Arno Abendschön
Mitglied
Zwei von fünf Klausuren sind schon geschrieben. Mein Optimismus scheint begründet gewesen zu sein – unser aller Optimismus. Auf Doktor Friedrichsen ist wenigstens dieses Mal Verlass.
Mit Heinz geht jetzt eine Veränderung vor sich. Noch letzte Woche las ich, wenn ich ihn sah, den Wunsch nach Austausch, nach Versöhnung, nach Harmonie von seinem Gesicht ab. Doch ich blieb mir selbst treu und das heißt: an der Oberfläche verhärtet. Nur meine Augen dürften verraten haben, wie es bei mir im Innersten aussieht.
Seit zwei, drei Tagen zeichnet sich etwas Neues auf seinem Gesicht ab, wenn er mich anschaut. Ja, er betrachtet mich jetzt ruhig - und nicht einmal selten. Ich entdecke bei ihm neuerdings Melancholie und Müdigkeit. So sah ich ihn bisher nie. Es beunruhigt mich.
Endgültig zurück in Berlin. (Ich weiß natürlich: Nichts ist endgültig.) Mit der schriftlichen Prüfung scheint alles gut gegangen. Und die Annehmlichkeiten des Lebens in dieser Stadt dringen mir allmählich wieder ins Bewusstsein, wenn auch auf einem Grund von Tristesse und Beschämung.
Am letzten Morgen, vor der Klausur, sah ich noch einige Male vom Frühstückstisch aus zu Heinz hinüber. Da bemerkte ich in seinem Ausdruck die Anzeichen von Enttäuschung und sogar von Verachtung. Er starrte mich einmal längere Zeit geradezu an. Dann zog er den Blick zurück, unendlich resigniert. Er schien sich damit endgültig von mir zurückgezogen zu haben. Ist wirklich nichts endgültig?
Als ich am Mittag, zur Abreise bereit, am Wagen stand und auf Kraushaar wartete, sah ich Heinz vom Parkplatz zum Hochhaus gehen. Er kam in zwei, drei Metern Entfernung an mir vorbei. Auf einmal schaute er schweigend herüber. Ich wollte ihm wenigstens noch zunicken, aber als ich die Gebärde endlich zustande brachte, hatte er sich schon wieder abgewandt. Gleich darauf kam Kraushaar und wir fuhren sofort ab.
Ich konnte nicht bei Paetzold mitfahren, er hatte noch einen Umweg zu machen. Kraushaar, der mir nichts zu sagen weiß und ich ihm auch nichts, war mir als Reisegefährte dieses Mal durchaus recht. Es war schon winterlich kalt, es hatte nachts ein wenig geschneit. Über L. und dem Tiefland lag ein dünnes weißes Leichentuch. Die Wagenheizung funktionierte nicht, wir froren bis Berlin erbärmlich. Ich musste an die Hinreise denken. Damals, im heißen Frühsommer, war Kraushaars Wagenheizung auch schon defekt gewesen – nur dass sie sich seinerzeit nicht hatte abstellen lassen. Von Anfang an war eben alles verkehrt gewesen.
Wenn ich in drei Wochen noch einmal für eine Nacht und einen halben Tag nach L. muss, nehme ich lieber das Flugzeug. Die mündliche Prüfung erstreckt sich insgesamt über mehrere Tage, wir haben uns ihr in kleinen Gruppen zu stellen. Ich glaube nicht, dass Heinz und ich derselben zugeteilt werden. In mir die Gewissheit: Ich werde ihn nicht mehr sehen. Das Recht auf noch einen Zufall habe ich verwirkt.
Ich werde mich dafür lange hassen.
*
Tatsächlich bin ich ihm nie mehr begegnet. Oder nur in einem Zwischenreich mit eigenen Gesetzen …
Ich werde mich lange hassen? Wie lange? Nicht jahrzehntelang.
Nach dieser zweifachen Prüfung – die eine hatte ich glatt bestanden, in der anderen vollkommen versagt – begann erst mein Erwachsenenleben. Und mit ihm eine scheinbar unendliche Reihe von Kontakten zu anderen Menschen, von den flüchtigsten bis zu den intimsten. Als sie ausklang, hatte ich wiederholt die Stadt gewechselt.
Ich bin sehr oft umgezogen … Bei jedem Wohnungswechsel gab es mehr einzupacken und wieder auszupacken, mehr Bücher, mehr Musik, mehr Landkarten, mehr Papiere. Die Aufzeichnungen aus L. nahm ich nur in die Hand, um sie in einen Umzugskarton zu legen und in der neuen Bleibe hinter einer Schranktür zwischen anderen Dokumenten einzuordnen. Bis eines Tages - - -
Wie alt allein schon das Papier ist. Ich kann es mit meinen Mitteln nicht restaurieren. Ich habe deshalb eine Abschrift angefertigt, ein neues zeitgemäßes Dokument. Hier und da habe ich den alten Text ein klein wenig redigiert, doch Sinn und Ablauf blieben dabei unangetastet.
