Nicht zuhaus an Weihnachten

“Nein, ich will das nicht!”, ertönte es in ihm. Großer Widerstand. Aber er sagte es nicht laut. “Vergiss es du kannst mich nicht überzeugen!”, meldete sich die Stimme in ihm erneut. Was die Leute sehen konnten war der sture Gesichtsausdruck des 14-jährigen und eine abweisende Körperhaltung. “Schau doch wie schön der Weihnachtsbaum ist Gregor!”, sagte seine Betreuerin mit dem falschen Lächeln, das sie so oft aufsetzte, wenn sie mit ihm redete. “Hilf uns doch beim Schmücken!”, forderte sie ihn auf. “Keine Lust.”, murmelte er und drehte sich Richtung Türe. Elena und die kleine Sandra waren gerade dabei die roten und goldenen weihnachtlichen Kugeln aufzuhängen. Doch er hatte nur in den Raum geschaut um zu sehen, ob der Baum wieder mitten im Weg zur Speisekammer stand. Natürlich war er das! “Toll gemacht, übrigens!”, sagte er und ignorierte die vorherigen Aufforderungen der Erzieherin, “wie soll ich hier vorbeikommen, der Baum steht voll im Weg!”. Elena machte einen komischen, vielleicht etwas gequälten Gesichtsausdruck aber antwortete im freundlichen Ton: “Da passt du doch locker noch vorbei!” “Nein eben nicht!”, rief Gregor und wurde wütend. Jeder Mensch auf der Welt konnte doch klar sehen, dass er niemals an dem blöden Christbaum vorbeikommen würde ohne ihn dabei komplett abzuschmücken oder sich an den gefährlichen Nadeln zu verletzen. Obwohl er eigentlich schon fast wieder auf dem Weg in sein Zimmer war drehte er sich jetzt doch nochmal Richtung Elena, um in aller Deutlichkeit aufzeigen zu können wie sie gerade an der Realität vorbeigeredet hatte. Er deutete mit dem Finger auf die Lücke zwischen Wand und Nadelbaum: “Das sind allerhöchstens 30cm! Ich bin aber mindestens 50cm breit! Ich komme nicht vorbei!”, polterte er und sein Atem ging schneller. “Schau mal Gregor, wenn du dich seitlich drehst dann geht das doch locker.”, meinte die Betreuerin und demonstrierte ihm wie sie das meinte. “Das ist ein bisschen anstrengender als sonst aber wir haben keinen besseren Platz für den Weihnachtsbaum. Das verstehst du doch oder?” Gregor stand kurz sprachlos da und man konnte fast sehen wie es in seinem Gehirn ratterte als es auf Hochtouren arbeitend, nach Argumenten für seine Position suchte. Es dauerte ein paar Sekunden doch dann präsentierte er sein Ergebnis: “Ich bin viel zu dick um da seitlich durchzupassen! Da schlitz ich mir den ganzen Bauch auf!”, kam es aus ihm heraus und bevor Elena etwas darauf erwidern konnte stapfte er schnellstens und zornig aus dem Raum, die Treppe hoch und in sein Zimmer.
Was bildete sie sich eigentlich ein so fahrlässig seine Gesundheit zu gefährden! Natürlich war es kein Problem für Elena und Sandra in die Speisekammer zu kommen, sie waren ja auch viel dünner als er. An ihn hatten sie dabei nicht gedacht. Wie sollte er sich jetzt eine Cola holen? Geht nicht. Das musste ab jetzt immer Elena für ihn machen. Selber schuld! In seinem Zimmer schmiss er sich aufs Bett und schaute TikTok-Videos auf seinem Handy. 2 Sekunden, weiter, 5 Sekunden, weiter, 1 Sekunde, weiter, 10 Sekunden, weiter. Das gefiel ihm. Wenn ein Video zu langweilig war bekam man sofort das nächste präsentiert. Angenehme Ablenkung und hin und wieder musste er lachen, z. B. wenn man sehen konnte wie andere geprankt wurden.
