprach er mich also in seinem Babba-Hesselbach-Idiom direkt an. Ich war gerade vorhin in den Lesesaal hineingegangen, ohne zu wissen, dass er sich dort aufhielt, und da hatte er plötzlich seinen Sessel neben dem Rundfunkgerät verlassen und war mir in der Mitte des Raumes entgegengekommen. Dabei gab es genügend andere freie Sitzmöglichkeiten, und ich steuerte nicht einmal seine Ecke an. Ich war perplex wie selten. Noch an den beiden vorangegangenen Tagen war es mir so vorgekommen, als ob sich seine Aufmerksamkeit mir gegenüber stark verringert hätte.
Ich sage mir, es ist nur ein harmloser Satz, bei einem kontaktfreudigen und dabei unbeholfenen Menschen wie ihm leicht erklärbar. Ja, das ist da unten eine weit verbreitete Redensart ... Aber sagt man es auch, wenn man bisher noch kein Wort miteinander gewechselt hat? Eher nicht. Dieser sehr vertrauliche Ton stand doch in auffälligem Widerspruch zum Stand unserer tatsächlichen Beziehungen, die ich kaum mit diesem Begriff bezeichnen kann, so zart angedeutet wie auch bereits ausgesprochen heikel sie schon sind. Tausend andere Redensarten hätten für eine erste Kontaktaufnahme näher gelegen. Und doch traf keine wie diese den Kern unseres Verhältnisses. Er schien mir sagen zu wollen: Da drüben, da spürst du noch den Abdruck meines Körpers, die Wärme meines Körpers, das ist es doch, was du suchst, ich weiß es ja … Er lächelte dabei und seine Stimme klang melodiös, wenn auch das Timbre etwas unrein war.
Ich reagierte zunächst nicht. Dann sagte ich knurrend – er hörte es wohl eben noch, als er den Raum verließ -: „Na gut“, als ob es mich wer weiß wie viel Überwindung koste, und steuerte scheinbar höchst widerwillig den mir überlassenen Sessel an. Er war tatsächlich noch körperwarm.
Ich versuchte zu lesen.
Eine knappe Viertelstunde später kam er wieder herein und stand längere Zeit neben mir am Fenster und blickte hinaus. Ich rührte mich nicht und sah ihn nicht an, bis er ging.
Sagte ich, er komme mir wenig intelligent vor? Offenbar kann er sehr schlagfertig sein. Rasch aufstehen und mit einer einladenden Handbewegung sagen: „Mei Sessel is noch waam …“ Nicht dumm.

Heute Nachmittag saß ich wieder einmal im Leseraum, in der Nähe des Empfängers. Heinz kam herein und nahm mir gegenüber Platz. Er sprach mich bald an, das eingestellte Programm gefalle ihm nicht. Ich sagte ihm, ich hätte den Sender nicht eingestellt, er könne einen anderen suchen. Ich sagte es in sachlichem Ton und so freundlich wie dabei möglich.
Er suchte die Wellen längere Zeit ab und fand doch nichts ihn Ansprechendes. Dann versuchte ich es, ebenso wenig erfolgreich. Währenddessen wechselten wir einige missmutige Worte darüber. Dann gaben wir es auf, und jeder von uns schien in seine Zeitung vertieft. Mir kam es so vor, als ob sich jetzt hinter seinem Missvergnügen Nervosität verberge und die Unzufriedenheit darüber, nicht wirklich an mich heranzukommen.
Ich griff zu einer Zeitung nach der anderen. Ich blätterte wie wild in den Gazetten. Heinz hatte sich scheinbar an einer Stelle festgelesen. Als ich aber hinübersah, entdeckte ich, dass er die Kleinanzeigen im Heimatblättchen zu studieren vorgab: Nachhilfeunterricht, Haushaltsauflösung, Schimmelbekämpfung …
Es war längst Kaffeezeit. Keiner von uns beiden stand auf, um wie gewöhnlich rasch ins Kasino zu gehen. Bald saßen wir allein im Lesezimmer. Es war schon gegen das Ende der Kaffeezeit, als einer von seinen Kollegen ihn suchen kam. Er folgte ihm hinüber. Da ging ich auch.
Schade, dass ich hier gewöhnlich nur die direkten, auf irgendeine Weise herausragenden Begegnungen zwischen uns aufschreibe. Ich müsste darstellen, wie sie sich während des Unterrichts, während der Mahlzeiten und bei anderen Gelegenheiten vorbereiten oder fortsetzen. Wenn da einer den anderen ertappt, wie er ihn beobachtet oder sich nur seiner Anwesenheit vergewissert oder seine Reaktion auf einen Scherz des Dozenten oder eines anderen Schülers feststellen will … Ich weiß nicht, wie diese Spannung aufgelöst werden soll. Ich jedenfalls bin nicht mehr in der Lage, mich selbst zu lösen.