Heinz ist nur noch ein Figürchen in meinen Erinnerungen gewesen. Jetzt überblicke ich erstmals den gesamten Ablauf von damals und dringe allmählich wieder in ihn ein. Ich erforsche mich, ob es hinter der Erzählung noch tiefere Schichten gibt, die sich damals der Beschreibung entzogen haben. Ich taste mich vorwärts. Allmählich wird mir bewusst, jene Fahrt im Lift aufwärts war die Mitte, der Angelpunkt der Geschichte. Ich habe das so bisher nicht aufgeschrieben, ich habe es noch nicht richtig erzählt. Ich kehre zu diesem Ausgangspunkt zurück …
Dieser Aufzug - der Lift in der Akademie von L. - muss schon viele Jahre auf dem Buckel haben, es ist mir bis jetzt nur immer entgangen. Ich bin zuerst allein in die leere Kabine getreten, nun springt Heinz, als die Tür sich eben zu schließen beginnt, zu mir herein. Ein kleiner Ruck geht infolgedessen durch das Gehäuse. Heinz blickt zu mir herüber, ich jedoch nicht zu ihm. Ich ignoriere ihn heute wieder einmal ostentativ. Daher wohl grüßt auch er mich jetzt nicht. Er drückt den Knopf für die Achte, der für die Siebente ist schon von mir betätigt worden. Dann geht die Tür zu und Sekunden später beginnen wir aufwärts zu schweben.
Das anfängliche Schaukeln der Kabine hat mich nervös gemacht. Jetzt glaube ich ein unbekanntes Geräusch zu hören und luge zu ihm hinüber, ob auch er etwas Verdächtiges wahrgenommen hat. Er scheint müde, beinahe erschöpft nach dem Fußballspiel, und lehnt gegen die Rückwand der Kabine. Ich sehe, sie vibriert deutlich und das teilt sich seinem Körper mit, er wird ein wenig durchgerüttelt. Es scheint ihm nicht lästig zu sein, er lässt es einfach geschehen. Er ist zwar groß und schlank, doch jetzt ein wenig in sich zusammengesunken.
Ich stelle mir plötzlich vor, der Lift könnte stecken bleiben. Wir würden für eine unbestimmte Zeit gemeinsam eingeschlossen sein und müssten uns zwangsläufig darüber austauschen. In dieser Lage würde fortgesetztes Schweigen unmöglich sein. Die Zwangslage würde vieles entschuldigen. Zuerst verwundern wir uns gemeinsam, dann finden wir uns in die Situation. Um diese Wartezeit von unbestimmter Dauer auszufüllen, beginnen wir erstmals ein wirklich persönliches Gespräch. Das ist eine Vorstellung von großem und intimem Reiz … Und ich fange an, mich über mich selbst zu ärgern: Das ist doch einfach nur abgeschmackt!
Ein Lift kann auch abstürzen. Es wird immer wieder versichert, das sei technisch ausgeschlossen, aber ich glaube es nicht. Jedes Sicherungssystem kann einmal versagen. Es würde sich sehr schnell abspielen – bevor noch ein Gespräch in Gang kommen könnte. Wie extrem unwahrscheinlich dieser Ablauf auch ist, mir ist es nicht mehr geheuer, ich werde unruhig.
Er hebt den Blick – vielleicht hat er etwas gespürt - und wir sehen uns in die Augen. Sein Ausdruck ist vollkommen neutral. Eben das stört mich. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich sage: Müde? Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich ihm eine Frage stelle.
Er antwortet nicht. Fast scheint es, als sei er ein wenig unangenehm berührt. Über sein Gesicht huscht etwas Verwundertes, ja sogar Abwehrendes. Dann geht etwas in ihm und mit ihm vor. Er macht mit dem Oberkörper eine Vierteldrehung auf mich zu, löst sich jedoch nicht von der Liftwand, die er jetzt nur noch mit dem Schultereckgelenk berührt. Er hebt den rechten Unterarm bis in Brusthöhe, so dass seine Hohlhand beinahe aufliegt. Dann bewegt er die Hand erst in meine Richtung, doch ohne sie zu wenden, und lässt sie anschließend auf sich selbst zurücksinken. Das wiederholt er so mehrmals. Ich verstehe, es ist ein Zeichen, eine Aufforderung. Ich gehe auf ihn zu. Er umfasst meinen Hinterkopf und zieht ihn zu sich heran.
Zunächst geschieht nichts weiter. Ich nehme vieles wahr: seinen Atem, seinen Herzschlag, den Schweißfilm an seinem Hals. Ich weiß nur, so habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist sehr einfach. Beieinander sein. Ausatmen. Frieden. Einfach köstlich
Ich wundere mich nicht mehr, wie lange die Fahrt hinauf dauert. Vielleicht kam es mir vor Sekunden – vor Minuten? – noch so vor, als glitten wir länger und langsamer als gewöhnlich in die Höhe.