Doch von unten konnte er immer noch das dumme Gelächter der anderen hören, die wohl ihren Spaß beim Schmücken des Weihnachtsbaumes hatten. Sandra war eine richtige Verräterin. Die zwölf-jährige war immer seiner Meinung, wenn die beiden über die Erzieherin herzogen. Doch jedes Mal wieder enttäuschte sie ihn, indem sie das Lager wechselte und die dummen Spielchen von Elena mitmachte! Während er noch mit seinen Gedanken beschäftigt war hörte er Schritte die Treppe heraufkommen und dann klopfte es auch schon an der Tür. “Gregor magst du uns helfen den Engel auf der Spitze des Christbaums anzubringen?”, fragte es durch die Tür. Die verhasste Stimme seiner Erzieherin. “Nein, das könnt ihr selber machen!”, rief er energisch von seinem Bett aus. Was bildete sie sich eigentlich ein! Jetzt sollte er sogar noch mithelfen das Haus in eine Todesfalle zu verwandeln! “Aber dir hat doch das Schmücken immer so viel Spaß gemacht!”, ermutigte Elena ihn weiter, “Freust du dich nicht auf Weihnachten?”. Er konnte es nicht fassen. “Nein ich hasse Weihnachten!”, brüllte er, “Wie soll ich mich freuen, wenn euer scheiß Baum mich komplett aufschlitzt, wenn ich daran vorbeigehe!” Sein Herz klopfte wie wild und er war kurz davor aufzustehen, die Tür aufzureißen und ihr eine reinzuhauen. “Na gut du musst auch nicht.”, sagte sie mit ruhiger Stimme und er hörte wie sie die Treppe herunterging. Das mit dem Aufschlitzen interessierte sie wohl nicht. Das war typisch, um ihn sorgte sich niemand. Immer musste er alleine auf sich schauen. Wütend switchte er immer schneller durch die TikTok-Videos, doch sogar die konnten ihn nicht mehr aufmuntern.
Er musste plötzlich an zu Hause denken. Dieses Jahr am 24. Dezember würde er nicht zu seiner Mama fahren. Andere haben das entschieden. Er wurde dabei nicht gefragt. Die Leute vom Jugendamt waren das, hat man ihm gesagt, und es wäre besser so. Zu oft hat er sich schon darüber aufgeregt. Es war sehr schwer für ihn sich einzugestehen, dass er zum Teil auch froh darüber war, über Weihnachten nicht zu Hause zu sein. Dort gab es immer nur Streit zwischen ihm und seiner Mama und auch seinen Brüdern. Das erschöpfte ihn. Vor allem, weil er Recht hatte mit dem was er sagte! Doch niemand glaubte ihm. Gregor bemerkte kaum, dass ihm Tränen über die Wangen kullerten. Erst als sie ihm auf den Pullover tropften fielen sie ihm auf. Diesmal wehrte er sich nicht dagegen sondern schluchzte erst und vergrub dann sein Gesicht im Kissen und heulte drauf los. Es war ihm egal und es fühlte sich sehr befreiend an. Nach einer Weile hörte er Schritte in seinem Zimmer und schon faselte Elenas Stimme irgendetwas. Sofort packte ihn der Zorn, wenn auch nicht so intensiv wie zuvor. “Was bildet sie sich ein...”, begann es wieder in seinem Kopf, doch er führte den Gedanken nicht zu Ende. Er war einfach zu müde dafür. Sie stellte etwas auf seinen Nachttisch und es kroch der Geruch von heißer Schokolade in seine Nase. Da konnte er nicht widerstehen. Er setzte sich auf, nahm die heiße Tasse und trank einen Schluck. Der schmeckte gut, viel Kakao und sehr süß, so mochte er ihn am liebsten aber das würde er nicht zugeben. Aus dem Kakao-Trinker-Alter war er schließlich raus. Er schaute nach links und da saß Elena geduldig an seinem Bett. Naja sie konnte ja doch ganz freundlich sein. Vielleicht würde Weihnachten in der Wohngruppe doch nicht so schlimm werden in diesem Jahr.
 



 
Oben Unten