Heinz ist allgemein beliebt, ich stelle es immer wieder fest. Er scheint mir dies vor allem seiner Burschikosität zu verdanken, die vollkommen naiv wirkt. Er ist sich des Charmes, den ihm sein jungenhaft-unbeholfenes Wesen verleiht, durchaus nicht bewusst. Er forciert ihn nicht und beutet ihn also nicht aus. Das ist es, was so gewinnend ist.
Für einen Mittzwanziger ist er noch erstaunlich kindlich in seinem Auftreten – und ist doch zugleich schon recht maskulin. Eben darin liegt der starke erotische Reiz. Er übertreibt es fast mit der Kameradschaftlichkeit, und die anderen übertreiben es auch im Verhältnis zu ihm. Keiner von uns achtzig wird häufiger freundschaftlich berührt oder geneckt. Er könnte der Beliebteste von uns allen sein. Zu seinem Glück fehlt ihm eines vollständig: Führungswille. Ich verabscheue diese Führungsstarken und ich liebe die, die sich nicht erhöhen, die nicht aufsteigen wollen. Ihnen, die sich einem nie überordnen, ordne ich mich so gern unter – ich möchte mich ihnen am liebsten unterwerfen.
Heinz ist sogar als Autofahrer sympathisch. Er fährt wenig und nur behutsam. Das oft so fanatische Interesse junger Männer an Motoren und ihrer Leistung ist ihm fremd. Er kümmert sich selten um seinen kleinen Wagen, der weder besonders herausgeputzt noch auch nur liebevoll gepflegt, allerdings auch nicht geradezu vernachlässigt ist. Talismane, Embleme und dergleichen fehlen. Im Wageninneren habe ich nur eine kleine, von der Decke hängende Vase mit Strohblumen entdeckt. Auf der Windschutzscheibe trägt ein deutlich angebrachter Aufkleber die Aufschrift: Der Mensch geht vor.
Ich frage mich, aus welcher Schicht er kommt. Eigentlich kann es nur das Kleinbürgertum sein. (Mein Vater ist ein Kleinbauer.)
Ich habe ja angefangen, ihn geradezu zu studieren. Zu diesem Zweck hat man mich gewiss nicht nach L. geschickt.

Zwei Tage in Berlin gewesen. Das ist doch meine Stadt. Es war sehr heiß dort, über dreißig Grad im Schatten, und dabei litt ich unter einer Erkältung. Ich konnte nicht in die Bars gehen, nur ins Kino. Ich sah zum ersten Mal "Der Tod in Venedig" von Visconti. Die Rolle des Tadzio schien mir schlecht besetzt. Kann man sich tatsächlich vorstellen, dass dieser weichliche Bursche in der Lage gewesen sein soll, einen Mann wie Aschenbach zu zerstören? Wenn das Tadzio ist, dann bin ich auf keinen Fall Aschenbach.
Jetzt fällt mir in L. vieles leichter. Mitten im Sommer denke ich vor allem an den November, an meine Rückkehr nach Berlin. So kann ich hier alles weniger schwer nehmen. Das gilt sogar in Bezug auf Heinz. Ihm gegenüber bin ich jetzt nicht nur äußerlich kühl, ich bin es wirklich. Ich kann mich nun ohne viel Mühe ganz beherrscht geben.
Dabei hat sich grundsätzlich zwischen uns nichts verändert. Wenn wir uns begegnen, merke ich, dass er noch immer neugierig auf mich ist. Er versucht schon mal, einen harmlosen, kleinen Dialog anzuknüpfen. Ich bleibe dann jeweils freundlich-unbeteiligt und knapp in meinen Antworten.

Auch hier ist mir wieder die Rolle des stolzen und herben Außenseiters zugefallen. Es ist wohl gesetzmäßig – Lust verschafft es mir nicht.
Die anderen stören mich häufig. Viele sind rücksichtslos. Der ewige Lärm im Haus! Wenn ich abends den Kinsey beiseite lege, möchte ich gerne acht bis neun Stunden schlafen, wirklich nur schlafen. Doch immer gibt es irgendeine Gruppe, die zu später Stunde unter Absingen volkstümlicher Lieder vom fröhlichen Umtrunk heimkehrt. Und irgendwo ist immer ein Einzelner, der vier oder fünf Etagen längere Zeit mit Türenschlagen, Gepolter und Geschrei terrorisiert. Welchen Druck spüren sie denn schon, den sie unbedingt weitergeben müssten?
Meine und ihre Situation sind grundverschieden. Der Aufenthalt hier in L. bedeutet für mich Einengung – Einschränkung meiner gewohnten Freiheit und Ungebundenheit. Für die meisten Kollegen sieht es anders aus. Sie sind auf Zeit ihren Familien entkommen, scheinen ein Joch vorübergehend abgestreift zu haben, und sie wollen diese einmalige Chance nutzen. Da sagte vorhin ein Enddreißiger, dem ich mich lächerlich überlegen fühle, diesen Abend wolle er unbedingt ausgehen – zu Hause könne er sich schließlich nicht voll laufen lassen.
Heinz allein verdanke ich es, dass die Bilanz hier für mich nicht negativ ausfällt. Ich sehe ihn immer noch gern an. Ich bin auf ihn angewiesen, um es hier aushalten zu können.
Ja, zwischen ihm und mir ist wieder alles beim Alten. Zwar versuche ich mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, ihn zu ignorieren, und das reizt ihn zu Gegenbewegungen, da er mein Desinteresse mit Recht nicht glaubwürdig findet. Er kontrolliert mich immer mal wieder, schaut bei Tisch fleißig herüber und versucht im Pissoir (wo wir uns, glaube ich, rein zufällig getroffen haben) eine Unterhaltung. Dann bleibe ich kühl, bin kurz angebunden, aus Vorsatz und da mir Berlin schon wieder näher liegt.