Als sich die Tür öffnet, löse ich mich nicht von ihm. Komm, flüstere ich, ich will dir was zeigen … Ich muss ihn nicht mit mir ziehen, er kommt wie von selbst mit hinaus, eine gleichförmige Bewegung von uns beiden.
Wir haben die Kabine verlassen und müssen nach rechts gehen, um die Ecke des Fahrstuhlschachts herum. Ich kenne ja den Weg, den Heinz noch nie zurückgelegt hat. Ich trete zurück bis an die Wand, um ihm, dem stumm fragend links von mir Stehenden, den Weiterweg mit einer Handbewegung anzudeuten, ihn vorangehen zu lassen. Heinz gerät mir dabei für zwei Sekunden aus dem Blickfeld, er scheint weiter nach links auszuweichen, damit wir einen kleinen Bogen beschreiben können. Unmittelbar danach sehe ich ihn rechts von mir gehen: als wäre hinter mir keine Wand aus Stahlbeton gewesen. Was ist geschehen?
Es sieht hier aus wie in einem Hochhaus, es ist aber keines, es hat nur sechs Etagen. Damit will nun ich ihn verblüffen. Doch nimmt er es gleichmütig auf und spricht immer noch nicht.
Zehn Meter weiter und wir stehen vor meiner Tür. Ich öffne sie und lasse ihm auch hier den Vortritt. Vielleicht hat er keinen Vorraum erwartet, ich muss auch das noch erklären. Wir sind hier tatsächlich nicht in der Siebten, es ist die Fünfte. Die Vorletzte … Die Wohnung über mir steht leer, schon seit ich hier eingezogen bin. Wohnungen in der Einflugschneise lassen sich schwer vermitteln. Aber manchmal höre ich sehr spät abends oder ganz früh morgens Schritte da oben. Das ist doch keine Zeit, um etwas zu besichtigen. Als ich die Tür hinter uns schließe, will ich noch einen Witz machen: Ich habe schon manchmal gedacht, ob du nicht heimlich hier eingezogen bist. Und ich glaube, er lächelt tatsächlich, zum ersten Mal jetzt.
Rechts geht die Küche ab. Sie liegt nach Norden und ist groß genug, um an einem kleinen Tisch essen zu können. Wenn ich da sitze, schweift mein Blick über die Friedhöfe der nahen Umgebung. Ich esse und trinke und denke an die Vielzahl der Toten da unten. Gebein und Asche. Nein, ich will jetzt nicht mit ihm in der Küche sein.
Wir betreten das Wohnzimmer. Es geht nach Westen. Man könnte von hier lange direkt in den Sonnenuntergang sehen und würde dabei vielleicht erblinden, wenn zum Glück nicht der Hochhausblock schräg gegenüber die Sicht versperrte. Im Sommer wird er zum größten Teil durch hochgewachsene Birken verdeckt. Ich sehe das gerne, wende ich mich wieder an ihn, der noch in der Zimmermitte steht, wenn der Sommerwind im Birkenlaub spielt. Er antwortet mir nicht, sieht mich nur ernsthaft an, wie vorhin schon im Lift. Übrigens ist es wieder Spätherbst, und durch die Verglasung der Loggia hindurch kommt das Filigran der entlaubten Zweige, vom Zimmer aus gesehen, nicht recht zur Geltung.
Obwohl ich rundum Schallschutzfenster habe, hören wir jetzt eine Maschine im Anflug auf Tegel. Ich drücke ihn in einen Sessel und rücke mit dem anderen etwas an ihn heran. Jetzt erst betrachte ich ihn länger und genauer. Er trägt noch denselben Bart und scheint ihn gleichzeitig abgenommen zu haben, wie damals im Herbst. Ich sehe abwechselnd wirre blonde Strähnen und glatte, helle junge Haut – changierend an denselben Partien. Das irritiert mich etwas und um es zu überspielen, fahre ich fort: Ja, zum Schluss bin ich also wieder in Berlin angekommen. Und du? Vierzig Jahre! Fast vierzig Jahre …
Mir scheint, er will jetzt etwas sagen. Vielleicht will ich es gerade nicht hören? Ich hebe meine rechte Hand:
Nein, sag noch nichts, sag jetzt nichts …Was könntest du mir schon erzählen? Was könntest du mir noch erzählen, was ich nicht schon weiß? Ja, natürlich, wir können darüber noch reden, später …
Du schaust dich um – gefällt es dir hier? Es war nicht einfach, hier alles unterzubringen. Ich habe mich verkleinert. Komisch, erst vergrößert man sich, um sich hinterher zu verkleinern. Alle machen es so, ich habe noch keinen Sinn dahinter entdeckt. Ich habe meine Bücher fast alle mitnehmen können. Ist auch alles wieder alphabetisch einsortiert, von Albee, Edward, bis Woolf, Virginia. Darauf wenigstens bin ich stolz, worauf denn sonst schon?