Zwischen ihm und mir ist jetzt ein Dauerschwebezustand erreicht. Ist dieser Status quo der Endzustand in unseren Beziehungen? (Denn natürlich ist es eine Art von Beziehung.) Soll ich mich damit abfinden? Ich werde wieder zunehmend unruhig. Unsere häufigen zwangsläufigen Begegnungen verstören mich tief. Meine Selbstbeherrschung ist nur noch äußerlich. Und ich beginne die Überzeugung zu verlieren, dass mein Verzicht auf ihn vernünftig ist.
Um dem zu entkommen, fahre ich schon am kommenden Wochenende wieder nach Berlin. Paetzold nimmt mich auch diesmal mit. Auf ihn ist Verlass.
 
Man kann hier kaum fehlgehen. Sich zu orientieren, fällt selbst dem Neuangekommenen leicht. Alles ist übersichtlich, zweckmäßig, aufgeräumt. Mein Einzelzimmer liegt im siebten Stock des Hochhauses. Vom Fenster aus habe ich fast alles im Blick, was diese Akademie ausmacht: die beiden Hörsäle, die Bibliothek, das Haus des Schulleiters, alle mit Flachdächern. Ich habe mir auch den Speisesaal schon angesehen, er liegt hier im Haus im Parterre und wird etwas hochtrabend Kasino genannt.
Seit drei Stunden bin ich jetzt in L., und in fünf Monaten habe ich es hinter mir. Es wird schon gut gehen. Hier fällt kaum einer durch. Man wird uns zu brauchbaren Werkzeugen schmieden. Ist es nicht gleichgültig, ob einer Hammer oder Amboss ist? Auf den, der das Werkzeug führt, kommt es an. Von uns wird es kaum einer jemals sein.
Ich bin gern von Berlin weggefahren, Kraushaar hat mich in seinem Wagen mitgenommen. Betrachten wir die Zeit hier als einen Urlaub von der Stadt. Ich brauche jetzt Abstand von ihr, mir ist in Berlin zu viel misslungen. Ich bin in den zwei Jahren dort kaum weitergekommen. Beinahe möchte ich mir selbst zurufen: Du hast versagt – versagt hast du … Mir scheint, immer wieder nähere ich mich Menschen und weiche ihnen dann doch aus. Bin ich in Wahrheit dann am glücklichsten, wenn ich unglücklich bin? Das muss ein Ende haben, so darf es nicht weitergehen, wenn ich zurück bin …
Hier in L. erwarte ich mir nichts. Ich kenne diese Gesellschaft. Solche Kollegen können keine Freunde sein. Ich weiß Bescheid über sie.
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufsehe und den Kopf wende, bekomme ich die weitere Umgebung von L. in den Blick. In der Ebene vor mir liegt ein großes Stahlwerk und sehr weit dahinten das Gebirge. Es ist eine merkwürdige Gegend, nicht Stadt, nicht Land. Warum man uns ausgerechnet hier ausbilden lässt?

Die erste Nacht hier. Gut geschlafen – ich schlafe fast immer und fast überall gut. Dennoch muss ich einmal aufgewacht sein. Ich erinnere mich an laute Geräusche aus der Etage über mir. Dieses Hochhaus ist hellhörig.
Wir haben im Speisesaal feste Plätze. Meiner ist am Tisch der anderen Berliner. Paetzold ist noch der gescheiteste aus diesem Quintett. Er will wissen, dass der Schulleiter beim Träger nicht mehr gut angesehen sei. Er hat wohl, sagte Paetzold schmunzelnd, hm, hm … ein kleines Alkoholproblem. Mir ist bei seiner Eröffnungsrede – die Wand zwischen den beiden Hörsälen war herausgenommen – nichts Verdächtiges an Doktor Friedrichsen aufgefallen. Ein sehr hagerer Mann hoch in den Fünfzigern, spricht schnell, verhaspelt sich oft und fängt sich dann wieder. Er trägt eine Fliege. Mir ist schon entfallen, was er gesagt hat.
Gestern Abend fuhr ich mit den anderen nach B. Sie waren versessen darauf, die berühmte Bordellstraße dort kennenzulernen. Paetzold nahm mich in seinem Kadett mit. Er selbst sieht eher wie ein Käfer aus, wie ein größeres Krabbeltier, mittelgroß, dicklich. Er ist etwas älter als die meisten von uns. Gern gibt er sich seriös und zuvorkommend. Ob er beides auch wirklich ist? Er hat etwas Quecksilbriges an sich und mischt ab und zu kleine Zoten in seinen Redefluss. Er sagte auf der Fahrt in die Stadt: Sind wohl alle etwas fickrig, die Herren … Ich sagte nichts dazu. Der kleine stämmige Heise ist recht hübsch.
In B. flaute ihr Interesse dann schnell ab. Jetzt waren sie auf einmal alle Berliner in der Provinz, die sich langweilen und an allem herumnörgeln. Wir gingen zweimal durch die an beiden Enden verrammelte Bordellgasse. Die Damen saßen und standen bereit, und die Männer strichen um sie herum, Gewehr bei Fuß, aber es ging noch kein Schuss los. Um diese Zeit wird nur taxiert. Die anderen fanden, da sei es ja am Stuttgarter Platz in Berlin aufregender. Wir saßen dann bald in einem Wirtsgarten am Rand der Altstadt. Sie redeten viel, und ich hörte fast nur zu. Dabei lohnte es sich nicht einmal. Wie üblich bewegten sich ihre Gespräche im gleichen engen Kreis: Geld verdienen, Urlaub machen, Autos, Urlaub, Geld verdienen.
Heute hatten wir den Nachmittag noch einmal frei. Nur am Vormittag war Unterricht. Eine Vorlesung kann man so etwas nicht nennen. Wenn alle diese erfahrenen Praktiker so schlecht reden und ihren Stoff so ungeschickt vermitteln, bleibt einem jeden von uns nur das eigene Studierzimmer, um sich die Materie doch noch anzueignen.
Paetzold schlug mir und Kraushaar eine Fahrt ins Gebirge vor. Dumm von mir, mich darauf einzulassen. Wir zockelten in Paetzolds Wagen lange hinter einem schleichenden Dänen her. Paetzold sagte: Diese Dänen berauschen sich halt gern an der Landschaft. Wir hielten erst an einem der großen Stauseen. Die Badesaison hat dort gerade begonnen. Es war schon recht viel Betrieb. Die anderen zwei hatten Badehosen mit, ich nicht. Ich hasse Badeanstalten, ich zeige mich ungern nackt oder fast nackt. Wir trennten uns also, und ich sagte, ich wolle am See spazieren gehen.
Die Menschen dort gingen mir stark auf die Nerven. Warum sind Badende so laut? Außerdem stört mich fremde Nacktheit nicht weniger als meine eigene. Als zufällig ein Linienbus hielt, stieg ich, ohne zu überlegen, schnell ein und fuhr zurück nach L. Paetzold zeigte seinen Ärger nachher nicht. Er sagte, sie hätten nach dem Baden anderthalb Stunden auf mich gewartet und seien dann voller Sorge losgefahren. Er sah mich dabei prüfend an, auch etwas bekümmert. Ja, es war ungezogen. Ich weiß nicht mehr, womit ich mich herauszureden versucht habe.