Ob ich das alles noch einmal lese? Ich weiß es nicht, vermutlich nur einen Bruchteil … Das bringt mich auf etwas anderes. Wir sammeln doch permanent, vom ersten Tag nach der Geburt an, ja auch schon vor ihr als Embryo, wir sammeln Eindrücke, Erfahrungen - und wie viele davon machen wir uns später zunutze? Was für eine Vergeudung, was für eine gigantische Zeitverschwendung! Man müsste sich von Anfang an auf das für einen Wesentliche konzentrieren können …
Du kennst dich hier noch nicht aus, du kennst den Wohnungsgrundriss noch nicht ganz. Hinter der Tür dahinten liegt ein zweiter kleiner Flur und von dem geht erst das Schlafzimmer ab. Und auch das Bad – willst du duschen? Ich glaube, du hast nach dem Sport noch nicht geduscht …
Ich habe nie in einem Hochhaus gewohnt, abgesehen natürlich von dieser verdammten Akademie. Ich habe meistens eine Wohnung im Erdgeschoss gehabt. Weißt du warum? Um schneller hinauszukommen. War mir immer unangenehm, im Treppenhaus oder im Lift Leuten zu begegnen. Es wird stets erwartet, dass du freundlich und aufgeschlossen bist, obwohl du es nicht oder gerade eben nicht bist. Man setzt dann schnell eine Maske auf, eine verlogene Maske … Damals war es genau umgekehrt. Ich war so froh, wenn du auch eingestiegen und mit hinaufgefahren bist … und ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Du hast es trotzdem gewusst. Wir haben doch immer alles gewusst … und wir haben gewusst, dass wir gewusst haben. Es war auch eine Maske, bei mir, aber verlogen war sie nicht. Das weißt du doch noch?
Mit dir Lift fahren, das war damals entschieden das Beste. Ich war dir ganz nah und konnte nichts tun. Ich war sicher, sicher vor mir und vor dir. Ein selten reines Vergnügen. Und ich glaube, etwas in der Art ist später nie mehr gekommen.
Vielleicht habe ich vorhin den Faden verloren, ich wollte auf Folgendes hinaus: Wir machen so viele Erfahrungen und können so wenig Gebrauch von den meisten machen. Doch die Zeit damals, die hat mich, glaube ich, auf Dauer verändert. So etwas wie mit dir ist mir nicht mehr passiert. Na ja, es gab eben keinen zweiten in deiner Art. Nicht Mensch, nicht Tier, vielleicht –
Warum bin ich zurückgekommen in die Stadt hier? Ich weiß es wirklich nicht. Es scheint meine Endstation zu sein. Sehr passend dazu das Haus: obwohl nur sechs Etagen hoch, doch einer von den Türmen des Schweigens, glaube ich …
Er wird undeutlicher vor meinen Augen, sein Profil unschärfer. Es läuft nicht gut bisher. Dieses Mal wenigstens darf es kein Monolog bleiben. Ich muss ihn zum Reden bringen.
Merkwürdig, wie wenig du dich verändert hast. Ich weiß nicht, wie alt du jetzt bist, vorausgesetzt du hast überhaupt noch ein Alter. Woran ich, entschuldige, zu zweifeln beginne. Kennst du die Geschichte von Hebel, in der der tote junge Bräutigam sich jahrzehntelang frisch erhält und die überlebende Braut auf ganz gewöhnliche Weise altert?
Du wirkst noch immer so auf mich, dass ich gleich den Arm um dich legen möchte. Zutraulich und schüchtern. Um an irgendein Ziel zu gelangen, kanntest du immer bloß zwei Mittel: dich den anderen mit nackter Brust zu präsentieren oder dich vor ihnen zum Affen zu machen. Ich bitte dich, wie weit kommt man denn damit? Du musst stark darunter gelitten haben, auch du wirst gescheitert sein …
Ich kann mir den Rest ganz gut selbst ausmalen. Wie du dich, zurück in Darmstadt, gezwungen hast, gezwungen zur Freundlichkeit, zum Weitermachen. Und dann die Heimlichkeiten, das Doppelleben, das dir nicht lag und nie gelingen wollte. Alle wussten schließlich über dich Bescheid. Nicht Mensch nicht Tier? Wenn sie dich nicht am Ende für einen Trottel gehalten haben, einen Trottel auf Abwegen … Verzeih, verzeih mir.
Erzähl mir nichts von der Familie. Auch nichts von Kollegen. Bitte nichts von Frankfurt und dem Grüneburgpark. Ich weiß nicht, ob ich es aushalten kann, wenn von du von all deinen Enttäuschungen anfangen würdest. Von Infektionen, von Krankheit, von … Du wirst doch nicht ohne Grund jetzt gekommen sein. Mir sozusagen erschienen.
Nein, erzähl es mir doch. Ich will auch das noch wissen. Wenn du nur redest …
Jetzt steht er auf und geht zwei Schritte in Richtung des Schlafzimmers. Dann dreht er sich zu mir um und spricht doch noch und sagt leise und lächelnd: Ich hab es nicht so gut gehabt, weißt du … Ach, du, sagt er, du …
Ist er der Bruder Tod?