Es ist Samstag um die Mittagszeit. Die erste Klausur liegt schon hinter mir. Ich werde weder ganz schlecht noch besonders glänzend abschneiden, durchschnittlich oder leicht darüber. Was will ich mehr …
Die meisten anderen fahren jetzt nach Hause, zu ihren Freundinnen und Familien. Ich bleibe hier. Es gibt für mich keinen Grund, Berlin schon nach so wenigen Tagen wiedersehen zu wollen. Die anderen werden zu Hause erzählen wollen, wie sie es hier getroffen haben. Und ich? Ja, ich könnte mir heute Abend einmal B. allein anschauen.

Von meinem kleinen Ausflug gestern Abend hatte ich viel mehr als neulich mit den anderen dorthin. Ich kam in der Dämmerung in B. an, es wurde gerade angenehm kühl. Bis es richtig Nacht war, lief ich kreuz und quer durch die Gassen der Altstadt, am Dom und den anderen alten Kirchen vorüber. Enge Durchlässe führen manchmal auf gotische Plätze hinaus, steinern und eigentümlich hermetisch. Da die Geschäfte schon längst geschlossen waren, war dort kaum noch ein Mensch unterwegs. So mit der Stadt allein zu sein, sie für mich allein zu haben, das gefiel mir. Eigentlich habe ich B. erst gestern kennen gelernt.
Natürlich verirrte ich mich auch in dem Gewirr der Gässchen und Plätze. Nur mit Mühe kam ich wieder am Bahnhof heraus. Von dort war es leicht, die Schröderstraße und die Alligator-Bar zu finden. Ich wollte wirklich nicht der blasierte Berliner sein und bin doch selbst auch in diese Rolle gefallen. Es war noch ziemlich leer, als ich um halb zehn hineinging. Zuerst gab es nur tuntige Endvierziger, sie saßen alle am Tresen und ödeten sich gegenseitig an. Später kamen noch einige junge Männer, Mitte und Ende zwanzig, keiner von ihnen wirklich attraktiv. Jeder kannte jeden und keiner gab sich Mühe, besonders erotisch zu wirken. Sie schienen nicht auf mich oder irgendeinen anderen Fremden gewartet zu haben. Ich kam mir überflüssig vor und nahm daher den letzten Zug nach L. Dabei hätte ich gern die ganze Nacht darangegeben.

Noch keine zehn Tage hier, und ich habe mich schon wieder verliebt. Musste das sein? Unter den achtzig Kollegen ist einer, der vollkommen meinem Typ entspricht: blond, maskulin, dabei dennoch weich, jungenhaft unbeholfen und sehr sympathisch. Er trägt einen kurzen, immer leicht zerzausten Vollbart. Natürlich ist er normal – er trägt einen Ehering. Allerdings hat er den Strom an und für sich nicht vorgesehener Erotik wohl schon bemerkt, vermutlich nicht beobachtend und reflektierend, nur instinktiv, glaube ich. Und jetzt kommt es vor, dass ich feststelle, wie er mich beobachtet. Ich halte mich sehr zurück, ich möchte Komplikationen vermeiden, gerade hier an der Akademie. Er heißt Heinz und kommt aus Darmstadt, habe ich gehört. Er kann zwei, drei Jahre älter als ich sein, Mitte zwanzig, höchstens. Mit einundzwanzig bin ich ja einer der Jüngsten auf diesem Lehrgang.

Das Beste hier für mich ist der Leseraum in der Bibliothek. Sie halten ein gutes Sortiment von Tageszeitungen. Vormittags können die neuen Zeitungen von einem von uns im Sekretariat abgeholt werden. Meistens erledigt das jetzt dieser Darmstädter, Heinz heißt er, ich habe ihn schon erwähnt. Für einen ausgesprochenen Zeitungsleser halte ich ihn nicht, ich habe ihn bisher kaum Zeitung lesen sehen. Warum nimmt er überhaupt diese Mühe auf sich? Ja, er scheint sich auch im weiteren Verlauf für die Blätter verantwortlich zu fühlen. Er versuchte heute schon in der morgendlichen Pause zu verhindern, dass sie auseinandergerissen würden. Am Nachmittag war er wirklich bekümmert, als es doch geschehen war. Er sagte vor den anderen, da seien wohl asoziale Elemente am Werk, sie hätten die Zeitungen zum Teil sogar mit auf die Zimmer genommen.
Natürlich bin ich vorhin nicht seinetwegen in den Leseraum gegangen. Ich hoffte bloß, mir die Süddeutsche zu sichern. Insoweit stehe ich in Konkurrenz zu unseren Bayern. Neulich hat sich einer aus Nürnberg laut beschwert, als er mich mit dem Blatt in einem Sessel bemerkte. Ich habe mir die Zeitung vor das Gesicht gehalten und einfach weitergelesen.
Heinz ließ also vorhin die zerfledderten Blätter liegen und ging hinüber zum Radioapparat. Ich saß in der Nähe, jetzt in die Lokalzeitung vertieft. Er schien mich nicht zu bemerken und versuchte, ein anderes, flotteres Programm einzustellen. Endlich fand er einen Soldatensender, in dem gerade etwas von Elvis lief. Da drehte er sich um und lachte in meine Richtung. Lachte er mich an? Er sagte etwas dazu, nur verstand ich es unter der Musik heraus nicht. Ich war nicht einmal sicher, ob er mich gemeint hatte. Daher lächelte ich nur für alle Fälle vorsichtig zurück. Erst danach vergewisserte ich mich, ob sonst einer in Frage kam. Doch hinter mir saß keiner. Heinz sah schon nicht mehr zu mir herüber. Mir kommt es jetzt so vor, als sei er hinter der vorgezeigten guten Laune und angeblichen Spontaneität in Wahrheit recht schüchtern. Und ich fürchte immer, mir eine Blöße zu geben und zu reagieren, wo ich nicht angesprochen bin.

Schon wieder Samstag. Die meisten sind am Mittag nach Hause gefahren, auch Heinz. Ich war der Einzige, der ihn beachtete, als er vorhin mit der Reisetasche das Kasino verließ. Er sah sich suchend um und schien mir am liebsten den einen oder anderen umarmen zu wollen, so sah er aus – irgendeinen umarmen … Da er jedoch nur meinem Blick begegnete, hob er bloß die Hand zum Gruß und lächelte schüchtern. Ich deutete etwas Ähnliches an. Schon war er verschwunden. Da ging ich rasch hinüber in den Leseraum und sah auf den Parkplatz hinaus. Er stieg eben zu Kollegen aus Frankfurt ins Auto. Sein eigener blauer Käfer steht auf dem Parkplatz.
Sein Platz bei den Mahlzeiten ist am Tisch uns gegenüber. Dazwischen führt der breite Gang von der Eingangstür in die Kasinomitte. Wir sitzen so, dass wir uns, ob wir wollen oder nicht, beim Aufsehen im Blick haben, und machen, so scheint es mir, alle beide etwas mehr Gebrauch davon als ohnehin unvermeidlich. Der Abstand zwischen den Tischen, dieser freie Raum also, ist wie das Schussfeld zwischen zwei Bastionen. Was für ein Vergleich! Und wer verschanzt sich dann von uns beiden?
An seinem Tisch sitzen nur Männer - Frauen sind sehr wenige unter uns, weder an seinem noch meinem Tisch sitzt eine -, da drüben, wollte ich schreiben, hat er es nur mit Kollegen aus dem Frankfurter Raum zu tun. Sie reden untereinander ihre breite Sprache, die ich noch gut verstehe, aber selbst nicht mehr spreche. Zu ihrer Mundart passt ihr weiterer Umgang miteinander. Er ist sehr direkt, geradezu plump-vertraulich. Dabei geht es oft hoch her, Witzworte fliegen hin und her. Ich höre Gelächter, sehe Knüffe. Heinz scheint mir unter ihnen gut gelitten. Sie necken ihn gern, doch bleibt er ihnen selten eine Antwort schuldig.
Jetzt ist es bei den Mahlzeiten unten ungewohnt still. Kaum zehn Menschen essen noch in dem großen Saal.
Wenn ich nicht lerne oder draußen in den Straßen herumlaufe, lese ich privat für mich. Die großen Zeitungen stehen jetzt mir allein zur Verfügung. Außerdem habe ich den Kinsey-Report aus Berlin mitgebracht. Das Buch habe ich erst kurz vor der Reise gekauft – plötzliche Eingebung. Ich sehe schon: Statistik muss nicht langweilig sein.