Wir gehen zusammen hinüber.
Mit Heinz geht jetzt eine Veränderung vor sich. Noch letzte Woche las ich, wenn ich ihn sah, den Wunsch nach Austausch, nach Versöhnung, nach Harmonie von seinem Gesicht ab. Doch ich blieb mir selbst treu und das heißt: an der Oberfläche verhärtet. Nur meine Augen dürften verraten haben, wie es bei mir im Innersten aussieht.
Seit zwei, drei Tagen zeichnet sich etwas Neues auf seinem Gesicht ab, wenn er mich anschaut. Ja, er betrachtet mich jetzt ruhig - und nicht einmal selten. Ich entdecke bei ihm neuerdings Melancholie und Müdigkeit. So sah ich ihn bisher nie. Es beunruhigt mich.
Endgültig zurück in Berlin. (Ich weiß natürlich: Nichts ist endgültig.) Mit der schriftlichen Prüfung scheint alles gut gegangen. Und die Annehmlichkeiten des Lebens in dieser Stadt dringen mir allmählich wieder ins Bewusstsein, wenn auch auf einem Grund von Tristesse und Beschämung.
Am letzten Morgen, vor der Klausur, sah ich noch einige Male vom Frühstückstisch aus zu Heinz hinüber. Da bemerkte ich in seinem Ausdruck die Anzeichen von Enttäuschung und sogar von Verachtung. Er starrte mich einmal längere Zeit geradezu an. Dann zog er den Blick zurück, unendlich resigniert. Er schien sich damit endgültig von mir zurückgezogen zu haben. Ist wirklich nichts endgültig?
Als ich am Mittag, zur Abreise bereit, am Wagen stand und auf Kraushaar wartete, sah ich Heinz vom Parkplatz zum Hochhaus gehen. Er kam in zwei, drei Metern Entfernung an mir vorbei. Auf einmal schaute er schweigend herüber. Ich wollte ihm wenigstens noch zunicken, aber als ich die Gebärde endlich zustande brachte, hatte er sich schon wieder abgewandt. Gleich darauf kam Kraushaar und wir fuhren sofort ab.
Ich konnte nicht bei Paetzold mitfahren, er hatte noch einen Umweg zu machen. Kraushaar, der mir nichts zu sagen weiß und ich ihm auch nichts, war mir als Reisegefährte dieses Mal durchaus recht. Es war schon winterlich kalt, es hatte nachts ein wenig geschneit. Über L. und dem Tiefland lag ein dünnes weißes Leichentuch. Die Wagenheizung funktionierte nicht, wir froren bis Berlin erbärmlich. Ich musste an die Hinreise denken. Damals, im heißen Frühsommer, war Kraushaars Wagenheizung auch schon defekt gewesen – nur dass sie sich seinerzeit nicht hatte abstellen lassen. Von Anfang an war eben alles verkehrt gewesen.
Wenn ich in drei Wochen noch einmal für eine Nacht und einen halben Tag nach L. muss, nehme ich lieber das Flugzeug. Die mündliche Prüfung erstreckt sich insgesamt über mehrere Tage, wir haben uns ihr in kleinen Gruppen zu stellen. Ich glaube nicht, dass Heinz und ich derselben zugeteilt werden. In mir die Gewissheit: Ich werde ihn nicht mehr sehen. Das Recht auf noch einen Zufall habe ich verwirkt.
Ich werde mich dafür lange hassen.
*
Tatsächlich bin ich ihm nie mehr begegnet. Oder nur in einem Zwischenreich mit eigenen Gesetzen …
Ich werde mich lange hassen? Wie lange? Nicht jahrzehntelang.
Nach dieser zweifachen Prüfung – die eine hatte ich glatt bestanden, in der anderen vollkommen versagt – begann erst mein Erwachsenenleben. Und mit ihm eine scheinbar unendliche Reihe von Kontakten zu anderen Menschen, von den flüchtigsten bis zu den intimsten. Als sie ausklang, hatte ich wiederholt die Stadt gewechselt.
Ich bin sehr oft umgezogen … Bei jedem Wohnungswechsel gab es mehr einzupacken und wieder auszupacken, mehr Bücher, mehr Musik, mehr Landkarten, mehr Papiere. Die Aufzeichnungen aus L. nahm ich nur in die Hand, um sie in einen Umzugskarton zu legen und in der neuen Bleibe hinter einer Schranktür zwischen anderen Dokumenten einzuordnen. Bis eines Tages - - -
Wie alt allein schon das Papier ist. Ich kann es mit meinen Mitteln nicht restaurieren. Ich habe deshalb eine Abschrift angefertigt, ein neues zeitgemäßes Dokument. Hier und da habe ich den alten Text ein klein wenig redigiert, doch Sinn und Ablauf blieben dabei unangetastet.
Heinz ist nur noch ein Figürchen in meinen Erinnerungen gewesen. Jetzt überblicke ich erstmals den gesamten Ablauf von damals und dringe allmählich wieder in ihn ein. Ich erforsche mich, ob es hinter der Erzählung noch tiefere Schichten gibt, die sich damals der Beschreibung entzogen haben. Ich taste mich vorwärts. Allmählich wird mir bewusst, jene Fahrt im Lift aufwärts war die Mitte, der Angelpunkt der Geschichte. Ich habe das so bisher nicht aufgeschrieben, ich habe es noch nicht richtig erzählt. Ich kehre zu diesem Ausgangspunkt zurück …
Dieser Aufzug - der Lift in der Akademie von L. - muss schon viele Jahre auf dem Buckel haben, es ist mir bis jetzt nur immer entgangen. Ich bin zuerst allein in die leere Kabine getreten, nun springt Heinz, als die Tür sich eben zu schließen beginnt, zu mir herein. Ein kleiner Ruck geht infolgedessen durch das Gehäuse. Heinz blickt zu mir herüber, ich jedoch nicht zu ihm. Ich ignoriere ihn heute wieder einmal ostentativ. Daher wohl grüßt auch er mich jetzt nicht. Er drückt den Knopf für die Achte, der für die Siebente ist schon von mir betätigt worden. Dann geht die Tür zu und Sekunden später beginnen wir aufwärts zu schweben.
Das anfängliche Schaukeln der Kabine hat mich nervös gemacht. Jetzt glaube ich ein unbekanntes Geräusch zu hören und luge zu ihm hinüber, ob auch er etwas Verdächtiges wahrgenommen hat. Er scheint müde, beinahe erschöpft nach dem Fußballspiel, und lehnt gegen die Rückwand der Kabine. Ich sehe, sie vibriert deutlich und das teilt sich seinem Körper mit, er wird ein wenig durchgerüttelt. Es scheint ihm nicht lästig zu sein, er lässt es einfach geschehen. Er ist zwar groß und schlank, doch jetzt ein wenig in sich zusammengesunken.
Ich stelle mir plötzlich vor, der Lift könnte stecken bleiben. Wir würden für eine unbestimmte Zeit gemeinsam eingeschlossen sein und müssten uns zwangsläufig darüber austauschen. In dieser Lage würde fortgesetztes Schweigen unmöglich sein. Die Zwangslage würde vieles entschuldigen. Zuerst verwundern wir uns gemeinsam, dann finden wir uns in die Situation. Um diese Wartezeit von unbestimmter Dauer auszufüllen, beginnen wir erstmals ein wirklich persönliches Gespräch. Das ist eine Vorstellung von großem und intimem Reiz … Und ich fange an, mich über mich selbst zu ärgern: Das ist doch einfach nur abgeschmackt!
Ein Lift kann auch abstürzen. Es wird immer wieder versichert, das sei technisch ausgeschlossen, aber ich glaube es nicht. Jedes Sicherungssystem kann einmal versagen. Es würde sich sehr schnell abspielen – bevor noch ein Gespräch in Gang kommen könnte. Wie extrem unwahrscheinlich dieser Ablauf auch ist, mir ist es nicht mehr geheuer, ich werde unruhig.
Er hebt den Blick – vielleicht hat er etwas gespürt - und wir sehen uns in die Augen. Sein Ausdruck ist vollkommen neutral. Eben das stört mich. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich sage: Müde? Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich ihm eine Frage stelle.
Er antwortet nicht. Fast scheint es, als sei er ein wenig unangenehm berührt. Über sein Gesicht huscht etwas Verwundertes, ja sogar Abwehrendes. Dann geht etwas in ihm und mit ihm vor. Er macht mit dem Oberkörper eine Vierteldrehung auf mich zu, löst sich jedoch nicht von der Liftwand, die er jetzt nur noch mit dem Schultereckgelenk berührt. Er hebt den rechten Unterarm bis in Brusthöhe, so dass seine Hohlhand beinahe aufliegt. Dann bewegt er die Hand erst in meine Richtung, doch ohne sie zu wenden, und lässt sie anschließend auf sich selbst zurücksinken. Das wiederholt er so mehrmals. Ich verstehe, es ist ein Zeichen, eine Aufforderung. Ich gehe auf ihn zu. Er umfasst meinen Hinterkopf und zieht ihn zu sich heran.
Zunächst geschieht nichts weiter. Ich nehme vieles wahr: seinen Atem, seinen Herzschlag, den Schweißfilm an seinem Hals. Ich weiß nur, so habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist sehr einfach. Beieinander sein. Ausatmen. Frieden. Einfach köstlich
Ich wundere mich nicht mehr, wie lange die Fahrt hinauf dauert. Vielleicht kam es mir vor Sekunden – vor Minuten? – noch so vor, als glitten wir länger und langsamer als gewöhnlich in die Höhe.
Als sich die Tür öffnet, löse ich mich nicht von ihm. Komm, flüstere ich, ich will dir was zeigen … Ich muss ihn nicht mit mir ziehen, er kommt wie von selbst mit hinaus, eine gleichförmige Bewegung von uns beiden.