Alle sind wieder im Haus, auch Heinz. Wir sehen uns häufig an, doch zu einem persönlichen Verhältnis ist es bisher nicht gekommen. Daran bin in erster Linie ich schuld. Ich bin wie üblich distanziert, mag man es ruhig gehemmt nennen … Und dann die Furcht vor Entwicklungen, die ich nicht absehen kann. Doch vielleicht spielt etwas ganz anderes bei mir die Hauptrolle: Verblüffung. Sein Verhalten verrät verblüffend viel Naivität. Ich ertappe ihn immer wieder dabei, dass er mich beobachtet, im Kasino, im Leseraum, ja sogar im Hörsaal. Doch wirkt es nicht kritisch-analytisch, sondern witternd, kindlich neugierig, eben naiv. Er möchte herauskriegen, was mit mir los ist, nachdem er einmal mein Interesse für seine Person erspürt hat. Diese Aufschlüsse werde ich ihm nicht verschaffen, das gerade nicht. Ich sehe schon, er möchte meine Reserviertheit und Kälte gern überwinden und den gleichen unbefangenen Kontakt zu mir herstellen, der ihm schon zu manchem anderen gelungen ist. Wie es scheint, gehört er zu den seltenen Männern, denen Aggressivität im Umgang mit andern vollkommen abgeht. Allge-meines gegenseitiges Wohlwollen, zuvorkommende Herzlichkeit, Einvernehmen, das sind die Elemente eines Lebens, das ihm behagt. Er wirkt menschlich und, obgleich maskulin, sanft und ein wenig anachronistisch in einer Welt des Zähnezeigens und der Macht- und Drohgebärden.
Ja, ich finde ihn rührend, gerade auch dann, wenn er unsicher wird. Das geschieht oft, denn im landläufigen Sinn scheint er mir nicht sehr intelligent. Hapert es nicht erheblich mit dem logischen Denken? Wenn das zutage tritt, etwa auf die Frage eines Dozenten hin, spürt er wohl, dass in diesem Augenblick und in diesem Punkt nur die Leistung zählt, nicht aber Harmonie und Zuneigung. In solchen Momenten verändert er sich, er wirkt dann zugleich schüchtern und böse. Dann fange ich an, ihn schon ein wenig zu lieben.
Ich darf mich ihm nicht nähern. Hiermit gebe ich mir selbst das Versprechen, ihn in Ruhe zu lassen. Ich würde ihm nicht gut tun. Der Ring, den er trägt, schützt ihn vor mir.

Heinz beschäftigt mich noch immer viel. Meistens kommt er mir harmlos oder sogar gutmütig vor. Er sucht weiterhin den schlichten Kontakt zu mir, und ich empfinde die Lage, in der wir uns gemeinsam befinden, bereits als verfahren. Meine Unfähigkeit, auf ihn einzugehen! Und gleichzeitig meine Unfähigkeit, auf ihn verzichten zu können!
Es ist schon so weit gekommen, dass ich ihn scheinbar nicht einmal mehr zur Kenntnis nehme, wenn ich ihm abends zufällig allein im Lift begegne. Kein Gruß, kein Kopfnicken – ich pfeife ein wenig, er ist Luft für mich. Gleichzeitig empfinde ich die ungeheure Intimität dieser Situation, ich genieße sie.
Er spielt oft abends Fußball mit anderen Kollegen. Sie fahren zu diesem Zweck zu einem Sportplatz in der Nähe. Am gestrigen Abend, kurz vor einer dieser Begegnungen im Lift, war ich spazieren gewesen und in die Gegend gekommen, in der die Sportplätze liegen. Ich will mir nichts vormachen, ich bin seinetwegen dort gewesen. Ich habe nur seinen blauen Käfer entdeckt und bin dann rasch umgekehrt. Auf dem Rückweg hat er mich mit seinem Wagen überholt und hoffentlich nicht am Straßenrand gehen sehen. Jetzt mache ich mir doch etwas vor …
Ich habe ihn im Aufzug aus den Augenwinkeln gemustert. Er wirkte mehr als müde - erschöpft. Sonst groß und schlank, beweglich, hoch aufgerichtet – und jetzt ein wenig in sich zusammengesunken. Die dunkelblonden Haare feucht an den länglich-ovalen Schädel geklatscht. Hatte er nach dem Spiel schon geduscht? Er lehnte gegen eine Liftwand, sein Blick hing an der gegenüber. Er war nur da, befand sich einfach da, wie eine niedere Existenzform, fast schon preisgegeben. Von ihm ging keine Gefahr für mich aus. Ich staune darüber, was man alles als schön empfinden kann. Ich fand ihn gerade in diesem Augenblick sehr schön. Zwischen uns stand jetzt nichts. Ich empfand umfassende Beruhigung.
Die Kabine hielt auf meinem Stockwerk. Ich stellte mein leises Pfeifen ein und bemühte mich sehr, beim Verlassen des Aufzugs nichts auszudrücken.

„Mei Sessel is noch waam …“ Da sprach er mich also in seinem Babba-Hesselbach-Idiom direkt an. Ich war gerade vorhin in den Lesesaal hineingegangen, ohne zu wissen, dass er sich dort aufhielt, und da hatte er plötzlich seinen Sessel neben dem Rundfunkgerät verlassen und war mir in der Mitte des Raumes entgegengekommen. Dabei gab es genügend andere freie Sitzmöglichkeiten, und ich steuerte nicht einmal seine Ecke an. Ich war perplex wie selten. Noch an den beiden vorangegangenen Tagen war es mir so vorgekommen, als ob sich seine Aufmerksamkeit mir gegenüber stark verringert hätte.
Ich sage mir, es ist nur ein harmloser Satz, bei einem kontaktfreudigen und dabei unbeholfenen Menschen wie ihm leicht erklärbar. Ja, das ist da unten eine weit verbreitete Redensart ... Aber sagt man es auch, wenn man bisher noch kein Wort miteinander gewechselt hat? Eher nicht. Dieser sehr vertrauliche Ton stand doch in auffälligem Widerspruch zum Stand unserer tatsächlichen Beziehungen, die ich kaum mit diesem Begriff bezeichnen kann, so zart angedeutet wie auch bereits ausgesprochen heikel sie schon sind. Tausend andere Redensarten hätten für eine erste Kontaktaufnahme näher gelegen. Und doch traf keine wie diese den Kern unseres Verhältnisses. Er schien mir sagen zu wollen: Da drüben, da spürst du noch den Abdruck meines Körpers, die Wärme meines Körpers, das ist es doch, was du suchst, ich weiß es ja … Er lächelte dabei und seine Stimme klang melodiös, wenn auch das Timbre etwas unrein war.
Ich reagierte zunächst nicht. Dann sagte ich knurrend – er hörte es wohl eben noch, als er den Raum verließ -: „Na gut“, als ob es mich wer weiß wie viel Überwindung koste, und steuerte scheinbar höchst widerwillig den mir überlassenen Sessel an. Er war tatsächlich noch körperwarm.
Ich versuchte zu lesen.
Eine knappe Viertelstunde später kam er wieder herein und stand längere Zeit neben mir am Fenster und blickte hinaus. Ich rührte mich nicht und sah ihn nicht an, bis er ging.
Sagte ich, er komme mir wenig intelligent vor? Offenbar kann er sehr schlagfertig sein. Rasch aufstehen und mit einer einladenden Handbewegung sagen: „Mei Sessel is noch waam …“ Nicht dumm.

Heute Nachmittag saß ich wieder einmal im Leseraum, in der Nähe des Empfängers. Heinz kam herein und nahm mir gegenüber Platz. Er sprach mich bald an, das eingestellte Programm gefalle ihm nicht. Ich sagte ihm, ich hätte den Sender nicht eingestellt, er könne einen anderen suchen. Ich sagte es in sachlichem Ton und so freundlich wie dabei möglich.
Er suchte die Wellen längere Zeit ab und fand doch nichts ihn Ansprechendes. Dann versuchte ich es, ebenso wenig erfolgreich. Währenddessen wechselten wir einige missmutige Worte darüber. Dann gaben wir es auf, und jeder von uns schien in seine Zeitung vertieft. Mir kam es so vor, als ob sich jetzt hinter seinem Missvergnügen Nervosität verberge und die Unzufriedenheit darüber, nicht wirklich an mich heranzukommen.
Ich griff zu einer Zeitung nach der anderen. Ich blätterte wie wild in den Gazetten. Heinz hatte sich scheinbar an einer Stelle festgelesen. Als ich aber hinübersah, entdeckte ich, dass er die Kleinanzeigen im Heimatblättchen zu studieren vorgab: Nachhilfeunterricht, Haushaltsauflösung, Schimmelbekämpfung …
Es war längst Kaffeezeit. Keiner von uns beiden stand auf, um wie gewöhnlich rasch ins Kasino zu gehen. Bald saßen wir allein im Lesezimmer. Es war schon gegen das Ende der Kaffeezeit, als einer von seinen Kollegen ihn suchen kam. Er folgte ihm hinüber. Da ging ich auch.
Schade, dass ich hier gewöhnlich nur die direkten, auf irgendeine Weise herausragenden Begegnungen zwischen uns aufschreibe. Ich müsste darstellen, wie sie sich während des Unterrichts, während der Mahlzeiten und bei anderen Gelegenheiten vorbereiten oder fortsetzen. Wenn da einer den anderen ertappt, wie er ihn beobachtet oder sich nur seiner Anwesenheit vergewissert oder seine Reaktion auf einen Scherz des Dozenten oder eines anderen Schülers feststellen will … Ich weiß nicht, wie diese Spannung aufgelöst werden soll. Ich jedenfalls bin nicht mehr in der Lage, mich selbst zu lösen.

Heinz ist allgemein beliebt, ich stelle es immer wieder fest. Er scheint mir dies vor allem seiner Burschikosität zu verdanken, die vollkommen naiv wirkt. Er ist sich des Charmes, den ihm sein jungenhaft-unbeholfenes Wesen verleiht, durchaus nicht bewusst. Er forciert ihn nicht und beutet ihn also nicht aus. Das ist es, was so gewinnend ist.
Für einen Mittzwanziger ist er noch erstaunlich kindlich in seinem Auftreten – und ist doch zugleich schon recht maskulin. Eben darin liegt der starke erotische Reiz. Er übertreibt es fast mit der Kameradschaftlichkeit, und die anderen übertreiben es auch im Verhältnis zu ihm. Keiner von uns achtzig wird häufiger freundschaftlich berührt oder geneckt. Er könnte der Beliebteste von uns allen sein. Zu seinem Glück fehlt ihm eines vollständig: Führungswille. Ich verabscheue diese Führungsstarken und ich liebe die, die sich nicht erhöhen, die nicht aufsteigen wollen. Ihnen, die sich einem nie überordnen, ordne ich mich so gern unter – ich möchte mich ihnen am liebsten unterwerfen.
Heinz ist sogar als Autofahrer sympathisch. Er fährt wenig und nur behutsam. Das oft so fanatische Interesse junger Männer an Motoren und ihrer Leistung ist ihm fremd. Er kümmert sich selten um seinen kleinen Wagen, der weder besonders herausgeputzt noch auch nur liebevoll gepflegt, allerdings auch nicht geradezu vernachlässigt ist. Talismane, Embleme und dergleichen fehlen. Im Wageninneren habe ich nur eine kleine, von der Decke hängende Vase mit Strohblumen entdeckt. Auf der Windschutzscheibe trägt ein deutlich angebrachter Aufkleber die Aufschrift: Der Mensch geht vor.
Ich frage mich, aus welcher Schicht er kommt. Eigentlich kann es nur das Kleinbürgertum sein. (Mein Vater ist ein Kleinbauer.)
Ich habe ja angefangen, ihn geradezu zu studieren. Zu diesem Zweck hat man mich gewiss nicht nach L. geschickt.