Wir haben die Kabine verlassen und müssen nach rechts gehen, um die Ecke des Fahrstuhlschachts herum. Ich kenne ja den Weg, den Heinz noch nie zurückgelegt hat. Ich trete zurück bis an die Wand, um ihm, dem stumm fragend links von mir Stehenden, den Weiterweg mit einer Handbewegung anzudeuten, ihn vorangehen zu lassen. Heinz gerät mir dabei für zwei Sekunden aus dem Blickfeld, er scheint weiter nach links auszuweichen, damit wir einen kleinen Bogen beschreiben können. Unmittelbar danach sehe ich ihn rechts von mir gehen: als wäre hinter mir keine Wand aus Stahlbeton gewesen. Was ist geschehen?
Es sieht hier aus wie in einem Hochhaus, es ist aber keines, es hat nur sechs Etagen. Damit will nun ich ihn verblüffen. Doch nimmt er es gleichmütig auf und spricht immer noch nicht.
Zehn Meter weiter und wir stehen vor meiner Tür. Ich öffne sie und lasse ihm auch hier den Vortritt. Vielleicht hat er keinen Vorraum erwartet, ich muss auch das noch erklären. Wir sind hier tatsächlich nicht in der Siebten, es ist die Fünfte. Die Vorletzte … Die Wohnung über mir steht leer, schon seit ich hier eingezogen bin. Wohnungen in der Einflugschneise lassen sich schwer vermitteln. Aber manchmal höre ich sehr spät abends oder ganz früh morgens Schritte da oben. Das ist doch keine Zeit, um etwas zu besichtigen. Als ich die Tür hinter uns schließe, will ich noch einen Witz machen: Ich habe schon manchmal gedacht, ob du nicht heimlich hier eingezogen bist. Und ich glaube, er lächelt tatsächlich, zum ersten Mal jetzt.
Rechts geht die Küche ab. Sie liegt nach Norden und ist groß genug, um an einem kleinen Tisch essen zu können. Wenn ich da sitze, schweift mein Blick über die Friedhöfe der nahen Umgebung. Ich esse und trinke und denke an die Vielzahl der Toten da unten. Gebein und Asche. Nein, ich will jetzt nicht mit ihm in der Küche sein.
Wir betreten das Wohnzimmer. Es geht nach Westen. Man könnte von hier lange direkt in den Sonnenuntergang sehen und würde dabei vielleicht erblinden, wenn zum Glück nicht der Hochhausblock schräg gegenüber die Sicht versperrte. Im Sommer wird er zum größten Teil durch hochgewachsene Birken verdeckt. Ich sehe das gerne, wende ich mich wieder an ihn, der noch in der Zimmermitte steht, wenn der Sommerwind im Birkenlaub spielt. Er antwortet mir nicht, sieht mich nur ernsthaft an, wie vorhin schon im Lift. Übrigens ist es wieder Spätherbst, und durch die Verglasung der Loggia hindurch kommt das Filigran der entlaubten Zweige, vom Zimmer aus gesehen, nicht recht zur Geltung.
Obwohl ich rundum Schallschutzfenster habe, hören wir jetzt eine Maschine im Anflug auf Tegel. Ich drücke ihn in einen Sessel und rücke mit dem anderen etwas an ihn heran. Jetzt erst betrachte ich ihn länger und genauer. Er trägt noch denselben Bart und scheint ihn gleichzeitig abgenommen zu haben, wie damals im Herbst. Ich sehe abwechselnd wirre blonde Strähnen und glatte, helle junge Haut – changierend an denselben Partien. Das irritiert mich etwas und um es zu überspielen, fahre ich fort: Ja, zum Schluss bin ich also wieder in Berlin angekommen. Und du? Vierzig Jahre! Fast vierzig Jahre …
Mir scheint, er will jetzt etwas sagen. Vielleicht will ich es gerade nicht hören? Ich hebe meine rechte Hand:
Nein, sag noch nichts, sag jetzt nichts …Was könntest du mir schon erzählen? Was könntest du mir noch erzählen, was ich nicht schon weiß? Ja, natürlich, wir können darüber noch reden, später …
Du schaust dich um – gefällt es dir hier? Es war nicht einfach, hier alles unterzubringen. Ich habe mich verkleinert. Komisch, erst vergrößert man sich, um sich hinterher zu verkleinern. Alle machen es so, ich habe noch keinen Sinn dahinter entdeckt. Ich habe meine Bücher fast alle mitnehmen können. Ist auch alles wieder alphabetisch einsortiert, von Albee, Edward, bis Woolf, Virginia. Darauf wenigstens bin ich stolz, worauf denn sonst schon?