Zwei Tage in Berlin gewesen. Das ist doch meine Stadt. Es war sehr heiß dort, über dreißig Grad im Schatten, und dabei litt ich unter einer Erkältung. Ich konnte nicht in die Bars gehen, nur ins Kino. Ich sah zum ersten Mal Der Tod in Venedig von Visconti. Die Rolle des Tadzio schien mir schlecht besetzt. Kann man sich tatsächlich vorstellen, dass dieser weichliche Bursche in der Lage gewesen sein soll, einen Mann wie Aschenbach zu zerstören? Wenn das Tadzio ist, dann bin ich auf keinen Fall Aschenbach.
Jetzt fällt mir in L. vieles leichter. Mitten im Sommer denke ich vor allem an den November, an meine Rückkehr nach Berlin. So kann ich hier alles weniger schwer nehmen. Das gilt sogar in Bezug auf Heinz. Ihm gegenüber bin ich jetzt nicht nur äußerlich kühl, ich bin es wirklich. Ich kann mich nun ohne viel Mühe ganz beherrscht geben.
Dabei hat sich grundsätzlich zwischen uns nichts verändert. Wenn wir uns begegnen, merke ich, dass er noch immer neugierig auf mich ist. Er versucht schon mal, einen harmlosen, kleinen Dialog anzuknüpfen. Ich bleibe dann jeweils freundlich-unbeteiligt und knapp in meinen Antworten.

Auch hier ist mir wieder die Rolle des stolzen und herben Außenseiters zugefallen. Es ist wohl gesetzmäßig – Lust verschafft es mir nicht.
Die anderen stören mich häufig. Viele sind rücksichtslos. Der ewige Lärm im Haus! Wenn ich abends den Kinsey beiseite lege, möchte ich gerne acht bis neun Stunden schlafen, wirklich nur schlafen. Doch immer gibt es irgendeine Gruppe, die zu später Stunde unter Absingen volkstümlicher Lieder vom fröhlichen Umtrunk heimkehrt. Und irgendwo ist immer ein Einzelner, der vier oder fünf Etagen längere Zeit mit Türenschlagen, Gepolter und Geschrei terrorisiert. Welchen Druck spüren sie denn schon, den sie unbedingt weitergeben müssten?
Meine und ihre Situation sind grundverschieden. Der Aufenthalt hier in L. bedeutet für mich Einengung – Einschränkung meiner gewohnten Freiheit und Ungebundenheit. Für die meisten Kollegen sieht es anders aus. Sie sind auf Zeit ihren Familien entkommen, scheinen ein Joch vorübergehend abgestreift zu haben, und sie wollen diese einmalige Chance nutzen. Da sagte vorhin ein Enddreißiger, dem ich mich lächerlich überlegen fühle, diesen Abend wolle er unbedingt ausgehen – zu Hause könne er sich schließlich nicht voll laufen lassen.
Heinz allein verdanke ich es, dass die Bilanz hier für mich nicht negativ ausfällt. Ich sehe ihn immer noch gern an. Ich bin auf ihn angewiesen, um es hier aushalten zu können.
Ja, zwischen ihm und mir ist wieder alles beim Alten. Zwar versuche ich mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, ihn zu ignorieren, und das reizt ihn zu Gegenbewegungen, da er mein Desinteresse mit Recht nicht glaubwürdig findet. Er kontrolliert mich immer mal wieder, schaut bei Tisch fleißig herüber und versucht im Pissoir (wo wir uns, glaube ich, rein zufällig getroffen haben) eine Unterhaltung. Dann bleibe ich kühl, bin kurz angebunden, aus Vorsatz und da mir Berlin schon wieder näher liegt.

Zwischen ihm und mir ist jetzt ein Dauerschwebezustand erreicht. Ist dieser Status quo der Endzustand in unseren Beziehungen? (Denn natürlich ist es eine Art von Beziehung.) Soll ich mich damit abfinden? Ich werde wieder zunehmend unruhig. Unsere häufigen zwangsläufigen Begegnungen verstören mich tief. Meine Selbstbeherrschung ist nur noch äußerlich. Und ich beginne die Überzeugung zu verlieren, dass mein Verzicht auf ihn vernünftig ist.
Um dem zu entkommen, fahre ich schon am kommenden Wochenende wieder nach Berlin. Paetzold nimmt mich auch diesmal mit. Auf ihn ist Verlass.
 



 
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