Ob ich das alles noch einmal lese? Ich weiß es nicht, vermutlich nur einen Bruchteil … Das bringt mich auf etwas anderes. Wir sammeln doch permanent, vom ersten Tag nach der Geburt an, ja auch schon vor ihr als Embryo, wir sammeln Eindrücke, Erfahrungen - und wie viele davon machen wir uns später zunutze? Was für eine Vergeudung, was für eine gigantische Zeitverschwendung! Man müsste sich von Anfang an auf das für einen Wesentliche konzentrieren können …
Du kennst dich hier noch nicht aus, du kennst den Wohnungsgrundriss noch nicht ganz. Hinter der Tür dahinten liegt ein zweiter kleiner Flur und von dem geht erst das Schlafzimmer ab. Und auch das Bad – willst du duschen? Ich glaube, du hast nach dem Sport noch nicht geduscht …
Ich habe nie in einem Hochhaus gewohnt, abgesehen natürlich von dieser verdammten Akademie. Ich habe meistens eine Wohnung im Erdgeschoss gehabt. Weißt du warum? Um schneller hinauszukommen. War mir immer unangenehm, im Treppenhaus oder im Lift Leuten zu begegnen. Es wird stets erwartet, dass du freundlich und aufgeschlossen bist, obwohl du es nicht oder gerade eben nicht bist. Man setzt dann schnell eine Maske auf, eine verlogene Maske … Damals war es genau umgekehrt. Ich war so froh, wenn du auch eingestiegen und mit hinaufgefahren bist … und ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Du hast es trotzdem gewusst. Wir haben doch immer alles gewusst … und wir haben gewusst, dass wir gewusst haben. Es war auch eine Maske, bei mir, aber verlogen war sie nicht. Das weißt du doch noch?
Mit dir Lift fahren, das war damals entschieden das Beste. Ich war dir ganz nah und konnte nichts tun. Ich war sicher, sicher vor mir und vor dir. Ein selten reines Vergnügen. Und ich glaube, etwas in der Art ist später nie mehr gekommen.
Vielleicht habe ich vorhin den Faden verloren, ich wollte auf Folgendes hinaus: Wir machen so viele Erfahrungen und können so wenig Gebrauch von den meisten machen. Doch die Zeit damals, die hat mich, glaube ich, auf Dauer verändert. So etwas wie mit dir ist mir nicht mehr passiert. Na ja, es gab eben keinen zweiten in deiner Art. Nicht Mensch, nicht Tier, vielleicht –
Warum bin ich zurückgekommen in die Stadt hier? Ich weiß es wirklich nicht. Es scheint meine Endstation zu sein. Sehr passend dazu das Haus: obwohl nur sechs Etagen hoch, doch einer von den Türmen des Schweigens, glaube ich …
Er wird undeutlicher vor meinen Augen, sein Profil unschärfer. Es läuft nicht gut bisher. Dieses Mal wenigstens darf es kein Monolog bleiben. Ich muss ihn zum Reden bringen.
Merkwürdig, wie wenig du dich verändert hast. Ich weiß nicht, wie alt du jetzt bist, vorausgesetzt du hast überhaupt noch ein Alter. Woran ich, entschuldige, zu zweifeln beginne. Kennst du die Geschichte von Hebel, in der der tote junge Bräutigam sich jahrzehntelang frisch erhält und die überlebende Braut auf ganz gewöhnliche Weise altert?
Du wirkst noch immer so auf mich, dass ich gleich den Arm um dich legen möchte. Zutraulich und schüchtern. Um an irgendein Ziel zu gelangen, kanntest du immer bloß zwei Mittel: dich den anderen mit nackter Brust zu präsentieren oder dich vor ihnen zum Affen zu machen. Ich bitte dich, wie weit kommt man denn damit? Du musst stark darunter gelitten haben, auch du wirst gescheitert sein …
Ich kann mir den Rest ganz gut selbst ausmalen. Wie du dich, zurück in Darmstadt, gezwungen hast, gezwungen zur Freundlichkeit, zum Weitermachen. Und dann die Heimlichkeiten, das Doppelleben, das dir nicht lag und nie gelingen wollte. Alle wussten schließlich über dich Bescheid. Nicht Mensch nicht Tier? Wenn sie dich nicht am Ende für einen Trottel gehalten haben, einen Trottel auf Abwegen … Verzeih, verzeih mir.
Erzähl mir nichts von der Familie. Auch nichts von Kollegen. Bitte nichts von Frankfurt und dem Grüneburgpark. Ich weiß nicht, ob ich es aushalten kann, wenn von du von all deinen Enttäuschungen anfangen würdest. Von Infektionen, von Krankheit, von … Du wirst doch nicht ohne Grund jetzt gekommen sein. Mir sozusagen erschienen.
Nein, erzähl es mir doch. Ich will auch das noch wissen. Wenn du nur redest …
Jetzt steht er auf und geht zwei Schritte in Richtung des Schlafzimmers. Dann dreht er sich zu mir um und spricht doch noch und sagt leise und lächelnd: Ich hab es nicht so gut gehabt, weißt du … Ach, du, sagt er, du …
Ist er der Bruder Tod?
Wir gehen zusammen hinüber.